Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen K 33/2002
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K 33/02

Urteil vom 2. Dezember 2003
IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Ferrari und nebenamtlicher Richter
Maeschi; Gerichtsschreiber Attinger

Helsana Versicherungen AG, Schadenrecht, Birmensdorferstrasse 94, 8003
Zürich, Beschwerdeführerin,

gegen

F.________, 1938, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Advokat Dr. Lienhard
Meyer, Elisabethenstrasse 2, 4010 Basel

Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft, Liestal

(Entscheid vom 12. November 2001)

Sachverhalt:

A.
Die 1938 geborene F.________ erkrankte 1968 an Multipler Sklerose und ist
seit Jahren auf Hauspflegeleistungen der lokalen Spitex-Organisation
angewiesen. Die Helsana Versicherungen AG (nachfolgend Helsana), welche die
entsprechenden Kosten bis anhin in vollem Umfange vergütet hatte, kündigte
mit Schreiben vom 7. März 2000 erstmals eine Leistungskürzung auf Fr. 50.--
im Tag an, d.h. auf die bei Aufenthalt in einem Pflegeheim zu erbringenden
Leistungen. Mit Verfügung vom 25. Juli 2000 teilte die Helsana der
Versicherten mit, dass sie ab 1. Mai 2000 an die Spitex-Pflege aus der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung nur mehr maximal die im Rahmen der
höchsten Pflegebedürftigkeitsstufe in einem Pflegeheim im Kanton
Basel-Landschaft anfallenden Kosten ("zur Zeit" täglich Fr. 50.--) vergüte.
Mit Einspracheentscheid vom 5. März 2001 hielt sie an dieser Verfügung fest.

B.
Das Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft (heute: Kantonsgericht
Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht) hiess die dagegen
erhobene Beschwerde, soweit es darauf eintrat, gut und verpflichtete die
Helsana, die ärztlich angeordnete Spitex-Pflege ab 1. Mai 2000 weiterhin
vollumfänglich abzugelten.

C.
Die Helsana führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung
des vorinstanzlichen Entscheids.

Während F.________ auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst,
verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Nach Art. 24 KVG übernimmt die obligatorische Krankenpflegeversicherung
die Kosten für die Leistungen gemäss den Art. 25-31 nach Massgabe der in den
Art. 32-34 KVG festgelegten Voraussetzungen. Die Leistungen umfassen u.a.
Untersuchungen, Behandlungen und Pflegemassnahmen, die ambulant, bei
Hausbesuchen, stationär, teilstationär oder in einem Pflegeheim durch
Personen durchgeführt werden, die auf Anordnung oder im Auftrag eines Arztes
oder einer Ärztin Leistungen erbringen (Art. 25 Abs. 2 lit. a Ziff. 3 KVG).
Der Leistungsbereich wird in Art. 7 KLV näher umschrieben.

1.2 Bei Aufenthalt in einem Pflegeheim (Art. 39 Abs. 3 KVG) vergütet der
Versicherer gemäss Art. 50 KVG die gleichen Leistungen wie bei ambulanter
Krankenpflege und bei Krankenpflege zu Hause; er kann mit dem Pflegeheim
pauschale Vergütungen vereinbaren. Für Spitex-Leistungen konnten die
Tarifverträge nach Art. 9 Abs. 3 KLV in der bis Ende 1997 gültig gewesenen
Fassung vorsehen, dass ein bestimmter Zeitbedarf pro Tag oder Woche in der
Regel nicht überschritten werden darf (Zeitbudget). In RKUV 1999 Nr. KV 64 S.
67 Erw. 2a hat das Eidgenössische Versicherungsgericht festgestellt, dass
sich diese Bestimmung im Rahmen der dem Departement des Innern auf Grund von
Art. 33 Abs. 2 und 5 KVG subdelegierten Regelungskompetenz hält und nicht
gegen Bundesrecht verstösst.

Die seit 1. Januar 1998 in Kraft stehende Fassung von Art. 9 Abs. 3 KLV (AS
1997 2039) erwähnt keine zeitliche Einschränkung mehr; die Tarife werden nach
Art und Schwierigkeit der notwendigen Leistungen abgestuft. Auf den gleichen
Zeitpunkt wurde mit Art. 8a KLV eine Bestimmung über das Kontroll- und
Schlichtungsverfahren bei Krankenpflege zu Hause in die KLV eingefügt. Nach
Abs. 3 dieser Norm dient das Verfahren der Überprüfung der Bedarfsabklärung
sowie der Kontrolle von Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit der
Leistungen. Die ärztlichen Aufträge oder Anordnungen sind zu überprüfen, wenn
voraussichtlich mehr als 60 Stunden pro Quartal benötigt werden; bei
voraussichtlich weniger als 60 Stunden pro Quartal sind systematische
Stichproben vorzunehmen. Das nach alt Art. 9 Abs. 3 KLV massgebende
Zeitbudget wurde damit durch eine blosse Kontrollvorschrift ersetzt.
Unverändert ist geblieben, dass über eine bestimmte Grenze hinaus (früher je
nach Tarifvertrag, neu 60 Stunden) Leistungen nur erbracht werden nach einer
vorgängigen Prüfung der Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit der Massnahme
(BGE 126 V 336 f. Erw. 1a und b).

1.3 Nach der in BGE 126 V 334 ff. ausführlich dargelegten Rechtsprechung
bedeutet die Anwendbarkeit des im gesamten Leistungsrecht der sozialen
Krankenversicherung geltenden Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit der
Behandlung nicht, dass die Krankenversicherer befugt sind, die Vergütung der
Spitex-Dienste stets auf jene Leistungen zu beschränken, die sie bei
Aufenthalt in einem Pflegeheim zu gewähren hätten. Die Beurteilung der
Wirtschaftlichkeit darf nicht anhand einer strikten Gegenüberstellung der dem
Krankenversicherer entstehenden Kosten eines Spitex-Einsatzes einerseits und
eines Pflegeheimaufenthalts anderseits erfolgen. Wenn aber - bei gleicher
Zweckmässigkeit der Massnahmen - zwischen den Kosten eines Spitex-Einsatzes
und denjenigen des Aufenthalts in einem Pflegeheim ein grobes Missverhältnis
besteht, kann der Spitex-Einsatz auch unter Berücksichtigung der berechtigten
Interessen der versicherten Person nicht mehr als wirtschaftlich angesehen
werden. Dies hat auch dann zu gelten, wenn der Spitex-Einsatz im konkreten
Fall als zweckmässiger und wirksamer zu betrachten ist als ein an sich
ebenfalls zweckmässiger und wirksamer Heimaufenthalt. Bei dem im Rahmen der
Wirtschaftlichkeitsprüfung vorzunehmenden Kostenvergleich ist zu
berücksichtigen, dass die Spitex-Kosten nicht mit den Gesamtkosten eines
Pflegeheimaufenthalts zu vergleichen sind, sondern mit den Kosten, welche der
Krankenversicherer effektiv zu übernehmen verpflichtet ist (BGE 126 V 338 ff.
Erw. 2a, b und c mit zahlreichen Hinweisen).

2.
Streitig und zu prüfen ist die Verpflichtung der Helsana zur weiteren vollen
Kostenvergütung der nach ärztlicher Anordnung erfolgten Spitex-Pflege über
den 30. April 2000 hinaus.

2.1 Die Frage nach der Zweckmässigkeit und Wirksamkeit der Massnahme
beurteilt sich primär nach medizinischen Gesichtspunkten; persönliche,
familiäre und soziale Umstände sind jedoch mit zu berücksichtigen (RKUV 2001
Nr. KV 144 S. 26 Erw. 3b). Die Versicherte leidet an Multipler Sklerose und
ist seit Jahren auf Pflege und Betreuung angewiesen. Nach den Angaben des
behandelnden Arztes Dr. med. S.________, Spezialist für Innere Medizin, kann
die erforderliche Pflege sowohl ambulant als auch stationär durchgeführt
werden (ein Pflegeheimaufenthalt ist insbesondere deshalb nicht erforderlich,
weil die Versicherte nachts keiner Betreuung oder Überwachung bedarf). Aus
medizinischer Sicht wird eine Spitex-Pflege als günstiger erachtet, weil die
Beschwerdegegnerin an leichten manisch-depressiven Verstimmungen leidet und
es zu psychischen Reaktionen und sogar zu einer lebensbedrohlichen
Verschlechterung des Gesundheitszustandes kommen könnte, wenn sie in ein
Pflegeheim übertreten müsste. Des Weitern wird darauf hingewiesen, dass die
Versicherte geistig rege ist, am Wohnort soziale Kontakte pflegt und sich mit
dem Elektrofahrstuhl auch ausser Haus selbstständig fortbewegen kann. Auf
Grund dieser ärztlichen Feststellungen, von welchen abzugehen kein Anlass
besteht, kann weder der Auffassung der Beschwerde führenden Helsana gefolgt
werden, wonach eine Heimpflege als wirksamer und zweckmässiger zu betrachten
ist, noch der Meinung der Beschwerdegegnerin, wonach eine Heimpflege als
unwirksam und unzweckmässig zu gelten hat. Vielmehr ist der Vorinstanz darin
beizupflichten, dass die Spitex-Pflege als (leicht) wirksamer und
zweckmässiger zu qualifizieren ist als eine Heimpflege.

2.2 Mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird beantragt, es sei für Fälle
gleicher Wirksamkeit und Zweckmässigkeit der Massnahmen eine
Wirtschaftlichkeitsgrenze in dem Sinne festzusetzen, dass die Pflegeheimtaxen
zur Anwendung zu bringen seien, wenn die Kosten für die Krankenpflege zu
Hause gemäss Kassentarif um 50 % oder den Faktor 1,5 höher lägen als die
kassenpflichtigen Pflegeheimtaxen (vgl. auch Eugster, Das
Wirtschaftlichkeitsgebot nach Art. 56 Abs. 1 KVG, in: Schaffhauser/Kieser
[Hrsg.], Wirtschaftlichkeitskontrolle in der Krankenversicherung, St. Gallen
2001, S. 58). Im Urteil S. vom 25. Mai 2001, K 161/00, ist das Eidgenössische
Versicherungsgericht dem Antrag des dortigen Krankenversicherers nicht
gefolgt, wonach generell bei einer Kostendifferenz von mindestens 20 % ein
grobes Missverhältnis zwischen Spitex- und Heimpflege anzunehmen sei. Ob eine
derartige Grenze allenfalls bei Mehrkosten von mindestens 50 % zu ziehen ist,
kann im vorliegenden Fall offen bleiben. Eine generelle
Wirtschaftlichkeitsgrenze fällt von vornherein nur in Betracht, wenn
Spitex-Pflege und Heimpflege gleichwertig sind. Ist die Spitex-Pflege, wie
hier, als wirksamer und zweckmässiger zu qualifizieren, lässt sich eine
solche Grenze nicht aufstellen, und es ist im Einzelfall nach Massgabe der
gesamten Umstände und unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung zu
prüfen, ob die Massnahme noch als wirtschaftlich gelten kann. Aus der
Rechtsprechung ergibt sich hiezu Folgendes:
RKUV 1999 Nr. KV 64 S. 64: Chorea Huntington-Krankheit; verheiratet, hohe
Pflegebedürftigkeit und zeitweise ständige Überwachungsbedürftigkeit;
Gleichwertigkeit von Spitex- und Heimpflege; Anspruch verneint bei fünfmal
höheren Kosten.

BGE 126 V 334: Myatonia congenita mit Tetraparese; teilerwerbstätige
Versicherte; Heimpflege nicht oder jedenfalls weniger wirksam und zweckmässig
(bzw. Spitex erheblich wirksamer und zweckmässiger); Anspruch bejaht bei
3,5-mal höheren Kosten (Grenzfall).

RKUV 2001 Nr. KV 142 S. 15: schwere Poliomyelitis; verheiratet, sozial und
politisch aktiv; Heimpflege nicht oder jedenfalls weniger wirksam und
zweckmässig (bzw. Spitex erheblich wirksamer und zweckmässiger); Anspruch
bejaht bei rund doppelt so hohen Kosten.
RKUV 2001 Nr. KV 143 S. 19: schwere zerebrale Parese; stark eingeschränkte
Kommunikationsfähigkeit; Spitex- und Heimpflege gleichwertig; Anspruch
verneint bei drei- bis viermal höheren Kosten.

RKUV 2001 Nr. KV 144 S. 23: Tetraplegie; Teilnahme am gesellschaftlichen und
sozialen Leben, in Ausbildung; Heimpflege nicht oder jedenfalls weniger
wirksam und zweckmässig (bzw. Spitex erheblich wirksamer und zweckmässiger);
Anspruch bejaht bei viermal höheren Kosten (unter Berücksichtigung dessen,
dass der Versicherte wegen Abhängigkeit von einem Respirator kaum zum
allgemeinen Tarif in ein Heim aufgenommen würde).

RKUV 2001 Nr. KV 162 S. 179: rechtsseitiges Hemisyndrom; verheiratet;
Heimpflege leicht weniger wirksam und zweckmässig als Spitex-Pflege; Anspruch
auf diese bejaht bei 1,9-mal höheren Kosten.

RKUV 2001 Nr. KV 169 S. 261: Alzheimer-Krankheit, praktisch blind;
verheiratet; Heim- und Spitex-Pflege gleichwertig; Anspruch auf Letztere
bejaht bei Mehrkosten von 48 %.

Urteil S. vom 25. Mai 2001, K 161/00: Multiple Sklerose; lebt selbstständig
in eigenem Haus; Spitex mindestens gleichwertig; Anspruch bejaht bei
Mehrkosten von 35% bzw. 37%.
Im vorliegenden Fall ist die Spitex-Pflege nach dem Gesagten als wirksamer
und zweckmässiger (wenn auch nicht als erheblich wirksamer und zweckmässiger)
zu qualifizieren als eine Heimpflege. Besondere persönliche Umstände
(Familie, Erwerbstätigkeit, gesellschaftliche und soziale Aktivitäten),
welche bei der Beurteilung der Wirtschaftlichkeit mit zu berücksichtigen
wären, sind nicht ausgewiesen. Immerhin gelingt es der schwer behinderten
Beschwerdegegnerin dank des Spitex-Einsatzes, noch teilweise ein
selbstbestimmtes Leben zu führen, was nicht nur für die Lebensqualität,
sondern nach ärztlicher Auffassung auch für den Gesundheitszustand von
wesentlicher Bedeutung ist. Bei einem Pflegeheimaufenthalt hätte die Helsana
unbestrittenermassen monatliche Leistungen von Fr. 1'500.-- (30 x Fr. 50.--)
zu erbringen. Demgegenüber belaufen sich die Kosten der Spitex-Pflege auf
monatlich rund Fr. 4'300.--, was einem Faktor von 2,87 entspricht. Nicht
gefolgt werden kann der Versicherten, soweit sie geltend macht, die
Spitex-Kosten seien nur 2,76 mal höher als die Pflegeheimkosten, welche der
Krankenversicherer zu bezahlen hätte. Auf Grund der Bedarfsabklärung und
ärztlichen Anordnung vom 4./10. Januar 2000 wurden im ersten Quartal 2000
Leistungen gemäss Art. 7 KLV im Betrag von Fr. 12'854.-- in Rechnung
gestellt, was einen Durchschnitt von Fr. 4'284.65 im Monat und im Vergleich
zu den genannten monatlichen Pflegeheimleistungen von Fr. 1'500.-- rund
2,86-mal höhere Kosten ergibt. Wird auch das letzte Quartal 1999 oder das
zweite Quartal 2000 in die Berechnung einbezogen, ergeben sich sogar leicht
höhere Kosten. Dennoch besteht in Würdigung der gesamten Umstände kein
Anlass, von der vorinstanzlichen Feststellung abzugehen, wonach die Kosten
der Spitex-Leistungen nicht in einem groben Missverhältnis zu den Kosten
stehen, welche die Beschwerdeführerin im Falle eines Heimaufenthaltes der
Versicherten zu übernehmen hätte. Wie - unter teilweise allerdings andern
Verhältnissen - im BGE 126 V 334 handelt es sich jedoch um einen Grenzfall.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Helsana Versicherungen AG hat der Beschwerdegegnerin für das Verfahren
vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr.
2'000.-- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft,
Abteilung Sozialversicherungsrecht, und dem Bundesamt für Sozialversicherung
zugestellt.

Luzern, 2. Dezember 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: