Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen K 25/2002
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K 25/02

Urteil vom 23. September 2002

I. Kammer

Präsident Schön, Bundesrichter Borella, Meyer, Ferrari und Ursprung;
Gerichtsschreiber Lanz

Helsana Versicherungen AG, Birmensdorferstrasse 94, 8003 Zürich,
Beschwerdeführerin,

gegen

S.________, 1934, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. iur.
Dieter Daubitz, Mühlenplatz 11, 6000 Luzern 5

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 31. Januar 2002)

Sachverhalt:

A.
S. ________ leidet seit Jahren an einer koronaren Dreigefässerkrankung und an
einer Angina pectoris, Status nach sechsfacher Revaskularisation im Jahr
1992. Er benötigt medikamentöse Therapie, und es sind Laboruntersuchungen
erforderlich. Für den Zeitraum vom 16. August 1994 bis 18. August 1997
vergütete ihm die Helsana Versicherungen AG (nachfolgend: Helsana) aus der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung insgesamt Fr. 49'665.40 für die von
seiner Ehefrau, Frau Dr. med. R.________, Spezialärztin FMH für Kinder- und
Jugendmedizin, verordneten Medikamente und durchgeführten Laboranalysen.

Wegen Zweifeln an der Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit der Medikation
und Analysen ersuchte der Vertrauensarzt der Helsana am 11. Dezember 1997
Frau Dr. med. R.________ um Stellungnahme. Auf Wunsch ihres Ehemannes wurde
die Anfrage an den Hausarzt Dr. med. T.________, Spezialarzt FMH für
Kardiologie, gerichtet, welcher sich mit Schreiben vom 9. Mai 1998 dazu
äusserte. Mit Verfügung vom 14. Juli 1998 verpflichtete die Helsana
S.________ zur Rückerstattung von bereits geleisteten Vergütungen in Höhe von
Fr. 39'295.-. Sodann verneinte sie einen Leistungsanspruch in Bezug auf zwei
weitere, noch nicht vergütete Rechnungen im Betrag von Fr. 5'736.20 und Fr.
3'357.85 (Behandlungszeitraum 19. August bis 17. November 1997 und 18.
November 1997 bis 16. Februar 1998). S.________ liess hiegegen Einsprache
erheben, welche die Helsana nach seiner Weigerung, sich einer persönlichen
Begutachtung zu unterziehen, ohne weitere Abklärungsmassnahmen mit Entscheid
vom 28. Februar 2001 abwies.

B.
Die von S.________ dagegen erhobene Beschwerde hiess das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 31. Januar
2002 in dem Sinne gut, dass es den Einspracheentscheid aufhob und die Sache
in Bezug auf die beiden Rechnungen über Fr. 5'736.20 und Fr. 3'357.85
(Behandlungszeitraum 19. August 1997 bis 16. Februar 1998) an die Helsana
zurückwies, damit diese nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen neu
über ihre Leistungspflicht entscheide.

C.
Die Helsana führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, es
sei der kantonale Entscheid aufzuheben.

S. ________ lässt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragen.
Das Bundesamt für Sozialversicherung hat keine Vernehmlassung eingereicht.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Frage der richtigen Behandlung der Eintretensvoraussetzungen durch das
kantonale Gericht prüft das Eidgenössische Versicherungsgericht praxisgemäss
von Amtes wegen. Hat die Vorinstanz das Fehlen einer Eintretensvoraussetzung
übersehen und ist sie deshalb zu Unrecht auf eine Beschwerde oder Klage
eingetreten, hebt das Eidgenössische Versicherungsgericht den Entscheid auf
Verwaltungsgerichtsbeschwerde hin von Amtes wegen auf (BGE 127 V 81 Erw. 2,
125 V 347 Erw. 1a, 123 V 283 Erw. 1 je mit Hinweisen).

2.
2.1 Nach Art. 25 KVG übernimmt die obligatorische Krankenversicherung die
Kosten für die Leistungen, die der Diagnose oder Behandlung einer Krankheit
und ihrer Folgen dienen (Abs. 1). Darunter fallen u.a. die ärztlich
verordneten Analysen und Arzneimittel (Abs. 2 lit. b). Die Leistungen müssen
laut Art. 32 Abs. 1 Satz 1 KVG wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein.

2.2
2.2.1Gemäss Art. 56 KVG muss sich der Leistungserbringer in seinen Leistungen
auf das Mass beschränken, das im Interesse des Versicherten liegt und für den
Behandlungszweck erforderlich ist (Abs. 1). Für Leistungen, die über dieses
Mass hinausgehen, kann die Vergütung verweigert werden. Eine nach diesem
Gesetz dem Leistungserbringer zu Unrecht bezahlte Vergütung kann
zurückverlangt werden (Abs. 2 Ingress). Rückforderungsberechtigt ist im
System des Tiers garant (Art. 42 Abs. 1) die versicherte Person oder nach
Art. 89 Abs. 3 der Versicherer (lit. a) und im System des Tiers payant der
Versicherer (lit. b). Nach Wortlaut und Gesetzessystematik richtet sich somit
die Rückerstattungspflicht wegen unwirtschaftlicher Behandlung gegen den
Leistungserbringer.

2.2.2 Diese Ordnung wird durch den im Bereich des KVG sinngemäss anwendbaren
Art. 47 AHVG ergänzt (BGE 126 V 23 Erw. 4a mit Hinweisen; RKUV 2001 Nr. KV
158 S. 161 Erw. 6a). Demnach haben krankenversicherte Personen zu Unrecht
bezogene Leistungen (Vergütungen) unter den in dieser Bestimmung genannten
und von der Rechtsprechung ergänzten (vgl. nachstehend Erw. 5.1 und 5.2)
Voraussetzungen zurückzuerstatten. Die Rückerstattungspflicht besteht
unabhängig davon, ob die Leistungserbringer nach dem System des Tiers garant
oder des Tiers payant entschädigt werden (RKUV 2001 Nr. KV 158 S. 161 Erw.
6a). Es muss in der Tat möglich sein, dass der Versicherer gegen die
versicherte Person vorgeht, wenn diese im System des Tiers garant den
Vergütungsanspruch geltend macht und befriedigt wird, ohne die vom Arzt
erbrachte Leistung zu bezahlen (vgl. BGE 127 V 283 Erw. 4 mit Hinweis zur
strafrechtlichen Seite). In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass es im
Rahmen von Art. 47 AHVG auf den Rechtsgrund für den unrechtmässigen
Leistungsbezug nicht ankommt (Urteil L. vom 26. September 2000 [I 397/99]
Erw. 1 mit Hinweisen). Auch eine unwirtschaftliche Behandlung nach Art. 56
Abs. 2 KVG kann somit Rechtsgrund bilden, um bereits erfolgte Zahlungen von
der versicherten Person zurückzufordern. Daran ändert nichts, dass der
Versicherer gegenüber dem Leistungserbringer einen eigenen
Rückerstattungsanspruch hat, dies unabhängig von der Person des Schuldners
der Vergütung der Leistung (vgl. BGE 127 V 283 f. Erw. 4).

2.3 Im Lichte des Vorstehenden hat das kantonale Versicherungsgericht somit
zu Recht die auch im letztinstanzlichen Verfahren bestrittene
Passivlegitimation des Versicherten bejaht.

3.
Aus der Bejahung der Passivlegitimation, d.h. der Zulässigkeit, zu Unrecht
erbrachte (gesetzlich nicht geschuldete) Vergütungen von der versicherten
Person zurückzufordern, ergibt sich nach dem Rechtspflegesystem des KVG
zwingend auch die Zuständigkeit der Vorinstanz als kantonales
Versicherungsgericht nach Art. 86 KVG für die Beurteilung des
Rückforderungsstreites zwischen Krankenversicherer und Versichertem. Dass
hiebei die Wirtschaftlichkeit der Behandlung in Frage steht, begründet
entgegen dem Beschwerdegegner nicht notwendigerweise die Sachzuständigkeit
des Schiedsgerichts nach Art. 89 KVG. Entscheidend für die Abgrenzung der
Zuständigkeiten zwischen kantonalem Versicherungsgericht einerseits und
Schiedsgericht anderseits ist auch unter der Herrschaft des neuen
Krankenversicherungsrechts, welche Parteien einander in Wirklichkeit im
Streit gegenüberstehen (vg. RKUV 1991 Nr. K 874 S. 237 Erw. 2b sowie Eugster,
Krankenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht
[SBVR]/Soziale Sicherheit, Rz 415; ferner BGE 124 V 129 Erw. 2 e contrario).
Nichts anderes lässt sich aus Art. 89 Abs. 3 KVG ableiten. Nach dieser
Bestimmung ist das Schiedsgericht auch dann zuständig, wenn die versicherte
Person die Vergütung schuldet, in welchem Fall der Versicherer sie auf eigene
Kosten vertritt. Die Zuständigkeit des Schiedsgerichts bestimmt sich auch
hier danach, welche Parteien einander gegenüberstehen, und das sind - anders
als im vorliegenden Fall - nach dem klaren Wortlaut des Art. 89 Abs. 1 KVG
Versicherer und Leistungserbringer. Art. 89 Abs. 3 KVG sieht nur, aber
immerhin vor, dass die Zuständigkeit des Schiedsgerichts unabhängig davon
besteht, ob Schuldner der Vergütung die versicherte Person (Tiers garant)
oder der Krankenversicherer (Tiers payant) ist.

4.
In Bezug auf die materiell streitige Rückforderung sowie die verweigerten
Vergütungen von insgesamt Fr. 9'094.05 für den Behandlungszeitraum vom 19.
August 1997 bis 16. Februar 1998 ist unbestritten, dass die im Recht
liegenden Akten nicht die zuverlässige Beurteilung der von der
Beschwerdeführerin in Bezug auf einen grossen Teil der verordneten
Medikamente und durchgeführten Laboruntersuchungen verneinten Zweckmässigkeit
und Wirtschaftlichkeit erlauben. In diesem Zusammenhang steht weiter fest,
dass die Krankenkasse vom Beschwerdegegner verlangt hatte, sich einer
persönlichen Begutachtung zu unterziehen, was dieser im Wesentlichen mit der
Begründung verweigerte, ein Aktengutachten genüge. Ob die Beschwerdeführerin
in Anbetracht dieser Sachlage berechtigt war, auf weitere
Abklärungsmassnahmen zu verzichten und aufgrund der Akten - zu Ungunsten des
Versicherten - zu entscheiden, hat die Vorinstanz mit einlässlicher
Begründung, auf welche verwiesen wird, verneint. Namentlich können von der
Erstellung eines Aktengutachtens weitere verwendbare Erkenntnisse erwartet
werden, welche eine zuverlässige Beurteilung der Zweckmässigkeit und
Wirtschaftlichkeit der Behandlung ermöglichen. Was hiegegen in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorgebracht wird, gibt zu keiner anderen
Beurteilung Anlass. Dem in diesem Verfahren eingereichten Schreiben des Dr.
med. U.________ vom 4. Mai 1998 ist keine entscheidende Bedeutung
beizumessen. Die Beschwerdeführerin stuft offensichtlich auch selber die
Aussagekraft des sehr knapp gehaltenen Berichts als gering ein, nimmt sie
doch darauf weder in der Verfügung vom 14. Juli 1998 und im
Einspracheentscheid vom 28. Februar 2001 noch in der vorinstanzlichen
Vernehmlassung Bezug.

5.
Der kantonale Rückweisungsentscheid betrifft lediglich die noch nicht
vergüteten Kosten für den Behandlungszeitraum vom 19. August 1997 bis 16.
Februar 1998. Bezüglich der Rückerstattung bereits erbrachter Leistungen hat
die Vorinstanz den Einspracheentscheid vom 28. Februar 2001 aufgehoben.

5.1 Zu Unrecht bezogene Leistungen sind nach dem hier sinngemäss anwendbaren
Art. 47 Abs. 1 AHVG nur unter den Voraussetzungen der Wiedererwägung oder der
prozessualen Revision der hier formlos zugesprochenen Vergütungen
zurückzuerstatten (BGE 126 V 23 Erw. 4b mit Hinweis; RKUV 2001 Nr. KV 158 S.
161 f. Erw. 6b mit Hinweisen). Ob in Bezug auf die für den
Behandlungszeitraum vom 16. August 1994 bis 18. August 1997 bezahlten
Vergütungen einer der beiden Rückkommenstitel gegeben ist, hat das kantonale
Gericht nicht geprüft. Vielmehr begründet es das Nichtbestehen einer
Rückerstattungspflicht mit dem Vertrauensschutz.

5.2
5.2.1Im angefochtenen Entscheid werden die Kriterien, welche für die
erfolgreiche Anrufung des Grundsatzes von Treu und Glauben bei unrichtigen
behördlichen Auskünften oder Anordnungen kumulativ erfüllt sein müssen,
zutreffend dargelegt. Richtig ist auch die Feststellung der Vorinstanz, dass
die anstandslose Ausrichtung von Leistungen über einen längeren Zeitraum eine
Vertrauensgrundlage schafft, an welche die Behörde im Rückforderungsstreit
allenfalls gebunden ist (vgl. auch RKUV 1999 Nr. KV 97 S. 526 Erw. 5b mit
Hinweisen). Darauf wird verwiesen.

5.2.2 Das kantonale Gericht legt mit überzeugender Begründung dar, dass
vorliegend der Vertrauensschutz zum Tragen kommt. Dabei misst es zu Recht dem
Umstand entscheidende Bedeutung bei, dass die Beschwerdeführerin über einen
Zeitraum von drei Jahren vorbehaltlos alle ihr eingereichten Rechnungen für
Medikamente und Laboruntersuchungen vergütet hatte. Dass die Vorinstanz die
Frage offen gelassen hat, ob Frau Dr. med. R.________ als behandelnde Aerztin
eine allfällige Unrichtigkeit der Leistungserbringung hätte erkennen können
und müssen, ist nicht zu beanstanden. Selbst wenn dies - nach entsprechenden
Abklärungen - zu bejahen wäre, rechtfertigte es sich nicht, dem Versicherten
deswegen den Vertrauensschutz zu verwehren, zumal die Krankenkasse den
Rückforderungsanspruch auch gegenüber der Leistungserbringerin geltend machen
könnte (vgl. Erw. 2.2.2 in fine; BGE 127 V 285 f. Erw. 5c). Das in diesem
Verfahren eingereichte Schreiben von Frau Dr. med. R.________ vom 3. Januar
1989, in welchem sie zu Handen des damaligen Vertrauensarztes der
Beschwerdeführerin zu den von ihr verordneten Medikamenten und durchgeführten
Analysen bei ihrem Ehemann Stellung genommen hatte, ist daher ohne Bedeutung.

5.3 Nach dem Gesagten ist der angefochtene Entscheid auch in Bezug auf die
von der Vorinstanz verneinte Rückerstattungspflicht für den
Behandlungszeitraum vom 16. August 1994 bis 18. August 1997 rechtens.

6.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin dem
Beschwerdegegner eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 159 Abs. 2 in
Verbindung mit Art. 135 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Beschwerdeführerin hat dem Beschwerdegegner für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2'500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, dem Bundesamt für Sozialversicherung und Frau Dr. med. R.________
zugestellt.

Luzern, 23. September 2002
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der I. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: