Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen K 143/2002
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K 143/02

Urteil vom 11. November 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiberin Kopp Käch

H.________, 1984, Beschwerdeführer, vertreten durch seine Mutter C.________,

gegen

EGK-Gesundheitskasse, Brislachstrasse 2, 4242 Laufen, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 14. November 2002)

Sachverhalt:

A.
Der 1984 geborene H.________ ist bei der EGK-Gesundheitskasse (nachfolgend
EGK) krankenversichert. Er liess am 12. November 2001 seine vier
Weisheitszähne durch Dr. med. Dr. med. dent. S.________ im Spital X.________
ambulant entfernen. Für den Eingriff reichte H.________ der Krankenkasse zwei
Rechnungen im Umfang von insgesamt Fr. 2750.50 ein. Mit Schreiben vom 29.
Januar 2002 teilte die EGK Dr. med. Dr. med. dent. S.________ mit, nach
Rücksprache mit ihrem Vertrauenszahnarzt erteile sie eine Kostengutsprache
für die Behandlung der Weisheitszähne 38 und 48, nicht aber für diejenige der
Weisheitszähne 18 und 28. Mit Verfügung vom 11. März 2002 hielt die
Krankenkasse daran fest, dass bezüglich der Behandlung der Zähne 18 und 28
keine Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung bestehe.
Ihren Standpunkt bestätigte sie im Einspracheentscheid vom 21. Mai 2002.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
mit Entscheid vom 14. November 2002 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt H.________ durch seine Mutter
beantragen, auch die Kosten für die Behandlung der oberen Weisheitszähne 18
und 28 seien durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung
zurückzuerstatten. Zur Begründung verweist er auf die Angaben des
behandelnden Arztes Dr. med. Dr. med. dent. S.________.

Die EGK schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherung, Abteilung Krankenversicherung (seit 1.
Januar 2004 im Bundesamt für Gesundheit) verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Krankenversicherungsbereich geändert
worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze
massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden
Tatbestandes Geltung haben (BGE 129 V 4 Erw. 1.2), und weil ferner das
Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf
den bis zum Zeitpunkt des Erlasses des streitigen Einspracheentscheids (hier:
21. Mai 2002) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b),
sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden
Bestimmungen anwendbar.

2.
Das kantonale Gericht hat die massgebenden gesetzlichen Bestimmungen über den
Anspruch auf Leistungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung für
zahnärztliche Behandlungen (Art. 31 Abs. 1 KVG, Art. 33 Abs. 2 und 5 KVG in
Verbindung mit Art. 33 lit. d KVV sowie Art. 17-19 KLV), namentlich für
solche, die durch eine schwere, nicht vermeidbare Erkrankung des Kausystems
in Form verlagerter Zähne mit Krankheitswert (Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG in
Verbindung mit Art. 17 lit. a Ziff. 2 KLV) bedingt sind, zutreffend
dargelegt. Darauf kann verwiesen werden. Richtig sind auch die Ausführungen
zur Rechtsprechung über das Erfordernis eines qualifizierten Krankheitswertes
in Art. 17 KLV (noch nicht in der Amtlichen Sammlung veröffentlichtes Urteil
A. vom 19. August 2004, K 86/02; BGE 127 V 334 Erw. 5b).

3.
3.1 Hinsichtlich der Übernahme der Kosten für zahnärztliche Behandlungen
unterscheidet Art. 17 lit. a Ziff. 2 KLV nicht zwischen der Behandlung von
Weisheitszähnen und von anderen Zähnen. Die Behandlungskosten sind von der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu übernehmen, wenn die Zähne
verlagert sind und das Leiden Krankheitswert erreicht, wobei als Beispiele
für einen solchen Krankheitswert in Klammern der Abszess und die Zyste
genannt werden.

Die Leistungspflicht für die Behandlung von verlagerten Weisheitszähnen ist
demzufolge bei Vorliegen des erforderlichen qualifizierten Krankheitswertes
gleich zu beurteilen wie diejenige für die Behandlung anderer verlagerter
Zähne. Dieser qualifizierte Krankheitswert beinhaltet im Wesentlichen zwei
Elemente, nämlich einerseits die Pathologie mit einer Gefährdung des Lebens
oder einer Beeinträchtigung der Gesundheit und andererseits die notwendigen
Massnahmen, um die Gefährdung oder Beeinträchtigung zu beseitigen oder
zumindest zu verringern (noch nicht in der Amtlichen Sammlung
veröffentlichtes Urteil A. vom 19. August 2004, K 86/02). So haben auch die
Experten den qualifizierten Krankheitswert verneint, wenn ein pathologisches
Geschehen mit einfachen Massnahmen behoben werden kann.

3.2 Im oben zitierten Urteil A. vom 19. August 2004, K 86/02, hat das
Eidgenössische Versicherungsgericht dargelegt, dass verlagerte Weisheitszähne
gemäss Ansicht der beigezogenen Experten gegenüber andern verlagerten oder
überzähligen Zähnen insofern eine besondere Stellung einnehmen, als sie von
ihrer topografischen Lage her besonders häufig Lage-Anomalien zeigen.
Entwicklungsgeschichtlich hat dazu beigetragen, dass der Kiefer des Menschen
kleiner, die Zähne grösser geworden sind, sodass der Platz auf dem
Kieferknochen für die Zähne, namentlich für die hintersten, nicht mehr
ausreicht. Neben der Abweichung von der Lage ist oft eine solche von der
Achse festzustellen, wodurch Nachbarstrukturen geschädigt werden können. Aus
diesen Gründen geben die Weisheitszähne häufig Anlass zu entzündlichen
Komplikationen und Zystenbildungen, die wegen ihrer Lage schwerwiegende
Folgen haben können wie einen Durchbruch von Abszessen in anatomischen Logen
von vitaler Bedeutung oder eine Spontanfraktur des Unterkiefers infolge
Schwächung durch grosse Zysten (BGE 127 V 335 Erw. 6b und 397 Erw. 3c/cc).

3.3 Bei der Behandlung verlagerter Weisheitszähne ist zudem die Besonderheit
zu berücksichtigen, dass diese entfernt werden, ohne dass an ihrer Stelle ein
Ersatz (z.B. Implantat) als tunlich erscheint, während andere verlagerte
Zähne nicht ersatzlos entfernt werden können, sondern durch zahnärztliche
Massnahmen zu erhalten sind oder an ihrer Stelle eine Ersatzlösung zu suchen
ist, um die Kaufunktion aufrecht zu erhalten.

3.4 Aufgrund der geschilderten Unterschiede kann demzufolge, wie das
Eidgenössische Versicherungsgericht im zitierten Urteil A. vom 19. August
2004, K 86/02, dargelegt hat, bei verlagerten Weisheitszähnen und anderen
verlagerten Zähnen bei identischer Pathologie der qualifizierte
Krankheitswert im oben umschriebenen Sinn nicht gleich beurteilt werden. Um
an die Übernahme der Kosten für die Behandlung verlagerter Weisheitszähne
nicht geringere Anforderungen an die Schwere des Leidens zu stellen als für
die Behandlung anderer verlagerter Zähne, kann bei Weisheitszähnen nicht jede
Pathologie genügen, die bei andern verlagerten Zähnen die Übernahme
rechtfertigt. Eine Pathologie wie beispielsweise eine Zyste oder ein Abszess,
sofern ohne grossen Aufwand behandelbar, macht die Entfernung eines
Weisheitszahnes nicht zur Behandlung einer schweren Erkrankung des Kausystems
im Sinne von Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG in Verbindung mit Art. 17 KLV. Anders
ist es zu halten, wenn entweder die Entfernung des verlagerten
Weisheitszahnes wegen besonderer Verhältnisse oder die Behandlung der
Pathologie schwierig und aufwändig ist (vgl. BGE 127 V 328; RKUV 2002 Nr. KV
202 S. 91, K 12/01).

3.5 Die versicherte Person und der sie behandelnde Arzt haben dem
Krankenversicherer alle medizinischen Grundlagen dafür zu liefern, dass er
die Voraussetzungen für die Leistungspflicht prüfen kann (ZBJV 138/2002 S.
422). Werden gleichzeitig mehrere Weisheitszähne entfernt, ist der Nachweis
für jeden Weisheitszahn zu erbringen.

4.
Streitig und zu prüfen ist vorliegend - wie bereits im kantonalen Verfahren -
lediglich die Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung
bezüglich der Behandlungskosten der oberen Weisheitszähne 18 und 28.

Was zunächst die Frage der Verlagerung der beiden oberen Weisheitszähne
anbelangt, gehen die Meinungen des behandelnden Arztes Dr. med. Dr. med.
dent. S.________ und des Vertrauenszahnarztes Dr. med. dent. B.________
auseinander, indem der erstere eine Verlagerung bejaht und behauptet, ein
Durchbruch der Zähne könne wegen des abgeschlossenen Wurzelwachstums nicht
mehr erfolgen, während der letztere eine Verlagerung verneint und die
Wahrscheinlichkeit des spontanen Durchbruchs bejaht. Die Frage der
Verlagerung der beiden oberen Weisheitszähne 18 und 28 kann indessen offen
bleiben, weil die Pathologie einerseits und die notwendigen Massnahmen zu
deren Beseitigung oder Verringerung andrerseits für das Vorliegen des
erforderlichen qualifizierten Krankheitswertes nicht ausreichen. Hinsichtlich
der Pathologie diagnostizierte Dr. med. Dr. med. dent. S.________
rezidivierende pericoronale Infekte, Parodontaltaschen mit Verbindung zur
Mundhöhle, follikuläre Zysten, eine Denudierung von Zahnhals und Wurzeln der
angrenzenden Zähne sowie eine drohende Verschiebung der angrenzenden Zähne
mit Engstandbildung in der Oberkieferfront. Demgegenüber hält der
Vertrauenszahnarzt der EGK fest, die Osteolyse sei im Rahmen des Durchbruchs
normal und zur Schaffung des Durchbruchswegs durch den Knochen notwendig;
dies habe nichts mit einer follikulären Zyste zu tun. Auch die
Parodontaltasche sowie die Denudierung des angrenzenden Zahnes seien normale
vorübergehende Begleiterscheinungen. Den behaupteten drohenden Engstand
schliesslich bezeichnet Dr. med. dent. B.________ als wissenschaftlich
umstritten. Eine solche Gefährdung wäre nach Auffassung des Gerichts neben
der Pathologie allenfalls dann zu gewichten, wenn bereits orthodontische
Massnahmen zur geordneten Gebissentwicklung eingeleitet worden wären und der
Erfolg der Massnahme durch die Weisheitszähne in Frage gestellt würde. Solche
Massnahmen sind vorliegend nicht ausgewiesen. Selbst wenn die vom
behandelnden Arzt geltend gemachte Pathologie vorhanden war, konnte sie durch
die Entfernung der Weisheitszähne behoben werden, ohne dass ein Ersatz der
entfernten Zähne oder andere aufwändige Massnahmen notwendig geworden wären.
Auch fehlen jegliche Anhaltspunkte für irgendwelche Schwierigkeiten oder
besondere Komplikationen, sodass in Anbetracht der Rechtsprechung der
erforderliche qualifizierte Krankheitswert nicht gegeben ist. Damit kann die
Frage, ob für die Behandlung die Dienste eines Spitals, gar unter Beizug
eines Assistenten, in Anspruch genommen werden mussten, offen bleiben.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit
(BAG) zugestellt.

Luzern, 11. November 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: