Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 97/2002
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H 97/02

Urteil vom 24. Dezember 2002
III. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Meyer und Lustenberger; Gerichtsschreiber
Hadorn

Ausgleichskasse des Kantons Solothurn, Allmendweg 6, 4528 Zuchwil,
Beschwerdeführerin,

gegen

1. P.________,
2. M.________, Beschwerdegegner, beide vertreten durch Fürsprecher Dr.
Hermann Roland Etter, Aarehuus, Gerberngasse 4, 4500 Solothurn,

Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn

(Entscheid vom 27. Februar 2002)

Sachverhalt:
Mit Verfügungen vom 14. September 2001 verpflichtete die Ausgleichskasse des
Kantons Solothurn P.________ und M.________, Sekretär und
Verwaltungsratsmitglied mit Einzelunterschrift bei der Firma X.________
Immobilien- und Verwaltungs-AG, in solidarischer Haftbarkeit mit T.________
und F.________ für nicht entrichtete bundesrechtliche
Sozialversicherungsbeiträge zuzüglich Verzugszinsen und Mahngebühren Fr.
27'427.60 Schadenersatz zu leisten.
Nach Einspruch von P.________ und M.________ klagte die Kasse gegen beide auf
Bezahlung des erwähnten Betrages. Mit Entscheid vom 27. Februar 2002 hiess
das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn die Klage im Umfang vom Fr.
12'872.90 gut.
Die Ausgleichskasse führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, die
Eheleute seien zur Zahlung von Fr. 27'427.60 zu verpflichten. Eventuell sei
die Sache zur masslichen Festsetzung des geschuldeten Schadenersatzes an das
kantonale Gericht zurückzuweisen.

P. ________ und M.________ lassen auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen, während das Bundesamt für
Sozialversicherung (BSV) sowie die als Mitinteressierte beigeladenen
T.________ und F.________ auf eine Vernehmlassung verzichten.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Da es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um die Bewilligung oder
Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht
Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b
sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

2.
Das kantonale Versicherungsgericht hat unter Hinweis auf Gesetz (Art. 52
AHVG) und Rechtsprechung (vgl. statt vieler BGE 123 V 15 Erw. 5b) die
Voraussetzungen richtig dargelegt, unter welchen Organe juristischer Personen
den der Ausgleichskasse wegen Verletzung der Vorschriften über die
Beitragsabrechnung und -zahlung (Art. 14 Abs. 1 AHVG; Art. 34 ff. AHVV)
qualifiziert schuldhaft verursachten Schaden zu ersetzen haben. Darauf wird
verwiesen. Zu ergänzen ist, dass Beiträge, die auf erfolgte Mahnung hin nicht
bezahlt werden, nach Art. 15 Abs. 1 AHVG ohne Verzug auf dem Wege der
Betreibung einzuziehen sind, soweit sie nicht mit fälligen Renten verrechnet
werden können.

3.
3.1 Die Vorinstanz bejahte die grundsätzliche Haftbarkeit der Beschwerdegegner
und damit deren Schadenersatzpflicht. Diese liegt, nachdem einzig die
Ausgleichskasse Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhob, entgegen den Vorbringen
in der Vernehmlassung, nicht im Streit und kann nicht Gegenstand der
gerichtlichen Prüfung bilden (BGE 119 V 392 Erw. 2b). In masslicher Hinsicht
liess die Vorinstanz nur eine Teilforderung von Fr. 12'872.90 zu, und zwar
mit der Begründung, in diesem Umfang sei der Ausfall an Hand des definitiven
Verlustscheins im Sinne von Art. 115 Abs. 1 SchKG vom 15. Oktober 2000
ausgewiesen. Für den Rest der eingeklagten Forderung sei hingegen kein
Verlustschein vorhanden. Zudem sei die Firma X.________ Immobilien- und
Verwaltungs-AG bislang nicht in Konkurs gefallen. Daher könne der nicht von
einem Verlustschein erfasste Teil der Forderung nicht klageweise geltend
gemacht werden.

3.2 Dem widerspricht die Ausgleichskasse mit der Begründung, es hätte keinen
Sinn gemacht, auch die Restforderung vor dem Einklagen zunächst in Betreibung
zu setzen. Nachdem für den ersten Teil der Ausstände ein Verlustschein
resultiert habe, laut welchem keinerlei Vermögen greifbar gewesen sei, hätten
weitere Betreibungshandlungen offensichtlich nichts gebracht. Gestützt auf
die einschlägigen Verwaltungsweisungen habe daher sogleich der gesamte
Schaden eingeklagt werden dürfen.

3.3 Nach der Rechtsprechung (BGE 113 V 256 f. Erw. 3c mit Hinweisen) können
Organe juristischer Personen schadenersatzrechtlich belangt werden, ohne dass
vorher notwendigerweise der Konkurs über die entsprechende Arbeitgeberfirma
eröffnet worden sein muss. Der Eintritt des Schadens gilt dann als erfolgt,
wenn die ausstehenden Beiträge aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen
nicht mehr erhoben werden können. Dies ist z.B. der Fall nach Ausstellung
eines definitiven Pfändungsverlustscheins (BGE 113 V 257 f. Erw. 3c mit
Hinweisen). Hingegen verpflichtet die Ausstellung eines bloss provisorischen
Pfändungsverlustscheins die Ausgleichskasse in der Regel, das
Verwertungsbegehren zu stellen und dessen Ergebnis abzuwarten (ZAK 1988 S.
300 Erw. 3c). Ausnahmen sind vorbehalten für Fälle, in denen nach den
Umständen vom Verwertungsverfahren offensichtlich keine weitere Befriedigung
erwartet werden kann (ZAK 1988 S. 300 Erw. 3c in fine mit Hinweis).

3.4 Das Bundesamt für Sozialversicherung hat in der Wegleitung über den Bezug
der Beiträge (WBB) Verwaltungsweisungen zu dieser Problematik erlassen.
Derartige Weisungen sind für das Sozialversicherungsgericht nicht
verbindlich. Es soll sie bei seiner Entscheidung mit berücksichtigen, sofern
sie eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der
anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen. Es weicht anderseits insoweit
von Weisungen ab, als sie mit den anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen nicht
vereinbar sind (BGE 127 V 61 Erw. 3a, 126 V 68 Erw. 4b, 427 Erw. 5a, 125 V
379 Erw. 1c, je mit Hinweisen).

3.5 Gemäss Rz 6001 WBB sind Beiträge abzuschreiben, wenn gegen die
Beitragspflichtigen eine Betreibung erfolglos oder aussichtslos ist und die
geschuldeten Beiträge nicht mit Forderungen der Beitragspflichtigen
verrechnet werden können. Beitragspflichtige gelten nach Rz 6002 der selben
Wegleitung als erfolglos betrieben, wenn ein Pfändungs- oder
Konkursverlustschein gegen sie ausgestellt wurde. Als offensichtlich
aussichtslos ist eine Betreibung zu betrachten, wenn die Beitragsschuldner
notorisch zahlungsunfähig sind und das Betreibungsverfahren daher aller
Wahrscheinlichkeit nach zur Ausstellung eines Verlustscheins führen würde (Rz
6003 WBB). Ein Indiz dafür bildet namentlich die Tatsache, dass in den
letzten zwei Jahren gegen die Beitragsschuldenden Verlustscheine ausgestellt
worden sind (Rz 6004 WBB). Indessen sollen die Ausgleichskassen nicht auf das
Ausstellen von Verlustscheinen allein abstellen, sondern im einzelnen Fall
prüfen, ob nicht Umstände zur Annahme berechtigen, eine Betreibung werde
Erfolg zeitigen (Rz 6005 WBB).

3.6 Als die Ausgleichskasse ihre erste Teilforderung in Betreibung setzte,
resultierte aus dem Pfändungsvollzug vom 15. September 2000 ein definitiver
Verlustschein, da kein pfändbares Vermögen festgestellt und keine zukünftigen
Löhne gepfändet werden konnten. Indessen hatte der Beschwerdegegner bereits
im Einspruchverfahren geltend gemacht, die Firma X.________ Immobilien- und
Verwaltungs-AG verfüge sehr wohl noch über Vermögenswerte. Als Beweismittel
reichte er zwei Inserate in der Zeitung Y.________ vom 15. September 2000
ein, worin mehrere von der erwähnten Firma verwaltete Wohnungen zur
Vermietung ausgeschrieben wurden. Zudem wies er gestützt auf einen
entsprechenden Auszug des zuständigen Strassenverkehrsamtes darauf hin, dass
im Kanton Solothurn zwei auf den Namen der AG zugelassene, teure Automobile
im Verkehr ständen. Die Vorinstanz äusserte sich nicht zu diesen Unterlagen,
erwog lediglich, dass die genannte Firma, soweit ersichtlich, noch nicht in
Konkurs gefallen sei.

3.7 Dass bislang kein Konkurs eröffnet worden ist, stellt nach der
Rechtsprechung (Erw. 3.3 hievor) keinen ausreichenden Grund dar, die
Restforderung der Ausgleichskasse als nicht einklagbar zu betrachten.
Indessen bestehen nach dem Gesagten Anhaltspunkte dafür, dass eine weitere
Betreibung nicht von vornherein aussichtslos gewesen wäre. Die
Immobilienfirma scheint noch Geschäftsaktivitäten ausgeübt zu haben. Es
könnte somit trotz der vorgängigen Ausstellung eines Verlustscheines wieder
pfändbares Vermögen vorhanden sein. Sollte es überdies zutreffen, dass die
beiden vom Beschwerdegegner genannten Autos zur Luxusklasse gehören, liesse
sich im Falle deren Veräusserung möglicherweise ein verwertbarer Erlös
erzielen. In Würdigung aller Gesichtspunkte des Falles erscheint es nicht als
bundesrechtswidrig, den zweiten Teil der Schadenersatzforderung nicht direkt
zur Klage zuzulassen. Insofern bietet Rz 6005 WBB, wonach nicht einzig auf
das Vorliegen eines Verlustscheins abzustellen ist, Handhabe für eine
sachgerechte Lösung des vorliegenden Falles. Der kantonale Entscheid vermag
somit im Ergebnis Stand zu halten.

4.
Da es nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen
geht, ist das Verfahren kostenpflichtig (Art. 134 OG e contrario). Die
unterliegende Ausgleichskasse hat die Gerichtskosten zu tragen (Art. 156 Abs.
1 OG) und den Beschwerdegegnern eine Parteientschädigung auszurichten (Art.
159 Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von total Fr. 1300.- werden der Beschwerdeführerin
auferlegt und mit dem geleisteten Kostenvorschuss verrechnet.

3.
Die Ausgleichskasse des Kantons Solothurn hat den Beschwerdegegnern für das
Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine
Parteientschädigung von Fr. 1000.- (inkl. MWSt) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, T.________, F.________, der Firma X.________
Immobilien- und Verwaltungs-AG, dem Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 24. Dezember 2002
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer:    Der Gerichtsschreiber: