Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 63/2002
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H 63/02

Urteil vom 19. Februar 2004

I. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Meyer,
Lustenberger und Kernen; Gerichtsschreiber Attinger

Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

A.________, S.________ und T.________, Beschwerdegegner, alle vertreten durch
ihre Mutter C.________, und diese vertreten durch Advokat Christian Hoenen,
Bäumleingasse 18, 4051 Basel,

Kantonale Rekurskommission für die Ausgleichskassen und die IV-Stellen, Basel

(Entscheid vom 6. Dezember 2001)

Sachverhalt:

A.
Am 28. Januar 2001 verstarb der 1958 geborene K.________. Mit Verfügung vom
19. März 2001 sprach die Ausgleichskasse Basel-Stadt seinen Kindern
A.________ (geb. 1987), S.________ (geb. 1990) und T.________ (geb. 1994) ab
1. Februar 2001 je eine ordentliche Waisenrente der AHV im Betrag von Fr.
594.-- pro Monat zu. Diesen Hinterlassenenrenten liegt die Vollrentenskala 44
sowie ein massgebendes durchschnittliches Jahrenseinkommen des verstorbenen
Vaters von Fr. 33'372.-- zu Grunde. Erziehungsgutschriften wurden nicht
angerechnet, weil K.________ mit der Mutter seiner Kinder, C.________, nicht
verheiratet war und die elterliche Sorge nur ihr zustand.

B.
Die Kantonale Rekurskommission für die Ausgleichskassen und die IV-Stellen,
Basel (heute: Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt) hiess die hiegegen
erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 6. Dezember 2001 gut und wies die Sache
zur Neuberechnung der Waisenrenten unter Mitberücksichtigung halber
Erziehungsgutschriften an die Ausgleichskasse zurück.

C.
Das Bundesamt für Sozialversicherung führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit
dem Antrag auf Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids.

C. ________ lässt für ihre Kinder Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
beantragen, während die Ausgleichskasse auf deren Gutheissung schliesst.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Streitig und zu prüfen ist, ob bei der Berechnung der den Beschwerdegegnern
zustehenden Waisenrenten Erziehungsgutschriften zu Gunsten ihres verstorbenen
Vaters (Art. 33 Abs. 1 AHVG) mit zu berücksichtigen sind. Dabei ist unter
sämtlichen Verfahrensbeteiligten unbestritten, dass die unverheirateten
Eltern "zusammen in der gleichen Liegenschaft lebten" und von der Geburt der
ersten Tochter an bis zum Tode des Vaters die gesamte Kinderbetreuungs- und
-erziehungsarbeit untereinander hälftig aufteilten (S. 3 der vorinstanzlichen
Beschwerde). Der Verstorbene konnte deshalb in seinem Beruf als
selbstständiger Anwalt stets nur ein Teilpensum verrichten.

2.
2.1 Nach Art. 29quater AHVG wird die Rente nach Massgabe des
durchschnittlichen Jahreseinkommens berechnet, welches sich aus dem
Erwerbseinkommen, den Erziehungs- und den Betreuungsgutschriften
zusammensetzt. Gemäss Art. 29sexies Abs. 1 AHVG (in der hier anwendbaren, ab
1. Januar 2000 geltenden Fassung) wird Versicherten für diejenigen Jahre eine
Erziehungsgutschrift angerechnet, in welchen ihnen die elterliche Sorge (bis
Ende 1999: "elterliche Gewalt") für eines oder mehrere Kinder zusteht, die
das 16. Altersjahr noch nicht erreicht haben. Dabei werden Eltern, die
gemeinsam Inhaber der elterlichen Sorge sind, jedoch nicht zwei Gutschriften
kumulativ gewährt. Der Bundesrat regelt die Einzelheiten, insbesondere die
Anrechnung der Erziehungsgutschrift, wenn (a) Eltern Kinder unter ihrer Obhut
haben, ohne dass ihnen die elterliche Sorge zusteht, (b) lediglich ein
Elternteil in der schweizerischen Alters- und Hinterlassenenversicherung
versichert ist, (c) die Voraussetzungen für die Anrechnung einer
Erziehungsgutschrift nicht während des ganzen Kalenderjahres erfüllt werden
und (d) geschiedenen oder unverheirateten Eltern gemeinsam die elterliche
Sorge zusteht.

Die am 1. Januar 2000 in Kraft getretene Revision des Schweizerischen
Zivilgesetzbuches vom 26. Juni 1998 brachte im Rahmen von Scheidungs- und
Kindesrecht als grosse Neuerung die Möglichkeit der gemeinsamen elterlichen
Sorge für geschiedene oder unverheiratete Eltern (Art. 133 Abs. 3 und Art.
298a Abs. 1 ZGB). Nach früherem Recht konnten unverheiratete oder geschiedene
Eltern die elterliche Gewalt nie gemeinsam ausüben (BGE 114 II 415; 117 II
523). Aber auch nach neuem Recht gilt der Grundsatz, dass bei unverheirateten
Eltern das Sorgerecht der Mutter zusteht, und zwar von Gesetzes wegen von der
Geburt an (Art. 298 Abs. 1 ZGB; Tuor/Schnyder/Schmid/Rumo-Jungo, Das
Schweizerische Zivilgesetzbuch, 12. Aufl., Zürich 2002, S. 430). Die
gemeinsame elterliche Sorge setzt gemäss Art. 298a Abs. 1 ZGB die
entsprechende Übertragung durch die Vormundschaftsbehörde bei Erfüllung
besonderer Erfordernisse voraus (genehmigungsfähige Vereinbarung der
unverheirateten Eltern über ihre Anteile an der Betreuung des Kindes und die
Verteilung der Unterhaltskosten, gemeinsamer Antrag der Eltern, Vereinbarkeit
der Lösung mit dem Kindeswohl).

2.2 Das AHV-Gesetz macht den Anspruch auf Anrechnung von
Erziehungsgutschriften grundsätzlich davon abhängig, dass der versicherten
Person für eines oder mehrere Kinder die elterliche Sorge zustand. Dieser
Begriff ist im Sinne der Art. 296 ff. ZGB zu verstehen. Eine Ausnahme von der
Voraussetzung der elterlichen Sorge sieht Art. 29sexies Abs. 1 AHVG lediglich
insofern vor, als der Bundesrat Vorschriften über die Anrechnung von
Erziehungsgutschriften u.a. für den Fall erlassen kann, dass Eltern Kinder
unter ihrer Obhut haben, ohne dass ihnen die elterliche Sorge zusteht (lit. a
der letztgenannten Gesetzesvorschrift). Die vom Bundesrat gestützt hierauf
erlassene Bestimmung von Art. 52e AHVV beschränkt sich darauf, einen Anspruch
auf Anrechnung von Erziehungsgutschriften auch für Jahre vorzusehen, in denen
die Eltern Kinder unter ihrer Obhut hatten, ohne dass ihnen die elterliche
Sorge zustand. Mit dieser Verordnungsbestimmung soll nicht etwa Versicherten
ein Anspruch auf Erziehungsgutschrift eingeräumt werden, denen von Gesetzes
wegen keine elterliche Sorge zusteht. Geregelt werden damit vielmehr die
Fälle, in denen den leiblichen Eltern oder Adoptiveltern die elterliche Sorge
entzogen wurde, die Kinder jedoch einem Elternteil zur Pflege und Erziehung
überlassen werden (Art. 311 ff. ZGB; vgl. hiezu BGE 112 II 21 Erw. 5; zum
Ganzen: BGE 126 V 2 Erw. 2, 431 f. Erw. 2a und 2b in fine, 125 V 246 Erw.
2a).

3.
3.1 Mit Blick auf diese grundlegende Abgrenzungs- und Scharnierfunktion,
welche nicht nur der Verordnungs- (AHI 1996 S. 35), sondern bereits der
Gesetzgeber (Amtl. Bull. 1993 N 255 f., 1994 S 550 und 597 sowie N 1355 f.)
der elterlichen Gewalt im Rahmen von Art. 29sexies Abs. 1 AHVG beigemessen
hat, verneinte das Eidgenössische Versicherungsgericht einen (eigenen)
Anspruch auf die Anrechnung von Erziehungsgutschriften bei Stief- und
Pflegekindverhältnissen (BGE 126 V 432 Erw. 2b, 125 V 245), weil Stief- und
Pflegeeltern keine elterliche Gewalt (heute: elterliche Sorge) zukommt (Art.
299 und 300 Abs. 1 ZGB). Dagegen wurde in BGE 126 V 1 der Anspruch auf
Erziehungsgutschriften im Falle einer Vormundin bejaht, welche einen
unmündigen Neffen in persönlicher Obhut hatte. Als ausschlaggebend hiefür
erachtete das Gericht, dass der Vormund bei Unmündigkeit des Bevormundeten
zwar nicht über die elterliche Gewalt verfügt, ihm nach Art. 405 Abs. 2 ZGB
unter Vorbehalt der Mitwirkung der vormundschaftlichen Behörden aber
grundsätzlich die gleichen Rechte zustehen wie den Eltern und er über
Befugnisse verfügt, welche der elterlichen Gewalt nahe kommen (BGE 126 V 3
Erw. 4a). Diese in Anwendung von Art. 29sexies Abs. 1 AHVG in seiner bis Ende
1999 geltenden Fassung ergangene Rechtsprechung beansprucht ohne weiteres
auch Gültigkeit für Fälle, welche nach der geänderten Gesetzesbestimmung zu
beurteilen sind. Denn die mit Wirkung ab 1. Januar 2000 vorgenommenen
Änderungen von Art. 29sexies Abs. 1 AHVG beschränken sich zum einen auf die
Ersetzung des bisherigen Ausdrucks "elterliche Gewalt" durch "elterliche
Sorge" und zum andern auf den Umstand, dass nach der bereits dargelegten
(Erw. 2.1 hievor), ebenfalls auf den 1. Januar 2000 in Kraft gesetzten
Revision des Scheidungs- und Kindsrechts nunmehr auch für geschiedene oder
unverheiratete Eltern die Möglichkeit der gemeinsam ausgeübten elterlichen
Sorge besteht.

3.2 Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat denn auch mit Urteil G. vom
24. Oktober 2003 (H 234/03: Erw. 3.2), in welchem bereits die neue Fassung
von Art. 29sexies Abs. 1 AHVG zur Anwendung gelangte, einen Anspruch des
unverheirateten, mit seinem Sohn und dessen Mutter im gemeinsamen Haushalt
lebenden Vaters auf die Anrechnung von Gutschriften für Erziehungszeiten vor
dem 1. Januar 2000 verneint, weil in einem solchen Fall die elterliche Gewalt
von Gesetzes wegen der Mutter zustand und das schweizerische Recht eine
gemeinsame Ausübung damals noch nicht zuliess (vgl. Erw. 2.1 hievor). Es
besteht kein Anlass, von dieser Rechtsprechung abzuweichen. Entgegen der
Auffassung von Rekurskommission und Beschwerdegegnern genügt die Tatsache,
dass Letztere praktisch auch unter der väterlichen Obhut aufwuchsen und die
Mutter als Inhaberin des elterlichen Sorgerechts dieses faktisch mit dem
Vater ihrer Kinder gemeinsam ausübte, nicht für den Anspruch auf
Erziehungsgutschriften, weil die dargelegte gesetzliche Konzeption in diesem
Bereich auf das formelle zivilrechtliche Erfordernis der elterlichen Sorge
abstellt (vgl. auch Urteil Y.Z. vom 17. Januar 2001, H 346/00). Nichts
anderes kann sich mit Bezug auf die hier ebenfalls zu beantwortende
Rechtsfrage nach der Anrechnung von Erziehungsgutschriften für
Versicherungszeiten nach Inkrafttreten des revidierten Kindsrechts, d.h. ab
1. Januar 2000 ergeben: Eine entsprechende Gutschrift setzt voraus, dass die
Vormundschaftsbehörde dem unverheirateten Vater (und der Mutter seiner
Kinder) die gemeinsame elterliche Sorge nach Art. 298a Abs. 1 ZGB tatsächlich
übertragen hat. Eine solche vormundschaftsbehördliche Übertragung des
Sorgerechts hat im vorliegenden Fall nicht stattgefunden. Den in diesem
Zusammenhang angestellten Rechtsgleichheitsüberlegungen der Beschwerdegegner
kann nicht gefolgt werden. Gerade weil die Revision des Zivilgesetzbuchs
nicht nur geschiedenen, sondern auch unverheirateten Eltern die Möglichkeit
der gemeinsamen elterlichen Sorge einräumt, kann von einer Besserstellung der
geschiedenen gegenüber den unverheirateten Vätern nicht die Rede sein.
Nach dem Gesagten hat die Ausgleichskasse bei der Berechnung der Waisenrenten
zu Recht keine Erziehungsgutschriften berücksichtigt.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid der
Kantonalen Rekurskommission für die Ausgleichskassen und die IV-Stellen,
Basel, vom 6. Dezember 2001 aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt
und der Ausgleichskasse Basel-Stadt zugestellt.

Luzern, 19. Februar 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der I. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: