Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 58/2002
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H 58/02

Urteil vom 15. Januar 2003
III. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Lustenberger und Kernen; Gerichtsschreiber
Hadorn

Ausgleichskasse Promea, Ifangstrasse 8, 8952 Schlieren, Beschwerdeführerin,

gegen

1. F.________,

2. U.________,
Beschwerdegegner,
beide vertreten durch Rechtsanwalt Daniel Casarramona, Zelglistrasse 15, 5001
Aarau

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 18. Dezember 2001)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügungen vom 10. und 11. November 1998 verpflichtete die
Ausgleichskasse Promea F.________ und U.________, Verwaltungsratspräsident
bzw. -mitglied der in Konkurs gefallenen Firma S.________ AG, in
solidarischer Haftbarkeit für nicht mehr erhältliche
Sozialversicherungsbeiträge zuzüglich Verzugszinsen und Mahngebühren Fr.
142'916.40 Schadenersatz zu leisten.

B.
Nach Einspruch beider Belangten klagte die Kasse gegen sie auf Bezahlung von
Fr. 108'125.85. Diese Forderung reduzierte die Kasse im Laufe des Prozesses
auf Fr. 96'225.15. Mit Entscheid vom 18. Dezember 2001 wies das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau die Klage ab.

C.
Die Ausgleichskasse Promea führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem
Antrag, der kantonale Entscheid sei aufzuheben, soweit er die
Schadenersatzforderung kraft Bundesrechts betreffe, und die Sache sei zur
Neubeurteilung an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückzuweisen.
F.________ und U.________ lassen auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen, während das Bundesamt für
Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Da es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um die Bewilligung oder
Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht
Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b
sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

2.
Das kantonale Versicherungsgericht hat unter Hinweis auf Gesetz (Art. 52
AHVG) und Rechtsprechung (vgl. statt vieler BGE 123 V 15 Erw. 5b) die
Voraussetzungen zutreffend dargelegt, unter welchen Organe juristischer
Personen den der Ausgleichskasse wegen Missachtung der Vorschriften über die
Beitragsabrechnung und -zahlung (Art. 14 Abs. 1 AHVG; Art. 34 ff. AHVV)
qualifiziert schuldhaft verursachten Schaden zu ersetzen haben. Darauf wird
verwiesen.

3.
3.1 Die Vorinstanz hat in für das Eidgenössische Versicherungsgericht
verbindlicher Weise (Erw. 1 hievor) festgestellt, dass die in Konkurs
gefallene Firma im Mai 1994 und am 1. August 1996 mittels Globalzession ihre
gesamten Forderungen an die Bank X.________ (im Folgenden: Bank) abgetreten
haben. Dabei war es den Beschwerdegegnern (ausser in limitiertem Rahmen)
untersagt, sich bei andern Banken Mittel zu beschaffen. Ferner hat die Bank
die Lohnforderungen der in der S.________ AG angestellten Arbeitnehmer für
die Monate April und Mai 1997 aufgekauft und sich verpflichtet, die darauf
entfallenden Sozialversicherungsbeiträge selber zu überweisen. Sodann umfasst
die Schadenersatzforderung ausschliesslich Beiträge, die nach Abschluss der
2. Globalzession fällig geworden sind.

3.2 Nach ständiger Rechtsprechung stellt die Globalzession für sich allein
keinen genügenden Entlastungsgrund dar. Weil die Organe auch bei einer
solchen Zession grundsätzlich verantwortlich bleiben, ist jeweils näher zu
prüfen, welche Schritte sie unternommen haben, um die ordnungsgemässe
Bezahlung der Sozialversicherungsbeiträge zu gewährleisten. Eine Entlastung
der verantwortlichen Organe fällt höchstens dann in Betracht, wenn sie
nachzuweisen vermögen, dass sie alles Mögliche und Zumutbare für die
Begleichung der Beiträge unternommen haben (zuletzt bestätigt in den Urteilen
K. vom 17. Mai 2002, H 11/02, und K. vom 2. Mai 2002, H 232/00).

3.3 Die Vorinstanz verneinte eine Haftung der Beschwerdegegner mit der
Begründung, dass sie Restrukturierungsmassnahmen ergriffen, unter
fachmännischer Beratung Partner für eine Kooperation oder einen Verkauf ihrer
Firma gesucht und sich mittels entsprechender Zahlungsaufträge an die Bank
dafür eingesetzt hätten, dass die Sozialversicherungsbeiträge bezahlt würden.
Im Frühling 1997 hätten sie einen Grossauftrag erhalten, weshalb realistische
Aussicht auf eine Begleichung der Beitragsschulden bestanden habe. Sodann
hätten sie erreicht, dass die Partnerfirma P.________ AG die Beiträge für
August und September 1997 entrichtet habe. Angesichts dieser zahlreichen
Bemühungen könne den Beschwerdegegnern kein grobfahrlässiges Verhalten im
Sinne von Art. 52 AHVG vorgeworfen werden
3.4 Hiegegen wendet die Beschwerdeführerin ein, die Vorinstanz habe den
Sachverhalt unvollständig festgestellt und unrichtig gewürdigt. So habe sie
nicht beachtet, dass die Beschwerdegegner der Ausgleichskasse im Wissen um
die Ausstände Sozialversicherungsbeiträge im Umfang von Fr. 33'708.- zu
Gunsten einer von ihnen beherrschten Nachfolgefirma überwiesen hätten. Dies
deute auf die Absicht hin, Vermögenssubstrat aus der Konkursmasse der
S.________ AG abzuziehen. Dass die Beschwerdegegner die Bank zur Zahlung der
ausstehenden Beiträge aufgefordert hätten, sei nur bei einem einzigen
Zahlungsauftrag belegt. Ansonsten seien sie, soweit ersichtlich, bei der Bank
nicht vorstellig geworden. Für eine Befreiung von der Haftung nach Art. 52
AHVG hätten sie mehr tun können und müssen. Dass die Zahlungen aus dem
Grossauftrag nicht eingetroffen seien, hätte die Beschwerdegegner zu
entsprechenden Interventionen veranlassen müssen. Stattdessen seien sie
passiv geblieben und hätten die Kasse mit dem Hinweis auf einen kurzfristigen
Engpass vertröstet. Überdies habe die Vorinstanz das genaue Ausmass des
Schadens nicht geprüft.

3.5 Aus den Akten ergibt sich, dass die Globalzession von 1996 in
Übereinstimmung mit der Vorinstanz als betriebswirtschaftlich notwendig und
sinnvoll betrachtet werden kann. Die A.________ Treuhand AG bestätigte denn
auch in einem Schreiben vom 21. August 1996, dass dank der mit der Zession
verbundenen Restrukturierung keine Gefahr einer Überschuldung mehr bestehe.
Das Schreiben der zur Partnersuche beigezogenen Y.________ vom 12. Januar
1997 lässt erkennen, dass noch Aussichten auf eine Rettung der Firma
bestanden hat. Der an einer Zusammenarbeit interessierte M.________ zeigte
sich in einem Schreiben vom 5. März 1997 trotz der schwierigen Situation in
der Branche von der Marktchance der von den Beschwerdegegnern vorgeschlagenen
Massnahmen überzeugt. Er verzichtete aus andern Motiven auf eine
Zusammenarbeit. Die Y.________ führte Verhandlungen mit der H.________ (Herrn
B.________). Dass es zu keiner Partnerschaft kam, lag in erheblichem Masse an
der Haltung der Bank, welche nicht bereit war, Herrn B.________s
Vorstellungen über ihre finanzielle Beteiligung genügend weit entgegen zu
kommen. Im Januar 1997 konnte die S.________ AG in Arbeitsgemeinschaft mit
der Firma P.________ AG einen Auftrag für die T.________ AG für Elektrizität
(T.________) entgegennehmen, der ihr Einnahmen in sechsstelliger Höhe
versprach. Angesichts dieser Umstände durften die Beschwerdegegner während
einiger Zeit mit guten Gründen damit rechnen, die ausstehenden Beiträge
begleichen zu können.

3.6 Im Weiteren haben sich die Beschwerdegegner trotz der Globalzession bei
der Bank weiter dafür eingesetzt, dass die Sozialversicherungsbeiträge
bezahlt werden. In einem Vergütungsauftrag vom 12. Februar 1997 forderten sie
diese auf, unter anderem vier Zahlungen zu Gunsten der Kasse vorzunehmen. Auf
einer Liste ausstehender Zahlungen von Ende April 1997 bezeichneten sie zwei
Überweisungen an die Kasse mittels gelber Leuchtmarkierungen als besonders
dringend. Sodann ist unbestritten, dass die Beiträge für August und September
1997 von der P.________ AG beglichen worden sind, was auch den
Beschwerdegegnern zu Gute zu halten ist. Gemäss den entsprechenden
Abmachungen war die Bank, welche die Lohnzahlungen für April und Mai 1997
übernommen hatte, selbst für die Ablieferung der darauf entfallenden
Sozialversicherungsleistungen zuständig. Das Schreiben an Herrn D.________,
Sachbearbeiter der Bank, vom 1. Juli 1997 lässt sodann erkennen, dass die
Beschwerdegegner auch bezüglich der Beiträge Kontakte zur Bank gepflegt
hatten.

3.7 Wohl hätten die Beschwerdegegner bei der Bank noch energischer
intervenieren können. Sie machen geltend, dies auf telefonischem Weg getan zu
haben, bleiben aber entsprechende Nachweise schuldig. Hätten die
Beschwerdegegner sich damit begnügt, einen oder zwei Zahlungsaufträge an die
Bank mit Leuchtmarkierungen als dringlich zu kennzeichnen, müssten sie sich
den Vorwurf der Grobfahrlässigkeit gefallen lassen. Indessen ist ihnen
zuzugestehen, dass sie daneben weitere Massnahmen vorgekehrt haben (Erw. 3e
hievor). Zudem bestehen Hinweise darauf, dass sie in ihren Bemühungen zum
Teil am Widerstand der Bank gescheitert sind. Wenn die Vorinstanz sie deshalb
vom Vorwurf der Grobfahrlässigkeit im Sinne von Art. 52 AHVG freigesprochen
hat, lässt sich ihr Entscheid gerade noch vertreten, ohne dass eine
Verletzung von Bundesrecht zu bejahen wäre.

3.8 Dieses Ergebnis steht in Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung. Das
Eidgenössische Versicherungsgericht hatte schon mehrmals
Schadenersatzforderungen bei Vorliegen einer Globalzession zu beurteilen
(erwähnte Urteile K. vom 2. und 17. Mai 2002; Urteile L. vom 5. April 2002, H
100/01, P. vom 24. September 2001, H 343/00, H. vom 19. Januar 2000, H
177/99). In diesen fünf Fällen fielen die belangten Organe jeweils durch eine
teilweise vollständige Passivität in ihren Bemühungen zur Begleichung der
Beitragsschulden auf. Solches lässt sich vorliegend angesichts der in den
Akten dokumentierten Anstrengungen von den Beschwerdegegnern nicht sagen.
Insofern unterscheidet sich dieser Fall von den fünf genannten.

3.9 Die Einwendungen der Beschwerde führenden Ausgleichskasse haben zwar
einiges für sich. Dass die Beschwerdegegner ihre Absicht, der Kasse ab
Februar 1997 monatliche Raten von Fr. 22'000.- zu überweisen, nicht zu
belegen vermochten, ist auch der Vorinstanz nicht entgangen. Indessen ist
dieser beizupflichten, dass der Grossauftrag mit der T.________ und die
daraus zu erwartenden Einnahmen anfänglich genügenden Grund zur Erwartung
boten, die Rückstände im erwähnten Umfang begleichen zu können. Wie es sich
mit der Zahlung von Fr. 33'708.- zu Gunsten der Nachfolgefirma verhält, ist
an Hand der Akten nicht erkennbar. Indessen datiert die entsprechende
Belastungsanzeige der Bank vom 23. April 1999, liegt somit lange nach der
Konkurseröffnung vom 1. November 1997. Daher vermag diese Überweisung nichts
daran zu ändern, dass den Beschwerdegegnern gerade noch zugestanden werden
kann, bis zum Konkurs das ihnen Mögliche und Zumutbare zur Begleichung der
Ausstände getan haben.

4.
Da es nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen
geht, ist das Verfahren kostenpflichtig (Art. 134 OG e contrario). Die
unterliegende Beschwerdeführerin hat die Gerichtskosten zu tragen (Art. 156
Abs. 1 OG) und den anwaltlich vertretenen Beschwerdegegnern eine
Parteientschädigung auszurichten (Art. 159 Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von total Fr. 5000.- werden der Beschwerdeführerin
auferlegt und mit dem geleisteten Kostenvorschuss verrechnet.

3.
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegnern für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 15. Januar 2003

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: