Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 3/2002
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 2002
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 2002


H 3/02 Vr

                        II. Kammer

Präsident Schön, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter
Ursprung; Gerichtsschreiber Grunder

                  Urteil vom 4. Juli 2002

                         in Sachen

G.________, Beschwerdeführer,

                           gegen

Ausgleichskasse des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13,
8501 Frauenfeld, Beschwerdegegnerin,

                            und

AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau, Weinfelden

     A.- Nachdem die Ausgleichskasse des Kantons Thurgau
die X.________ GmbH für ausstehende AHV/IV/EO/ALV-Beiträge
sowie Beiträge an die kantonale Familienausgleichskasse
(FAK) betrieben und das Fortsetzungsbegehren eingereicht
hatte, stellte das Betreibungsamt Frauenfeld am 25. Sep-
tember 2000 einen provisorischen Verlustschein aus. Mit
Verfügung vom 30. Mai 2001 verpflichtete die Ausgleichs-
kasse G.________, laut Handelsregister seit dem 23. Februar
1998 Gesellschafter und Geschäftsführer der X.________ GmbH
mit Kollektivunterschrift zu Zweien, für nicht mehr erhält-

liche Sozialversicherungsbeiträge (einschliesslich Ver-
waltungskosten und Mahngebühren), Schadenersatz in Höhe von
Fr. 4480.85 zu leisten.

     B.- Auf den dagegen erhobenen Einspruch reichte die
Ausgleichskasse gegen G.________ Klage auf Bezahlung der
Schadenersatzforderung ein. Mit Entscheid vom 30. November
2001 hiess die AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau
die Klage gut.

     C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt
G.________ die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids.
Gleichzeitig legt er mehrere neue Beweismittel auf.
     Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der Ver-
waltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialver-
sicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

     Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

     1.- a) Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann nur
so weit eingetreten werden, als Sozialversicherungsbeiträge
kraft Bundesrechts streitig sind. Im vorliegenden Verfahren
ist daher nicht zu prüfen, wie es sich bezüglich der Bei-
tragsschuld gegenüber der Ausgleichskasse für kantonale
Familienzulagen verhält (BGE 124 V 146 Erw. 1 mit Hinweis).

     b) Da es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um
die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistun-
gen handelt, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht
nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht
verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Miss-
brauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachver-
halt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter
Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt
worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und
b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

     c) Im Rahmen von Art. 105 Abs. 2 OG ist die Möglich-
keit, im Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungs-
gericht neue tatsächliche Behauptungen aufzustellen oder
neue Beweismittel geltend zu machen, weitgehend einge-
schränkt. Nach der Rechtsprechung sind nur jene neuen Be-
weismittel zulässig, welche die Vorinstanz von Amtes wegen
hätte erheben müssen und deren Nichterheben eine Verletzung
wesentlicher Verfahrensvorschriften darstellt (BGE 121 II
99 Erw. 1c, 120 V 485 Erw. 1b, je mit Hinweisen).

     2.- a) aa) Der Beschwerdeführer bringt vor, er und
sein Mitgesellschafter hätten namhafte Beträge in das
Unternehmen der GmbH gesteckt. Nachdem sie feststellten,
dass der Geschäftsführer seinen Pflichten nicht nachge-
kommen war und die investierten Mittel vertragswidrig für
andere Zwecke verwendet hatte, hätten sie beschlossen, das
Geschäft zu übernehmen, um den Schaden soweit möglich zu
begrenzen. Am 17. Februar 1998 seien die Stammeinlagen der
X.________ GmbH auf ihn und seinen Mitgesellschafter über-
tragen worden. Der Geschäftsführer, den sie sofort entlas-
sen hätten, habe auf jegliche arbeitsrechtliche Forderungen
verzichtet und sich verpflichtet, für den von ihm verur-
sachten Schaden künftig einzustehen. Trotz aller Anstren-
gungen und erneutem finanziellem Engagement sei das Unter-
nehmen nicht mehr zu retten gewesen. Ab dem 17. Februar
1998 seien keine Angestellten beschäftigt und keine Löhne
ausbezahlt worden.

     bb) Die Vorinstanz hat erwogen, aus den Akten der
Verwaltung gehe hervor, dass im Jahre 1998 eine Lohnsumme
von Fr. 10'000.- ausbezahlt worden sei. Es lasse sich zwar
nicht nachprüfen, zu welchem Zeitpunkt die Auszahlung er-
folgte, indessen hafte der Beschwerdeführer selbst dann für
den der Ausgleichskasse entstandenen Schaden, wenn dieser
Betrag vor der Übernahme der Gesellschaft ausgerichtet
worden sei, da er als verantwortliches Organ dafür hätte
sorgen müssen, dass die verfallenen Sozialversicherungs-

beiträge beglichen werden konnten bzw. durch Aktiven ge-
deckt blieben.

     b) Der Auffassung des kantonalen Gerichts kann nicht
gefolgt werden. Die Arbeitgeberhaftung nach Art. 52 AHVG
setzt voraus, dass zwischen der absichtlichen oder grob-
fahrlässigen Verletzung von Vorschriften und dem Eintritt
des Schadens ein adäquater Kausalzusammenhang besteht. Nach
der Rechtsprechung trifft das neu in den Verwaltungsrat
einer Aktiengesellschaft eintretende Mitglied keine Ersatz-
pflicht, wenn in diesem Zeitpunkt der Schaden zufolge Über-
schuldung des Unternehmens bereits entstanden ist (BGE 119
V 401 Erw. 4 mit Hinweisen). Diese Rechtsprechung hat auch
zu gelten, wenn in eine überschuldete Gesellschaft mit be-
schränkter Haftung neue Gesellschafter aufgenommen werden.

     3.- Es ist demnach zu prüfen, ob die X.________ GmbH
im Zeitpunkt, als der Beschwerdeführer Gesellschafter
wurde, überschuldet war und ob nach diesem Zeitpunkt weite-
re Lohnzahlungen erfolgten.

     a) Der Beschwerdeführer hatte innert der von der Vor-
instanz gesetzten Frist keine Klageantwortschrift einge-
reicht. Indessen wäre das kantonale Gericht gemäss Art. 85
Abs. 2 lit. c AHVG gehalten gewesen, von Amtes wegen die
für die Einwendungen des Beschwerdeführers, die er im Ein-
spruchsverfahren vorgebracht hatte, notwendigen Beweise zu
erheben oder ihm eine Nachfrist zur Einreichung derselben
anzusetzen. Nachdem sie dies unterlassen hat, verletzte sie
eine wesentliche Verfahrensvorschrift, weshalb die mit Ver-
waltungsgerichtsbeschwerde neu aufgelegten Beweismittel zu-
zulassen sind (siehe Erw. 1c).

     b) Aufgrund der Vorbringen des Beschwerdeführers und
der neu aufgelegten Beweismittel erscheint es als überwie-
gend wahrscheinlich, dass die X.________ GmbH zu Beginn des
Jahres 1998 überschuldet war. Die Gründer der Gesell-

schaft beabsichtigten, die zum Archipel Y.________ gehören-
de Insel Z.________ zu kaufen und sie mit einem Verwal-
tungsgebäude, einem Gasthof und Bungalows zu überbauen, die
sie weiterveräussern oder vermieten wollten. Der Beschwer-
deführer und sein Mitgesellschafter investierten als Inte-
ressenten im Jahre 1996 Kapital in das Unternehmen, in der
Absicht, eine Liegenschaft zu erwerben. Nachdem die Stamm-
einlagen im Februar 1998 auf sie übertragen worden waren,
reisten sie in die Südsee, um nachzuforschen, was der Ge-
schäftsführer unternommen hatte. Danach beauftragten sie
Rechtsanwalt lic. iur. S.________ mit der Liquidation der
Gesellschaft. Mit Schreiben vom 8. September 1998 reichte
dieser gegen den ehemaligen Geschäftsführer Anzeige wegen
ungetreuer Geschäftsbesorgung, Veruntreuung und anderer
Straftatbetände ein und legte dar, dass die vom Beschwerde-
führer und dessen Mitgesellschafter im Rahmen einer ver-
traglichen Vereinbarung überwiesenen Geldsummen von
Fr. 150'000.- bzw. Fr. 210'000.- in der Buchhaltung nicht
ausgewiesen wurden und über den Verbleib nichts herausge-
funden werden konnte.
     Für die Annahme, dass die Gesellschaft überschuldet
war, spricht weiter die Tatsache, dass die ehemalige Be-
sitzerin aller 20 Stammeinlagen der X.________ GmbH diese
gemäss öffentlicher Urkunde des Notariats Q.________ vom
17. Februar 1998 an den Beschwerdeführer und dessen
Mitgesellschafter zum symbolischen Preis von Fr. 1.- über-
trug. Ausserdem verzichtete der Geschäftsführer auf sämt-
liche arbeitsrechtlichen Forderungen und verpflichtete
sich, für den von ihm der Gesellschaft verursachten Schaden
aufzukommen (Schreiben vom 17. Februar 1998).
     Zusammengefasst ist festzuhalten, dass am 17. Februar
1998, also im Zeitpunkt, als der Beschwerdeführer Gesell-
schafter der X.________ GmbH wurde, diese mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit bereits überschuldet war und der Be-
schwerdeführer für die davor ausbezahlten und nicht abge-
rechneten Löhne nicht haftpflichtig ist, weil der Schaden
bereits entstanden war.

     c) Es bleibt zu prüfen, ob der Beschwerdeführer für
den ab Eintritt in die X.________ GmbH entstandenen Schaden
aufzukommen hat.
     Der Beschwerdeführer bringt glaubhaft vor (vgl.
Erw. 3b), dass ab diesem Zeitpunkt keine Arbeitnehmer be-
schäftigt und keine Löhne ausbezahlt worden sind. Die Ver-
waltung hat zum Beweis ihrer Schadenersatzforderung keine
Unterlagen aufgelegt, woraus ersichtlich wäre, wann der
Betrag von Fr. 10'000.- im Jahre 1998 und an wen er aus-
bezahlt worden ist. Es ist demnach nicht mit dem im Sozial-
versicherungsrecht üblichen Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit (BGE 126 V 360 Erw. 5b) erstellt, dass
die X.________ GmbH nach dem Eintritt des Beschwerdeführers
in die Gesellschaft Arbeitnehmer beschäftigt hatte und der
Ausgleichskasse nach diesem Datum ein Schaden entstanden
ist.

     Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

  I. In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, so-
     weit darauf einzutreten ist, wird der Entscheid der
     AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau vom
     30. November 2001, soweit er eine bundesrechtliche
     Forderung betrifft, aufgehoben und die Klage der Aus-
     gleichskasse des Kantons Thurgau vom 7. August 2001
     wird in diesem Umfang abgewiesen.

 II. Die Gerichtskosten in Höhe von Fr. 700.- werden der
     Ausgleichskasse des Kantons Thurgau auferlegt.

III. Der geleistete Kostenvorschuss von Fr. 700.- wird dem
     Beschwerdeführer zurückerstattet.

 IV. Dieses Urteil wird den Parteien, der AHV/IV-Rekurs-
     kommission des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für
     Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 4. Juli 2002

                    Im Namen des
         Eidgenössischen Versicherungsgerichts
             Der Präsident der II. Kammer:

                Der Gerichtsschreiber: