Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 37/2002
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H 37/02

Urteil vom 3. September 2003
IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiberin
Riedi Hunold

Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

M.________, 1965, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt  Werner
Goldmann, Dorfstrasse 16, 6341 Baar,

Verwaltungsgericht des Kantons Zug, Zug

(Entscheid vom 20. Dezember 2001)

Sachverhalt:

A.
Die Firma Q.________ Ltd. (vormals; X.________ Ltd., Zweigniederlassung
A.________, nachfolgend: Q.________ Ltd.) wurde am 11. August 1995 im
Handelsregister des Kantons Zug als Zweigniederlassung der Q.________ Ltd.
(vormals: X.________), eingetragen. Als vertretungsbefugte Personen wurden
M.________ mit Einzelunterschrift sowie L.________ mit Kollektivunterschrift
zu zweien aufgeführt. Mit Fragebogen vom 20. November 1996 meldete M.________
die Q.________ Ltd. bei der Ausgleichskasse Zug an und gab an, es würden
keine Arbeitnehmer beschäftigt und keine Löhne ausbezahlt. Am 10. Februar
1998 meldete die Y.________ Treuhand AG welche die Buchhaltung für die
Q.________ Ltd. führte, für das Jahr 1997 den Lohn von M.________ in der Höhe
von Fr. 182'350.- als beitragspflichtigen Lohn. Nachdem die betreffende
Rechnung der Ausgleichskasse nicht beglichen wurde, gab die Y.________
Treuhand AG an, die Gesellschaft habe ihre Tätigkeit und ihren Sitz in Zug
per Ende 1997 aufgegeben; eine Weiterleitung der Rechnung an den Hauptsitz im
Ausland sei mangels Kenntnis der Adresse nicht möglich. Am 19. Oktober 1998
leitete die Ausgleichskasse die Betreibung für ausstehende Beiträge 1997
gegen die Q.________ Ltd. ein. Dem Betreibungsbegehren wurde mit dem Hinweis,
die Zweigniederlassung sei am 8. April 1998 im Handelsregister gelöscht
worden, nicht stattgegeben.

Im Rahmen der Abklärungen der Ausgleichskasse liess M.________ der
Ausgleichskasse mitteilen, er habe keinerlei Einfluss auf die Entscheidungen
des Hauptsitzes gehabt, sondern sei lediglich mit der Vermögensverwaltung
betraut gewesen. Zudem gab er die Adresse des Hauptsitzes an. Mit Verfügung
vom 31. März 1999 verpflichtete die Ausgleichskasse M.________ zur Zahlung
von Schadenersatz in der Höhe von Fr. 27'040.40 für entgangene
Sozialversicherungsbeiträge.

B.
Nachdem M.________ hiegegen hatte Einspruch erheben lassen, reichte die
Ausgleichskasse am 2. Juni 1999 Klage ein mit dem Begehren, M.________ sei zu
verpflichten, ihr Schadenersatz für nicht bezahlte
Sozialversicherungsbeiträge in der Höhe von Fr. 27'040.40 zu bezahlen. Das
Verwaltungsgericht des Kantons Zug wies die Klage mit Entscheid vom 20.
Dezember 2001 ab.

C.
Das Bundesamt für Sozialversicherung (nachfolgend: BSV) führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, es seien der vorinstanzliche
Entscheid aufzuheben, soweit er Bundessozialversicherungsbeiträge betreffe,
und die Klage der Ausgleichskasse gutzuheissen. Sowohl Vorinstanz als auch
M.________ schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde,
während die Ausgleichskasse deren Gutheissung beantragt.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Da es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um die Bewilligung oder
Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht
Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b
sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

2.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Bereich der Alters- und
Hinterlassenenversicherung geändert worden. Weil in zeitlicher Hinsicht
grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung
des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw.
1), und weil ferner das Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines
Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen
Verfügung eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b), sind im
vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Bestimmungen
anwendbar (BGE 129 V 4 Erw. 1.2). Im Übrigen hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht festgestellt, dass sich weder aus der bundesrätlichen
Botschaft zur 11. AHV-Revision noch aus den Materialien zum ATSG
Anhaltspunkte für ein Abweichen von der feststehenden Praxis des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts zur Organhaftung gemäss Art. 52 AHVG
ergeben (BGE 129 V 11).

3.
Streitig ist, ob der Ausgleichskasse ein Schaden bereits entstanden ist.

3.1 Die Vorinstanz hat die Klage der Ausgleichskasse abgewiesen, weil der
Ausgleichskasse noch gar kein Schaden entstanden sei. Von grundlegender
Bedeutung sei, dass die Forderungen gegenüber der Zweigniederlassung durch
deren Liquidation nicht einfach untergegangen seien, sondern dass solche
Forderungen der Muttergesellschaft (recte: dem Hauptsitz) gegenüber bestehen
blieben. Dies habe zur Folge, dass die Forderung der Ausgleichskasse
gegenüber der Muttergesellschaft (recte: dem Hauptsitz) nach wie vor bestehe.
Einer Geltendmachung stünden damit aber weder tatsächliche noch rechtliche
Gründe entgegen, so dass ein Schadenseintritt im Sinne von Art. 52 AHVG zu
verneinen sei.

3.2 Das Organ eines Arbeitgebers kann im Rahmen des Art. 52 AHVG belangt
werden, auch wenn der Arbeitgeber (noch) nicht rechtlich zu existieren
aufgehört hat; die Subsidiarität der Haftung der Organe einer juristischen
Person bedeutet lediglich, dass sich die Ausgleichskasse zuerst an den
Arbeitgeber zu halten hat. So genügt es für den Erlass einer
Schadenersatzverfügung vielmehr, dass ein Schaden eingetreten ist (BGE 113 V
256 Erw. 3c). Der Schaden gilt als eingetreten, sobald anzunehmen ist, dass
die geschuldeten Beiträge aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht
mehr erhoben werden können (BGE 121 III 384 Erw. 3bb, 388 Erw. 3a, 113 V 257
Erw. 3c, 112 V 157 Erw. 2, 109 V 92 Erw. 9, je mit Hinweisen). Dies trifft
u.a. dann zu, wenn die Beiträge wegen der Zahlungsunfähigkeit des
Arbeitgebers nicht mehr im ordentlichen Verfahren nach Art. 14 ff. AHVG
erhoben werden können (BGE 123 V 16 Erw. 5b, 170 Erw. 2a, 121 III 384 Erw.
3bb, 113 V 256, 112 V 157 Erw. 2, je mit Hinweisen). So etwa wenn die
Ausgleichskasse in der Betreibung auf Pfändung einen definitiven
Pfändungsverlustschein ausgestellt erhält. Es stellt sich die Frage, ob der
Eintritt des Schadens nicht auch aus anderen tatsächlichen Gründen als der
Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers gegeben sein kann.

3.3 Vorliegend können die Beiträge in der Schweiz nicht mehr erhoben werden,
da die Zweigniederlassung ohne Schuldenaufruf oder vorgängige Mitteilung
liquidiert und im Handelsregister gelöscht wurde. Eine Vollstreckung der
Beiträge scheitert somit am fehlenden schweizerischen Betreibungsort. Zwar
wäre die Erhebung der Beiträge beim Hauptsitz der Firma in Irland rein
rechtlich gesehen möglich. Bei den Sozialversicherungsbeiträgen handelt es
sich jedoch nicht um eine zivile oder Handelssache im Sinne des
Luganoübereinkommens, da Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit der
Ausübung hoheitlicher Befugnisse hievon grundsätzlich nicht erfasst werden
(vgl. BGE 124 III 440 Erw. 3a sowie Walter, Internationales Zivilprozessrecht
der Schweiz, Bern/Stuttgart/Wien 1995, S. 142, und Kropholler, Europäisches
Zivilprozessrecht, 7. Auflage, Heidelberg 2002, N 51 ff., v.a. N 75 f., Einl
sowie N 6 ff. zu Art. 1); so sind denn auch Belange der Sozialen Sicherheit
vom Anwendungsbereich des Abkommens ausgenommen (Walter, a.a.O., S. 148;
Kropholler, a.a.O., N 37 ff. zu Art. 1). Schliesslich sind die
Sozialversicherungsbeiträge weder dem Abkommen zwischen der Schweizerischen
Eidgenossenschaft und Irland über Soziale Sicherheit vom 11. Dezember 1997
noch der zugehörigen Verwaltungsvereinbarung vom 12. Mai 2000 unterstellt.
Rechtliche Schritte gegen den Hauptsitz in Irland könnten sich somit auf
keinerlei zwischenstaatliche Vereinbarungen abstützen, sodass der Ausgang
eines solchen Prozesses nicht nur äusserst ungewiss, sondern auch das
entsprechende Vorgehen selbst bei einer weiten Interpretation nicht dem
Verfahren von Art. 14 ff. AHVG entspricht. Der Schaden ist demnach aus
tatsächlichen Gründen eingetreten.

3.4 Die Sache ist nach dem Gesagten an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit
sie das Vorliegen der weiteren Haftungsvoraussetzungen bei einem Vertreter
einer Zweigniederlassung (vgl. RDAT 1994 II Nr. 87 S. 172) überprüfe und
hernach über die Klage der Ausgleichskasse neu entscheide.

4.
Da keine Versicherungsleistungen streitig sind, ist das Verfahren
kostenpflichtig (Art. 134 OG e contrario). Der unterliegende Beschwerdegegner
hat die Gerichtskosten zu tragen (Art. 156 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135
OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug vom 20. Dezember 2001
aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen wird, damit sie,
nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, neu über die Klage
entscheide.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 1'000.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug,
Sozialversicherungsrechtliche Kammer, und der Ausgleichskasse des Kantons Zug
zugestellt.

Luzern, 3. September 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der IV. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: