Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 30/2002
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H 30/02

Urteil vom 3. März 2003
II. Kammer

Präsident Schön, Bundesrichter Ursprung und Frésard; Gerichtsschreiber
Nussbaumer

1. W.________,

2. S.________,

Beschwerdeführer, beide vertreten durch Rechtsanwältin Claudia Giusto,
Sonneggstrasse 55, 8006 Zürich,

gegen

Ausgleichskasse des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 13. Dezember 2001)

Sachverhalt:

A.
W. ________ war seit der Gründung der Firma am 27. März 1996 Präsident des
Verwaltungsrats und S.________ seit 16. Oktober 1997 Mitglied des
Verwaltungsrates und Vizedirektorin der Firma X.________. Die Gesellschaft
entrichtete die Sozialversicherungsbeiträge monatlich im Pauschalverfahren.
Nachdem sie die für das Jahr 1996 geschuldeten Beiträge noch mehr oder
weniger fristgerecht bezahlt hatte, musste sie für die Beiträge ab 1997
mehrfach betrieben werden. Ab März 1997 leistete sie die Pauschalen mit
deutlicher und ab Juli 1997 mit einjähriger Verspätung. Die Beiträge ab März
1998 blieb sie schuldig. Am 16. September 1998 wurde über sie der Konkurs
eröffnet. Am 2. November 1998 erfolgte die Arbeitgeberkontrolle. Die Auflage
des Kollokationsplanes wurde am 18. Dezember 1998 publiziert. Am 23. Dezember
1998 teilte das Konkursamt S.________ auf Anfrage hin der Ausgleichskasse
mit, dass sie im Konkurs vermutlich voll zu Schaden kommen werde. Mit
Verfügungen vom 27. Oktober 1999 verpflichtete die Ausgleichskasse W.________
und S.________ in solidarischer Haftbarkeit zur Leistung von Schadenersatz in
Höhe von Fr. 263'879.90.

B.
Die auf Einspruch hin von der Ausgleichskasse des Kantons Zürich über den
Betrag von Fr. 188'630.30 eingereichte Klage hiess das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 13. Dezember
2001 vollumfänglich gut.

C.
W.________ und S.________ lassen Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem
Antrag, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei die Klage der
Ausgleichskasse vollumfänglich abzuweisen. Eventuell sei die Sache zur
Durchführung und Erweiterung des Beweisverfahrens an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

Das kantonale Gericht, die Ausgleichskasse des Kantons Zürich und das
Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Da es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um die Bewilligung oder
Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht
Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b
sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

2.
2.1 Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Bereich der AHV geändert worden. Weil in
zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die
bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben
(BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das Sozialversicherungsgericht bei
der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des
Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 27. Oktober 1999) eingetretenen
Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b), sind im vorliegenden Fall die
bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Bestimmungen anwendbar.

2.2 Die rechtlichen Grundlagen (Art. 52 AHVG, Art. 14 Abs. 1 AHVG in
Verbindung mit Art. 34 ff. AHVV in der bis Ende 2000 gültig gewesenen
Fassung; Art. 82 Abs. 1 AHVV) und die zur subsidiären Haftbarkeit der Organe
(vgl. statt vieler BGE 123 V 15 Erw. 5b) sowie zur Haftungsvoraussetzung des
zumindest grobfahrlässigen Verschuldens (BGE 108 V 186 Erw. 1b, 193 Erw. 2b;
ZAK 1985 S. 576 Erw. 2, 619 Erw. 3a und b) ergangene Rechtsprechung finden
sich im angefochtenen Entscheid des kantonalen Gerichts zutreffend
wiedergegeben. Darauf wird verwiesen.

3.
3.1 Das kantonale Gericht hat im angefochtenen Entscheid die Rechtzeitigkeit
der Schadenersatzverfügung und der nach erfolgtem Einspruch eingereichten
Schadenersatzklage, den Eintritt eines Schadens in Höhe von Fr. 188'630.30,
die Verletzung der Beitragsabrechnungs- und Zahlungspflicht, den
Kausalzusammenhang, die Organstellung sowie das grobfahrlässige Verhalten und
damit die Schadenersatzpflicht der beiden Beschwerdeführenden mit
sorgfältiger Würdigung der Akten und eingehender Begründung bejaht. Es kann
in diesem Zusammenhang auf die einlässlichen Erwägungen der Vorinstanz
verwiesen werden, zumal in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde nichts
vorgebracht wird, was die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen
Entscheid als mangelhaft im Sinne von Art. 105 Abs. 2 OG erscheinen liesse.

3.2 In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird zunächst der Einwand erhoben,
die eingeklagten Schadenersatzforderungen seien verwirkt. Die
Beschwerdegegnerin habe aufgrund ihrer Erfahrungen mit der konkursiten Firma
seit geraumer Zeit, d.h. bereits vor der Auflegung des Kollokationsplanes,
insbesondere im Zeitpunkt der Konkurseröffnung im Schweizerischen
Handelsamtsblatt (SHAB) mit Sicherheit davon ausgehen müssen, dass ihre
Forderung ganz oder teilweise ungedeckt bleiben werde. Ausserdem habe sie die
Ersatzpflichtigen gekannt, da diese bereits mehrmals schriftlich auf die
Ausstände hingewiesen worden seien. Unter Beachtung der ihr zumutbaren
Aufmerksamkeit habe die Beschwerdegegnerin bereits Mitte Oktober 1998
erkennen müssen, dass die tatsächlichen Gegebenheiten nicht mehr erlauben,
die Beiträge einzufordern.

Mit dieser Argumentation lassen die beiden Beschwerdeführenden ausser Acht,
dass im Falle eines Konkurses die Ausgleichskasse praxisgemäss in der Regel
erst dann ausreichend Kenntnis des Schadens hat, wenn der Kollokationsplan
zur Einsicht aufgelegt wird. Dies gilt auch für den Zeitraum vom 1. Januar
1997 bis Ende Dezember 2000, als die Beitragsforderungen der Ausgleichskassen
SchKG-rechtlich nicht mehr privilegiert waren (BGE 126 V 443). Dass die
Beschwerdegegnerin die beiden ins Recht gefassten Organe vor der
Konkurseröffnung auf ausstehende Beiträge hingewiesen hatte und um die
finanziellen Schwierigkeiten der Gesellschaft wusste, genügt für eine
Vorverlegung des Eintritts des Zeitpunkts der Schadenskenntnis nicht.
Voraussetzung für eine ausreichende Kenntnis des Schadens ist, dass die
Ausgleichskasse alle tatsächlichen Umstände über die Existenz, die
Beschaffenheit und die wesentlichen Merkmale des Schadens sowie die Person
des Ersatzpflichtigen kennt. Da die ausstehende Beitragsforderung Grundlage
für die Höhe des Schadens bildet, kann eine Schadenskenntnis erst zu jenem
Zeitpunkt angenommen werden, wenn die Ausgleichskasse in der Lage ist, die
Höhe der Beitragsforderung zu beziffern (BGE 128 V 12 Erw. 5a, 126 V 445 Erw.
3c mit Hinweisen). Die nach der Konkurseröffnung vom 16. September 1998
durchzuführende Arbeitgeberkontrolle (vgl. Art. 162 Abs. 1 AHVV) fand am 2.
November 1998 statt. Selbst wenn man der Argumentation in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde folgt, hätte die Ausgleichskasse frühestens zum
Zeitpunkt der Arbeitgeberkontrolle Kenntnis des Schadens gehabt (BGE 128 V 14
Erw. 5d). Die am 28. Oktober 1999 der Post übergebenen
Schadenersatzverfügungen erfolgten damit rechtzeitig (BGE 119 V 89).

3.3 Des Weitern wird in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorgebracht, durch
die Nichtbezahlung der AHV-Beiträge habe begründete Aussicht bestanden, das
Unternehmen zu retten und dessen Überleben zu ermöglichen. Wegen dem
Verhalten des grössten Kunden sei ab 1996 ein Liquiditätsengpass entstanden.
Dieser Argumentation ist zunächst entgegenzuhalten, dass der Verwaltungsrat
angesichts der bereits kurz nach Gründung der Firma bestehenden
Liquiditätsschwierigkeiten Vorkehren hätte treffen müssen, um die Beiträge
der zur Auszahlung gelangenden Löhne sicherzustellen. Im Gegenteil liess er
es zu, dass die Begleichung der Beitragsschuld ab März 1997 ständig weiter
hinausgeschoben wurde. Nach der Feststellung des kantonalen Gerichts wurden
die ab diesem Zeitpunkt  monatlich geschuldeten Beiträge deutlich und ab Juli
1997 sogar mit einem Jahr Verspätung geleistet. Ab März 1998 entrichtete die
Firma keine Beiträge mehr und diese konnten nur noch in verhältnismässig
geringem Umfang eingezogen werden, indem die Ausgleichskasse nachträglich mit
Familien- oder Erwerbsersatzordnungsleistungen verrechnete. Ein solches
Verhalten stellt namentlich eine Verletzung der Pflicht dar, in finanziell
schwierigen Zeiten nur so viel Lohn auszuzahlen, als dass die darauf
unmittelbar ex lege entstandenen Beitragsforderungen gedeckt sind (BGE 118 V
195 Erw. 2a, SVR 1995 AHV Nr. 70 S. 214 Erw. 5). Nachdem die Firma
Y.________, welche die Gesellschaft für die Sanierungsbemühungen beigezogen
hatte, im Schreiben vom 22. Januar 1998 darauf hingewiesen hatte, der
Zwischenabschluss per 30. September 1997 zeige eine Überschuldung, welche
sich aufgrund der unveränderten Tarifsituation bis Ende 1997 nochmals erhöht
habe, bestanden für die beiden Beschwerdeführenden entgegen ihrer Auffassung
keine ernsthaften und objektiven Gründe mehr zur Annahme, dass - bei
vorübergehender Nichtbezahlung der Sozialversicherungsbeiträge - Aussicht auf
eine baldige Sanierung des Unternehmens bestand und deshalb damit gerechnet
werden durfte, die Forderungen der Ausgleichskasse könnten innert nützlicher
Frist beglichen werden. Der rund zwei Jahre dauernden Verletzung der
Beitragsvorschriften ist zunächst die vorübergehende Natur abzusprechen.
Angesichts der Höhe der bestehenden Verbindlichkeiten (Fremdkapital per 31.
März 1997: Fr. 2'846'727.50) und des seit Gründung der Firma bekannten
Gebarens der Hauptkundin konnte sodann durch das Nichtabliefern der Beiträge
objektiv keine für die Rettung der Firma ausschlaggebende Wirkung erwartet
werden (Urteile U. vom 23. August 2000, H 405/99, und S. vom 18. Juli 2000, H
301/99, und nicht veröffentlichtes Urteil H. vom 11. Juli 1996, H 104/95).

4.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 134 OG). Ausgangsgemäss haben die
Beschwerdeführenden die Gerichtskosten zu tragen.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 8000.- werden den Beschwerdeführenden zu gleichen
Teilen auferlegt und mit den geleisteten Kostenvorschüssen verrechnet. Die
Differenzbeträge von je Fr. 2000.- werden zurückerstattet.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 3. März 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der II. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: