Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 23/2002
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H 23/02
Urteil vom 13. September 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiberin
Helfenstein Franke

1. A.________,
2. B.________,
3. C.________,
4. D.________,
5. E.________,
6. F.________,
7. G.________,

Beschwerdeführer, alle vertreten durch A.________, Erben des I.________,
geboren am 1. November 1909, gestorben am 9. April 2003,

gegen

Ausgleichskasse des Kantons Bern, Abteilung Leistungen, Chutzenstrasse 10,
3007 Bern, Beschwerdegegnerin,

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 3. Dezember 2001)

Sachverhalt:

A.
Der 1909 geborene I.________ war auf Grund einer beidseitigen, hochgradigen
Innenohrschwerhörigkeit seit Jahrzehnten zunächst von der
Invalidenversicherung, danach im Rahmen der Besitzstandsgarantie von der
Alters- und Hinterlassenenversicherung mit Hörgeräten versorgt worden,
letztmals mit Verfügung vom 22. August 1996. Am 15. März 2001 ersuchte er um
erneute Hörgeräteversorgung. Die von der Ausgleichskasse des Kantons Bern
(nachfolgend: Ausgleichskasse) in Auftrag gegebene Expertise 1 des Dr. med.

R. ________ Spezialarzt FMH für Ohren-, Nasen-, Halskrankheiten, Hals- und
Gesichtschirurgie, vom 30. April 2001 ergab im Rahmen der Erhebung des
HNO-Status "keine für die Hörgerätewiederversorgung relevanten Befunde" und
somit eine beidseits vollständige Taubheit. Gestützt darauf lehnte die
Ausgleichskasse mit Vorbescheid vom 21. Mai 2001 einen Anspruch auf
Hörgeräteversorgung ab. Nach einer Eingabe des Hörmittellieferanten vom 13.
Juni 2001 holte die Ausgleichskasse eine zusätzliche Stellungnahme des Dr.
med. R.________ vom 26. Juni 2001 ein und hielt mit Verfügung vom 20. Juli
2001 an der Abweisung des Leistungsbegehrens fest.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
mit Entscheid vom 3. Dezember 2001 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 21. Januar 2002 beantragte I.________,
es seien unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides und der Verfügung
der Ausgleichskasse die Kosten der Hörgeräteversorgung von der Alters- und
Hinterlassenenversicherung zu übernehmen, eventualiter sei die Sache zur
weiteren Abklärung an die Ausgleichskasse zurückzuweisen.

Während die Ausgleichskasse auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) auf eine
Vernehmlassung.

D.
Mit Schreiben vom 3. September 2003 teilt A.________, Sohn des I.________,
mit, dass sein Vater am 9. April 2003 verstorben sei, er und seine
Geschwister aber die Beschwerde aufrecht erhalten möchten. Auf Ersuchen des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts um Zustellung einer amtlichen
Bescheinigung (Erbenbescheinigung) zur Fortführung des Verfahrens reichte er
am 6. Oktober 2003 eine Erbgangsbescheinigung sowie eine schriftliche
Vollmacht als bevollmächtigter Erbenvertreter ein, gab dabei aber an, die
Erbschaft sei noch nicht angetreten worden. Mit Verfügung vom 9. Juni 2004
wurde das Verfahren bis zum Entscheid über den Antritt der Erbschaft
sistiert. Mit Eingabe vom 26. Juli 2004 teilte A.________ als Erbenvertreter
mit, offenbar sei durch die bereits zugestellte Erbbescheinigung vom 26.
September 2003 die Erbschaft durch ihn und seine Geschwister angetreten
worden, überdies habe man sich nun intern geeinigt, weshalb von keiner der in
der Erbenbescheinigung genannten Personen eine Ausschlagung erfolgt sei.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Auf Grund der Eingabe des Erbenvertreters vom 26. Juli 2004 gilt die
Erbschaft des Versicherten von seinen sieben Kindern als angetreten, welche
damit als Erbengemeinschaft, vertreten durch ihren Bevollmächtigten, in den
Prozess eintreten (Urteil H. vom 17. Januar 2003, P 66/01; vgl. auch Vogel,
Grundriss des Zivilprozessrechts, 5. Auflage, Bern 1997, N 94 S. 149). Die
Sistierung ist deshalb aufzuheben und das Beschwerdeverfahren weiterzuführen.

2.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Weil
in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind,
die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung
haben, und weil ferner das Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung
eines Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der
streitigen Verfügung (hier: 20. Juli 2001) eingetretenen Sachverhalt
abstellt, sind die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Bestimmungen anwendbar
(BGE 129 V 4 Erw. 1.2, vgl. BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b). Aus dem
gleichen Grund ist die auf den 1. Januar 2004 in Kraft getretene 4.
IV-Revision nicht zu berücksichtigen.

3.
3.1
Nachdem der Versicherte bereits vor Erreichen des AHV-Alters von der
Invalidenversicherung mit Hörgeräten versorgt wurde, richtet sich sein
Anspruch auf Grund der Besitzstandsregelung von Art. 4 HVA nach der
IV-rechtlichen Hilfsmittelregelung (BGE 119 V 225).

3.2  Invalide oder von einer Invalidität bedrohte Versicherte haben Anspruch
auf Eingliederungsmassnahmen, soweit diese notwendig und geeignet sind, die
Erwerbsfähigkeit wieder herzustellen, zu verbessern, zu erhalten oder ihre
Verwertung zu fördern. Dabei ist die gesamte noch zu erwartende Arbeitsdauer
zu berücksichtigen (Art. 8 Abs. 1 IVG). Nach Massgabe der Artikel 13, 19, 20
und 21 besteht der Anspruch auf Leistungen unabhängig von der Möglichkeit
einer Eingliederung ins Erwerbsleben (Abs. 2). Zu diesen
Eingliederungsmassnahmen gehört auch die Abgabe von Hilfsmitteln (Abs. 3
lit.d).

Die versicherte Person hat gemäss Art. 21 Abs. 1 IVG im Rahmen einer vom
Bundesrat aufzustellenden Liste Anspruch auf jene Hilfsmittel, deren sie für
die Ausübung der Erwerbstätigkeit oder der Tätigkeit in ihrem
Aufgabenbereich, für die Schulung, die Ausbildung oder zum Zwecke der
funktionellen Angewöhnung bedarf. Die versicherte Person, die infolge ihrer
Invalidität für die Fortbewegung, für die Herstellung des Kontaktes mit der
Umwelt oder für die Selbstsorge kostspieliger Geräte bedarf, hat im Rahmen
einer vom Bundesrat aufzustellenden Liste ohne Rücksicht auf die
Erwerbsfähigkeit Anspruch auf solche Hilfsmittel (Abs. 2). Die Hilfsmittel
werden zu Eigentum oder leihweise in einfacher und zweckmässiger Ausführung
abgegeben. Durch eine andere Ausführung verursachte zusätzliche Kosten hat
die versicherte Person selbst zu tragen. Ersetzt ein Hilfsmittel Gegenstände,
die auch ohne Invalidität angeschafft werden müssen, so kann der versicherten
Person eine Kostenbeteiligung auferlegt werden (Abs. 3). Der Bundesrat kann
nähere Vorschriften erlassen, insbesondere über die Weiterverwendung
leihweise abgegebener Hilfsmittel nach Wegfall der Anspruchsvoraussetzungen
(Abs. 4).

Der Bundesrat hat in Art. 14 Abs. 1 IVV die Befugnis zum Erlass der
Hilfsmittelliste an das Departement des Innern delegiert, welches gestützt
darauf die Verordnung über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die
Invalidenversicherung vom 29. November 1976 (HVI) mit der im Anhang
aufgeführten Liste der Hilfsmittel erlassen hat, auf deren Abgabe die
Versicherten grundsätzlich Anspruch haben.

Laut Art. 2 HVI besteht im Rahmen der im Anhang aufgeführten Liste Anspruch
auf Hilfsmittel, soweit diese für die Fortbewegung, die Herstellung des
Kontaktes mit der Umwelt oder für die Selbstsorge notwendig sind (Abs. 1);
Anspruch auf die in dieser Liste mit * bezeichneten Hilfsmittel besteht,
soweit diese für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit oder die Tätigkeit im
Aufgabenbereich, für die Schulung, die Ausbildung, die funktionelle
Angewöhnung oder für die bei einzelnen Hilfsmitteln ausdrücklich genannte
Tätigkeit notwendig sind (Abs. 2). Der Anspruch erstreckt sich auch auf das
invaliditätsbedingte Zubehör und die invaliditätsbedingten Anpassungen (Abs.
3). Es besteht nur Anspruch auf Hilfsmittel in einfacher und zweckmässiger
Ausführung. Durch eine andere Ausführung bedingte zusätzliche Kosten hat der
Versicherte selbst zu tragen. Beim Fehlen von vertraglich vereinbarten
Tarifen können vom BSV angemessene Höchstbeiträge im Sinne von Artikel 27 IVG
festgelegt werden (Abs. 4).

Gemäss Ziff. 5.07 HVI-Anhang steht den Versicherten der Anspruch auf Abgabe
von Hörgeräten bei Schwerhörigkeit zu, sofern das Hörvermögen durch ein
solches Gerät namhaft verbessert wird und sie sich wesentlich besser mit der
Umwelt verständigen können.

4.
Streitig ist, ob der Beschwerdeführer Anspruch auf Hörgeräteversorgung hat.
Während die Vorinstanz die ablehnende Verfügung der IV-Stelle gestützt auf
die Expertise 1 des Dr. med. R.________ vom 30. April 2001 mit der Begründung
bestätigte, bei einer festgestellten Taubheit, also einem vollständigen
Verlust des Gehörs, könne durch ein Hilfsmittel keine Hörfähigkeit mehr
erreicht werden, bestritt der Versicherte, vollständig taub zu sein. Er
machte geltend, die beidseitige Hörgeräteversorgung sei nicht bloss vom
subjektiven Eindruck her, sondern auch aus Sicht seiner Gesprächspartner
objektiv eine wesentliche Verbesserung der Hörfähigkeit, was sich auch aus
dem Audiogramm des Hörmittellieferanten ergebe. Schliesslich kritisierte er
die Angaben des Dr. med. R.________ in der Expertise und verlangt eine
Abklärung durch einen neutralen Ohrenarzt, bleibe doch unerklärlich, warum
das Audiogramm des Hörmittellieferanten eine messbare Verbesserung der
Hörfähigkeit ergeben habe.

4.1  Wie sich aus Art. 8 Abs. 1 IVG ergibt, muss durch die Hilfsmittelabgabe
das gesetzliche Eingliederungsziel prognostisch (BGE 110 V 102) überhaupt
erreicht werden können; dieses wird bei der Hörgeräteversorgung in Ziff. 5.57
HVI-Anhang umschrieben als namhafte Verbesserung des Hörvermögens und
wesentlich bessere Verständigung mit der Umwelt. Ebenso setzt der Anspruch
auf eine bestimmte Eingliederungsmassnahme der Invalidenversicherung voraus,
dass sie sich zur Erreichung des von ihr bezweckten Eingliederungszieles
eignet: nicht nur objektiv mit Bezug auf die Massnahme, sondern auch
subjektiv mit Bezug auf die Person des Versicherten (ZAK 1991 S. 179 Erw. 3
mit Hinweisen, vgl. auch AHI 1997 S. 172 Erw. 3a; Meyer-Blaser,
Rechtsprechung des Bundesgerichts zum IVG, S. 56). Denn eingliederungswirksam
kann eine Massnahme nur sein, wenn der Ansprecher selber wenigstens teilweise
eingliederungsfähig ist (Meyer-Blaser, Zum Verhältnismässigkeitsgrundsatz im
staatlichen Leistungsrecht, Diss. Bern 1985, S. 85).

4.2  Die IV-Stelle hat zur Ablehnung des Leistungsbegehrens auf den Bericht
des Dr. med. R.________ vom 30. April 2001 abgestellt. Dieser führt aus, es
liege eine bekannte beidseits "höchstgradige Innenohrschwerhörigkeit mit
Hörgeräteversorgung seit Jahrzehnten" vor. Dem Versicherten sei ein Hörgerät
letztmals 1996 auf dem linken Ohr im Sinne einer Wiederversorgung angepasst
worden. Bereits damals habe sich die Hörschwelle beidseits an der Grenze der
Fühlwerte bewegt. Nun verstehe der Patient auch mit Hörgeräten kaum mehr
etwas, sodass sich die Frage der Wiederversorgung stelle. Die
Reintonaudiometrie und vor allem die Sprachaudiometrie ergebe leider, dass
der Versicherte zwischenzeitlich beidseits "vollständig ertaubt" sei. Die
gemessenen Werte dürften reine Fühlwerte sein. Auch Zahlen würden bei der
höchsten einstellbaren Lautstärke nicht verstanden. Mithin sei eine weitere
Hörgeräteversorgung sinnlos.

In seiner Stellungnahme vom 26. Juni 2001 präzisierte er, seine Diagnose
einer seit der letzten Hörgeräteversorgung 1996 leider beidseits
eingetretenen Ertaubung gründe darauf, dass im Reintonaudiogramm beidseits
nur noch "Hörschwellenwerte" ermittelt werden könnten, welche bereits massiv
im Fühlwertbereich lägen und dass im Sprachaudiogramm mit Zahlen auch bei der
höchsten geprüften Lautstärke von 115 dB links und rechts 0 %
Verständlichkeit resultiert habe. Die Diagnose der Taubheit beidseits sei
deshalb gesichert. Gemäss Erfahrung gewisser Audiologen könnten taktile
Empfindungen, hervorgerufen durch Schalldruckwellen des Hörgeräts, bei
einzelnen tauben Patienten, namentlich Mehrfach-Behinderten, positiv
empfunden werden und einen gewissen Gewinn an Lebensqualität bringen. Ein
Verstehen der Sprache (und erst recht eine wesentliche Verbesserung des
Sprachverständnisses) könne indes bei dem tauben Versicherten logischerweise
nicht erreicht werden.

4.3  Aus der nach den gesetzeskonformen Weisungen eingeholten ersten
audiologischen Expertise wie auch aus der präzisierenden Stellungnahme geht
schlüssig hervor, dass beim Versicherten keine objektiv messbare Hörfähigkeit
mehr bestand. Damit ergibt sich, dass die Versorgung mit Hörgeräten nicht
geeignet war, zur Erreichung des gesetzlichen Eingliederungszieles, also der
namhaften Verbesserung des Hörvermögens und wesentlich besseren Verständigung
mit der Umwelt, etwas beizutragen, war doch gerade eine akustische
Verständigung auf Grund der zweifelsfrei diagnostizierten Taubheit beidseits
gar nicht mehr möglich.

Was der Versicherte dagegen vorbringt, vermag zu keiner anderen Beurteilung
zu führen. Insbesondere ist seine Kritik an Dr. med. R.________ nicht
stichhaltig, ist doch die vom audiologischen Spezialisten als zusätzliches
Erschwernis im Alltag angegebene verminderte Beweglichkeit des steifen
Fingers in keiner Weise als Grund gegen die beantragte Hilfsmittelversorgung
bezeichnet worden. Auch der Hinweis auf das Schreiben des
Hörmittellieferanten vom 13. Juni 2001 dringt nicht durch, weil damit kein
objektiv messbares Resthörvermögen bestätigt, sondern nur gesagt wird, "vom
subjektiven Eindruck her" könne die binaurale Versorgung als echte
Verbesserung verstanden werden, was auch die Meinung der Familienangehörigen
sei. Damit wird die Expertise 1 des Dr. med. R.________, die auf eingehenden
Untersuchungen basiert, nicht entkräftet.

5.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 13. September 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: