Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 159/2002
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H 159/02

Urteil vom 22. November 2002
III. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Meyer und Kernen; Gerichtsschreiber Arnold

N.________, 1932, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Paul
Schaer, Kirchgasse 22, 8302 Kloten,

gegen

Ausgleichskasse des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Beschluss vom 10. Mai 2002)

Sachverhalt:

A.
Mit Schreiben vom 17. Juli 2001 trat die Sozialversicherungsanstalt des
Kantons Zürich, Ausgleichskasse (nachfolgend: SVA), auf das Gesuch der
N.________ vom 25. Juni 2001 nicht ein, die Rückerstattungsverfügung vom 6.
Dezember 1999 in Wiedererwägung zu ziehen.

B.
Auf die hiegegen eingereichte Beschwerde trat das Sozialversicherungsgericht
des Kantons Zürich nicht ein (Beschluss vom 10. Mai 2002), nachdem es die
30tägige Beschwerdeanwortfrist zweimal um insgesamt 90 Tage erstreckt hatte
und die Vernehmlassung der SVA schliesslich am 8. Januar 2002 eingegangen
war. Das kantonale Gericht eröffnete seinen Entscheid vom 10. Mai 2002 der
Versicherten unter Beilegung eines Doppels der Vernehmlassung der SVA vom 4.
Januar 2002.

C.
N.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren,
der Beschluss des kantonalen Gerichts vom 10. Mai 2002 sei aufzuheben und die
Sache sei an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese über die in der
Verfügung vom 17. Juli 2001 abgelehnte Wiedererwägung der
Rückerstattungsverfügung vom 6. Dezember 1999 entscheide.

Die SVA und das Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf eine
Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
In formellrechtlicher Hinsicht macht die Beschwerdeführerin eine Verletzung
der Garantie eines fairen Gerichtsverfahrens nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK
geltend. Wie aus dem Dispositiv des angefochtenen Beschlusses ersichtlich
sei, habe das kantonale Gericht ihr von der Vernehmlassung der SVA erst
Kenntnis gegeben, nachdem der angefochtene Entscheid bereits gefällt worden
war. Die Beschwerdeführerin habe daher vor Verfahrensabschluss weder Kenntnis
von der Vernehmlassung der Verwaltung geschweige denn dazu Stellung nehmen
können.

Die Rüge ist begründet. Die vorinstanzliche Verfahrensgestaltung verletzt die
vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (nachfolgend: EGMR) in seinen
Urteilen Nideröst-Huber vom 18. Februar 1997 (VPB 1997 Nr. 108 S. 955), Rütti
vom 28. Juni 2001 (VPB 2001 Nr. 129 S. 1347) und Ziegler vom 21. Februar 2002
(vgl. dazu ZBJV 138/2002 S. 281) dargelegten Grundsätze zum Recht auf
Waffengleichheit als Teilgehalt des Gebotes der Fairness des Verfahrens.
Abgesehen von der Frage der Stellungnahme verlangt die zitierte
Rechtsprechung des EGMR jedenfalls zwingend, dass sämtliche Aktenstücke,
welche von einer Partei in das Verfahren eingebracht werden, auch der
Gegenpartei zur Kenntnis gelangen, bevor das Urteil ergeht. Dieser
Mindestanforderung, welche sich aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK ergibt, genügt das
kantonale Gerichtsverfahren nicht. Es liegt daher ein im Rahmen des
funktionellen Instanzenzuges mit enger Kognition (Art. 104 lit. a und Art.
105 Abs. 2 OG) nicht behebbarer Mangel der kantonalen Entscheidfindung vor,
was allein zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses führt. Über die
Begründetheit der weiteren Rügen hinsichtlich des kantonalen Entscheides ist
damit nicht zu befinden.

2.
Der Grund für das Obsiegen der anwaltlich vertretenen Beschwerdeführerin
liegt in einem Verstoss gegen die Ordnungsmässigkeit des Verfahrens vor dem
kantonalen Gericht. Es rechtfertigt sich daher nicht, der SVA, welche formell
Parteistellung hat, die Gerichtskosten aufzuerlegen. Im Hinblick auf Art. 156
Abs. 2 OG können diese auch nicht dem Kanton Zürich auferlegt werden.
Hingegen ist dieser zu verpflichten, der Beschwerdeführerin für das Verfahren
vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung zu
bezahlen (Art. 159 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Beschluss vom 10. Mai 2002 aufgehoben und die Sache an das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen wird, damit es
im Sinne der Erwägungen verfahre und über die Beschwerde vom 17. August 2001
gegen die Verwaltungsverfügung vom 17. Juli 2001 neu entscheide.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Der geleistete Kostenvorschuss von Fr. 500.- wird der Beschwerdeführerin
zurückerstattet.

4.
Der Kanton Zürich hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, dem Bundesamt für Sozialversicherung und dem Kanton Zürich
zugestellt.
Luzern, 22. November 2002

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: