Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 158/2002
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H 158/02

Urteil vom 30. Oktober 2002
II. Kammer

Präsident Schön, Bundesrichter Frésard und nebenamtlicher Richter Maeschi;
Gerichtsschreiber Grunder

Ausgleichskasse des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
Beschwerdeführerin,

gegen

H.________ Beschwerdegegnerin, vertreten durch Jürg Haussener, Flash AG,
Florastrasse 13, 8800 Thalwil

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 14. Mai 2002)

Sachverhalt:

A.
Der am 20. Dezember 1993 verstorbene S.________ war der Ausgleichskasse des
Kantons Aarau als Selbstständigerwerbender angeschlossen. Mit Verfügung vom
19. November 1996 erhob die Ausgleichskasse "zur Wahrung der
Verjährungsfrist" von der Witwe H.________ AHV/IV/EO-Beiträge auf einem
beitragspflichtigen Einkommen von Fr. 1'962'900.- für das Jahr 1991. Nachdem
das kantonale Steueramt mit Schreiben vom 7. November 2001 der
Ausgleichskasse ein Einkommen von Fr. 165'321.- für die Jahre 1991 und 1992
bei einem in den Betrieb investierten Eigenkapital von Fr. 286'768.-
(Stichtag 1. Januar 1993) gemeldet hatte, setzte die Ausgleichskasse mit zwei
Verfügungen vom 23. November 2001 die Beiträge für Dezember 1991 auf einem
pflichtigen Einkommen von Fr. 138'200.- und für das Jahr 1992 von Fr.
143'500.- fest.

B.
In Gutheissung der hiegegen eingereichten Beschwerde, mit welcher H.________
die Verjährung der Beitragsforderungen eingewendet hatte, hob das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 14. Mai 2002 die
beiden Verfügungen auf.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Ausgleichskasse sinngemäss,
der vorinstanzliche Entscheid sei insoweit aufzuheben, als damit die
Verfügung  vom 23. November 2001 betreffend die Beiträge für das Jahr 1991
aufgehoben worden ist.

H. ________ schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Da es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um die Bewilligung oder
Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht
Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b
sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

2.
2.1 Nach Art. 16 Abs. 1 AHVG können Beiträge, die nicht innert fünf Jahren
nach Ablauf des Kalenderjahres, für welches sie geschuldet sind, durch
Verfügung geltend gemacht werden, nicht mehr eingefordert oder entrichtet
werden (Satz 1). Wird eine Nachforderung aus einer strafbaren Handlung
hergeleitet, für welche das Strafrecht eine längere Verjährungsfrist
festsetzt, so ist diese Frist massgebend (Satz 3). Entgegen dem Wortlaut der
Bestimmung handelt es sich nach der Rechtsprechung um Verwirkungsfristen (BGE
117 V 208).

2.2 Art. 16 Abs. 1 Satz 2 AHVG in der bis Ende 1996 gültigen Fassung sah vor,
dass für Beiträge, die aufgrund einer Nachsteuerveranlagung festgesetzt
werden, die Frist mit dem Ablauf des Kalenderjahres beginnt, in welchem die
Nachsteuer rechtskräftig veranlagt wurde. Gemäss der seit 1. Januar 1997
geltenden Fassung (Gesetzesänderung vom 7. Oktober 1994, 10. AHV-Revision, AS
1996 2466 ff.) endet die Frist für Beiträge nach den Art. 6, 8 Abs. 1 und 10
Abs. 1 AHVG erst ein Jahr nach Ablauf des Kalenderjahres, in welchem die
massgebende Steuerveranlagung oder Nachsteuerveranlagung rechtskräftig wurde.
Nach Ziff. 1 lit. b Abs. 1 der Übergangsbestimmungen zur Gesetzesänderung vom
7. Oktober 1994 gilt das neue Recht nur für Beiträge, die bei Inkrafttreten
der Revision nicht schon verjährt waren. Für Beiträge, welche aufgrund einer
Nachsteuerveranlagung festgesetzt wurden, die vor Inkrafttreten der
Gesetzesänderung rechtskräftig wurde, endet die Frist von Art. 16 Abs. 1 Satz
2 AHVG spätestens ein Jahr nach Inkrafttreten (AS 1996 2484 f.).

3.
3.1 Im vorliegenden Fall ist unbestritten, dass die Beiträge für das Jahr 1992
nicht innert der Frist von Art. 16 Abs. 1 AHVG mit Veranlagungsverfügung
festgesetzt worden sind, weshalb die Forderung verwirkt ist. Streitig ist
hingegen, wie es sich hinsichtlich der für das Jahr 1991 geschuldeten
Beiträge verhält.

3.2 Mit Verfügung vom 19. November 1996 hat die Ausgleichskasse für das Jahr
1991 (Dezember) die Beiträge provisorisch auf einem beitragspflichtigen
maximalen Einkommen von Fr. 1'962'900.- erhoben. Bei diesem als
"Verjährungsverfügung" bezeichneten Verwaltungsakt handelt es sich um eine
Veranlagungsverfügung, welche geeignet war, die Verwirkung der
Beitragsforderung im Sinne von Art. 16 Abs. 1 AHVG zu verhindern (BGE 118 V
71; Käser, Unterstellung und Beitragswesen in der obligatorischen AHV, 2.
Aufl., Bern 1996, S. 315 Rz 14.95). Die Ausgleichskasse hat innert der Frist
von fünf Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, für welches die Beiträge
geschuldet waren, die Forderung geltend gemacht und damit den Eintritt der
Verwirkung im Sinne von Art. 16 Abs. 1 AHVG ein für allemal bis zur Höhe des
geforderten Betrages ausgeschlossen (SZS 2002 S. 180 ff.; ZAK 1992 S. 315
Erw. 4a, 1983 S. 387 Erw. 4c). Daran hat die Gesetzesnovelle vom 7. Oktober
1994 (10. AHV-Revision) nichts geändert. Der neu gefasste Art. 16 Abs. 1 Satz
2 AHVG statuiert eine Verlängerung der Verwirkungsfrist in Fällen, wo bei
Ablauf der fünfjährigen Frist noch keine rechtskräftige Steuerveranlagung
vorliegt (vgl. Botschaft über die 10. AHV-Revision vom 5. März 1990, BBl 1990
II 83 f.). Damit sind die Ausgleichskassen nicht mehr gezwungen, zur
Vermeidung der Verwirkungsfolgen innert Frist eine Veranlagungsverfügung zu
erlassen, bevor das steuerbare Einkommen  rechtskräftig festgesetzt worden
ist. Das neue Recht ändert nichts daran, dass die nach der bisherigen
Gesetzeslage innert Frist geltend gemachten Beitragsforderungen von der
Verwirkung ausgeschlossen bleiben. Etwas anderes lässt sich entgegen der
Auffassung des kantonalen Gerichts auch aus Ziffer 1 lit. b Abs. 1 Satz 2 der
Übergangsbestimmung zur Gesetzesänderung vom 7. Oktober 1994 nicht ableiten,
wonach für Beiträge, welche auf Grund einer Nachsteuerveranlagung festgesetzt
werden, die vor Inkrafttreten der Gesetzesänderung rechtskräftig wurde, die
Frist von Art. 16 Abs. 1 Satz 2 AHVG spätestens ein Jahr nach Inkrafttreten
endet. Diese Bestimmung findet nur auf die in diesem Zeitpunkt noch nicht
festgelegten, nicht aber auf Beiträge Anwendung, die nach dem früheren Recht
rechtzeitig mittels Veranlagungsverfügung geltend gemacht wurden. Dass die
Beiträge in casu nicht gemäss Art. 16 Abs. 1 Satz 2 AHVG in der seit 1.
Januar 1997 gültigen Fassung bis zum Ende des Kalenderjahres, das auf die am
10. Oktober 1999 rechtskräftig gewordene Steuerveranlagung (d.h. am 31.
Dezember 2000), sondern erst nach Erhalt der Steuermeldung vom 7. November
2001 mit Verfügung erhoben wurden, schadet der Ausgleichskasse daher nicht.
Soweit die Vorinstanz zu einem anderen Schluss gelangt, verstösst der
Entscheid gegen Bundesrecht und ist aufzuheben.

4.
Da es nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen
geht, ist das Verfahren kostenpflichtig (Art. 134 OG e contrario). Die
Gerichtskosten sind gemäss Art. 156 Abs. 1 OG von der unterliegenden
Beschwerdegegnerin zu tragen.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 14. Mai 2002 insoweit
aufgehoben, als damit die Verfügung der Ausgleichskasse des Kantons Aargau
vom 23. November 2001 betreffend die Beiträge für das Jahr 1991 aufgehoben
wurde.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 1'200.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Der geleistete Kostenvorschuss von Fr. 1'200.- wird der Beschwerdeführerin
zurückerstattet.

4.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wird über eine
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 30. Oktober 2002
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: