Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 139/2002
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H 139/02

Urteil vom 22. November 2002
III. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Meyer und Kernen; Gerichtsschreiberin
Helfenstein Franke

Ausgleichskasse Luzern, Würzenbachstrasse 8, 6006 Luzern, Beschwerdeführerin,

gegen

S.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Peter Germann,
Luzernerstrasse 51A, 6010 Kriens

Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Luzern

(Entscheid vom 22. April 2002)

Sachverhalt:

A.
S. ________ war seit der Gründung im Juni 1991 einziges
Verwaltungsratsmitglied mit Einzelunterschrift der Firma M.________ AG,
welche bei der Ausgleichskasse Luzern (nachfolgend: Ausgleichskasse) als
beitragspflichtige Arbeitgeberin angeschlossen war. Am 25. April 1995 wurde
über die Gesellschaft der Konkurs eröffnet und am 3. Dezember 1999 der
Kollokationsplan aufgelegt. Mit Verfügung vom 19. April 2000 verpflichtete
die Ausgleichskasse S.________ zur Bezahlung von Schadenersatz gemäss Art. 52
AHVG für entgangene Sozialversicherungsbeiträge (einschliesslich
Verwaltungskostenbeiträge, Verzugszinsen und Mahngebühren) im Betrag von Fr.
24'213.20.

B.
Die auf Einspruch von S.________ hin von der Ausgleichskasse gegen diesen
eingereichte Klage wies das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern mit
Entscheid vom 22. April 2001 ab, da der Schadenersatzanspruch verwirkt sei.

C.
Die Ausgleichskasse führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem
Rechtsbegehren, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und ihre
Schadenersatzverfügung zu bestätigen.

S. ________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen,
während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann nur so weit eingetreten
werden, als die Schadenersatzforderung kraft Bundesrechts streitig ist. Im
vorliegenden Verfahren ist deshalb auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde in
dem Umfang nicht einzutreten, als sie sich gegen die Schadenersatzforderung
für entgangene Beiträge an die kantonale Familienausgleichskasse richtet
(vgl. BGE 124 V 146 Erw. 1 mit Hinweis).

1.2 Da es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um die Bewilligung oder
Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht
Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b
sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

2.
Das kantonale Gericht hat in rechtlicher Hinsicht die gemäss der
Rechtsprechung ergangenen Grundsätze zum Lauf der einjährigen relativen
Verwirkungsfrist nach Art. 82 Abs. 1 AHVV zutreffend dargelegt (BGE 126 V
445, neuerdings BGE 128 V 10).

3.
Das kantonale Gericht hat als Grund der fristauslösenden zumutbaren
Schadenskenntnis das - von der klagenden Ausgleichskasse in Verletzung ihrer
prozessualen Mitwirkungspflicht dem Gericht zunächst vorenthaltene -
Schreiben des Konkursamtes Luzern-Land vom 30. November 1998 betrachtet.
Danach hatte das Konkursamt, auf Anfrage der Ausgleichskasse vom 24. November
1998 hin, geantwortet, der Kollokationsplan liege noch nicht vor und werde
voraussichtlich bis Anfang 1999 erstellt werden; über eine allfällige
Dividende für die Gläubiger könnten zur Zeit noch keine Angaben gemacht
werden.

Es mag zutreffen, wie die Ausgleichskasse in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde unter Berufung auf das Urteil B. vom 18. April
2002, H 189/01, einwendet, dass eine solche Mitteilung allein grundsätzlich
nicht geeignet ist, zumutbare Schadenskenntnis seitens der Ausgleichskasse zu
begründen. Es kommt jedoch auf die konkreten Umstände an. Diesbezüglich hat
das kantonale Gericht für das Eidgenössische Versicherungsgericht verbindlich
(Erw. 1.2 hievor) festgestellt, dass die Ausgleichskasse - im Januar 2000 mit
dem drohenden Ablauf der absoluten fünfjährigen Verwirkungsfrist seit
Eintritt des Schadens (Art. 82 Abs. 1 in fine AHVV) konfrontiert -  sowohl im
Schreiben vom 31. Januar 2000 als auch in der Schadenersatzverfügung aus eben
dieser Mitteilung der Konkursverwaltung, wonach über eine allfällige
Dividende für die Gläubiger noch keine Angaben gemacht werden könnten, den
Schluss gezogen hat, dass die von der Firma M.________ AG geschuldeten
Beiträge nicht mehr eingefordert werden können. Damit hat die Ausgleichskasse
selber diese Mitteilung als fristauslösend betrachtet, weil sie davon
ausgegangen ist, es würden für sie im seit langem hängigen Konkurs keine
Beiträge mehr erhältlich zu machen sein. Wenn die beschwerdeführende Kasse
einwendet, sie sei auf Grund der - angeblich - geringfügigen Anforderungen
der Begründungspflicht nicht gehalten gewesen, auf das Schreiben des
Konkursamtes vom 30. November 1998 Bezug zu nehmen, geht dieser Einwand an
der Sache vorbei. Es kommt nicht darauf an, welche Begründungselemente die
Ausgleichskasse in ihrem vororientierenden Schreiben vom 31. Januar 2000 und
in der Schadenersatzverfügung verwendet haben musste, sondern von welchen
Umständen sie effektiv ausgegangen ist. Das ist in Bezug auf die Kenntnis des
Schadens unbestreitbarerweise das Schreiben des Konkursamtes vom 30. November
1998, weshalb es bei der Feststellung der Vorinstanz, der Klageanspruch sei
in Anbetracht des erst am 19. April 2000 erfolgten Verfügungserlasses
verwirkt, sein Bewenden hat.

4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend gehen die Kosten zu Lasten der
unterliegenden Beschwerdeführerin (Art. 134 OG e contrario; Art. 156 Abs. 1
in Verbindung mit Art. 135 OG). Dem obsiegenden Beschwerdegegner steht zu
Lasten der Ausgleichskasse eine Parteientschädigung zu.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Die Gerichtskosten von total Fr. 1500.- werden der Beschwerdeführerin
auferlegt und mit dem geleisteten Kostenvorschusses verrechnet.

3.
Die Ausgleichskasse Luzern hat dem Beschwerdegegner für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von insgesamt
Fr. 2'500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Abgaberechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherung
zugestellt.

Luzern, 22. November 2002
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer:   Die Gerichtsschreiberin: