Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 123/2002
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H 123/02

Urteil vom 24. Februar 2003
III. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Lustenberger und Kernen; Gerichtsschreiber
Widmer

I.________, 1968, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Raphael
Kühne, Bahnhofplatz, 9500 Wil,

gegen

Ausgleichskasse der Schweizer Maschinenindustrie, Kirchenweg 4, 8008 Zürich,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen

(Entscheid vom 22. März 2002)

Sachverhalt:

A.
Die 1968 geborene I.________, Mutter der 1989 im ehemaligen Jugoslawien
geborenen und dort lebenden T.________, war seit 4. Februar 1994 mit
R.________ verheiratet. Am 1. Juli 1996 wurde ihre Tochter S.________
geboren. Auf Klage von R.________ wurde das zwischen ihm und S.________
bestehende Kindesverhältnis am 27. Februar 1997 gerichtlich aufgehoben. Am
21. Oktober 1996 reiste T.________ in die Schweiz ein, wo sie aufgrund einer
Aufenthaltsbewilligung bei ihrer Mutter lebt.

Nachdem die Ehegatten im August 1996 eine Trennungsvereinbarung geschlossen
hatten, verliess I.________ am 1. November 1996 mit ihren beiden Töchtern die
eheliche Wohnung. Am 18. Dezember 1998 starb R.________ an den Folgen eines
Krebsleidens.

Mit Verfügung vom 5. September 2001 lehnte die Ausgleichskasse der Schweizer
Maschinenindustrie das Gesuch von I.________ um Zusprechung von Waisenrenten
für die beiden Töchter T.________ und S.________ ab, weil diese nicht in
Hausgemeinschaft mit dem verstorbenen R.________ gelebt hätten; ein
eigentliches Pflegeverhältnis zwischen diesem und den beiden Töchtern von
I.________ habe daher nicht bestanden.

B.
Die von I.________ hiegegen eingereichte Beschwerde wies das
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 22. März 2002
ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt I.________ beantragen, unter
Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides und der Kassenverfügung sei ihren
Töchtern T.________ und S.________ ab 1. Januar 1999 eine Waisenrente
zuzusprechen.

Während die Ausgleichskasse auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) auf eine
Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Kinder, deren Vater oder Mutter gestorben ist, haben gemäss Art. 25 Abs. 1
AHVG Anspruch auf eine Waisenrente. Nach Art. 25 Abs. 3 AHVG regelt der
Bundesrat den Anspruch der Pflegekinder auf Waisenrente. Laut dem vom
Bundesrat gestützt auf diese Delegationsnorm erlassenen Art. 49 Abs. 1 AHVV
haben Pflegekinder beim Tod der Pflegeeltern Anspruch auf eine Waisenrente
nach Art. 25 AHVG, wenn sie unentgeltlich zu dauernder Pflege und Erziehung
aufgenommen worden sind. Das Stiefkind, das im Haushalt des Stiefvaters oder
der Stiefmutter lebt, ist einem Pflegekind gleichgestellt, wenn der
Stiefelternteil unentgeltlich für seinen Unterhalt aufgekommen ist (Hegnauer,
Berner Kommentar, N 70 zu Art. 278 ZGB; vgl. auch BGE 97 V 117). Wie es sich
bei nicht gemeinsamen, während der Ehe gezeugten Kindern verhält, für welche
die Beistandspflicht des Stiefelternteils nach Art. 278 Abs. 2 ZGB nicht gilt
(Hegnauer, a.a.O., N 55 zu Art. 278 ZGB), kann im Hinblick auf die
nachfolgenden Erwägungen offen bleiben.

2.
Pflegekindschaft im weiten Sinne liegt vor, wenn ein Unmündiger in der Obhut
von Personen lebt, die nicht seine Eltern sind. Sie ist kein selbstständiges
Rechtsinstitut, sondern ein faktisches Familienverhältnis, dem das Recht
einzelne Wirkungen des Kindesverhältnisses beilegt (Hegnauer, Grundriss des
Kindesrechts, 5. Aufl., Bern 1999, S. 76 N 10.04). Nach der Rechtsprechung zu
Art. 49 AHVV gilt als Pflegekind im Sinne dieser Bestimmung ein Kind, das
sich in der Pflegefamilie tatsächlich der Lage eines ehelichen Kindes erfreut
und dessen Pflegeeltern die Verantwortung für Unterhalt und Erziehung wie
gegenüber einem eigenen Kind wahrnehmen. Das sozialversicherungsrechtlich
wesentliche Element des Pflegekindverhältnisses liegt in der tatsächlichen
Übertragung der Lasten und Aufgaben auf die Pflegeeltern, die gewöhnlich den
leiblichen Eltern zufallen; auf den Grund dieser Übertragung kommt es nicht
an. Welche Aufgaben und Verpflichtungen den Pflegeeltern, namentlich in
finanzieller Hinsicht, zufallen, lässt sich nicht allgemein sagen, sondern
hängt vielmehr von der gesamten Ausgestaltung des fraglichen Verhältnisses ab
(ZAK 1992 S. 124 Erw. 3b mit Hinweisen). Die Pflegekindschaft erscheint in
zahlreichen Formen, die sich in Zweck, Dauer, Beschaffenheit der aufnehmenden
Stelle (Familie, Heim, Anstalt), in der finanziellen Ausgestaltung und den
rechtlichen Grundlagen (freiwillige
Unterbringung, behördliche Anordnung) unterscheiden (Hegnauer, Grundriss des
Kindesrechts, S. 76 N 10.05).
Nach der Verwaltungspraxis setzt der Waisenrentenanspruch voraus, dass
zwischen Pflegekind und Pflegeelternteil ein eigentliches Pflegeverhältnis
bestanden hat. Das Kind muss zu Pflege und Erziehung und nicht zur
Arbeitsleistung oder zur beruflichen Ausbildung in die Hausgemeinschaft der
Pflegeeltern aufgenommen worden sein (Rz 3208 der ab 1. Januar 2002 gültigen
Wegleitung des BSV über die Renten, RWL). Das Pflegeverhältnis muss ferner
auf Dauer begründet worden sein, wobei nicht erforderlich ist, dass es vor
dem Rentenfall schon bestimmte Zeit gedauert hat (Rz 3215 f. RWL).

3.
Zwischen dem verstorbenen R.________ und den beiden Töchtern seiner Ehefrau,
der heutigen Beschwerdeführerin, lag kein Pflegeverhältnis im Sinne des
Gesetzes und der dargestellten Grundsätze vor. Bereits am 1. November 1996
wurde die erst seit kurzer Zeit (vier Monate bzw. zehn Tage) bestehende
Hausgemeinschaft zwischen R.________ und den beiden Töchtern beendet, indem
die Beschwerdeführerin mit ihren Kindern die eheliche Wohnung verliess. Bis
zum Tod von R.________ am 18. Dezember 1998 wurde kein gemeinsamer Wohnsitz
mehr begründet. Es kann auch nicht davon gesprochen werden, dass der
verstorbene R.________ für den Unterhalt der Kinder T.________ und S.________
aufgekommen ist und die Mitverantwortung für deren Erziehung getragen hat,
wie dies für die Annahme eines Pflegeverhältnisses aus
sozialversicherungsrechtlicher Sicht vorausgesetzt wird. Ausgleichskasse und
Vorinstanz haben den Anspruch auf Waisenrenten für die beiden Töchter der
Versicherten somit zu Recht verneint, woran die in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhobenen Einwendungen nichts zu ändern
vermögen. Ob der Verstorbene nach der Auflösung des gemeinsamen Haushalts die
Kinder gelegentlich betreute und ob gemeinsam Mahlzeiten eingenommen wurden,
ist nicht entscheidend, da jedenfalls keine Hausgemeinschaft mehr vorlag.
Sodann ist nicht die damalige Absicht der Eheleute I.________ und R.________,
zu einem späteren Zeitpunkt, nach der Überwindung der Alkoholkrankheit von
R.________, die eheliche Gemeinschaft wieder aufzunehmen, massgebend, sondern
die tatsächliche Situation nach Aufgabe des gemeinsamen ehelichen Domizils.
Schliesslich fällt auch die Tatsache, dass die Beschwerdeführerin ihrem
Ehemann während dessen Krankheit beigestanden hat, nicht ausschlaggebend ins
Gewicht, da dies die Beziehung zwischen den Eheleuten, nicht aber das hier
interessierende Verhältnis des Verstorbenen zu den Töchtern der
Beschwerdeführerin, betrifft. Aus dem Umstand, dass die Eheleute I.________
und R.________ offenbar auch nach der faktischen Trennung einander den
gesetzlich geschuldeten Beistand leisteten (Art. 159 Abs. 3 ZGB), kann nicht
auf das Vorliegen eines Pflegeverhältnisses zwischen R.________ und den
beiden Töchtern geschlossen werden.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 24. Februar 2003

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: