Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 120/2002
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H 120/02

Urteil vom 19. November 2004

I. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Meyer,
Lustenberger und nebenamtlicher Richter Walser; Gerichtsschreiberin
Fleischanderl

Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

S.________, 1945, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Fürsprecher Daniel
Künzler, Marktgasse 16, 3800 Interlaken,

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 7. März 2002)

Sachverhalt:

A.
Auf Gesuch seiner Ehefrau wurde der 1946 geborene X.________ am 31. Dezember
1999 durch den Gerichtspräsidenten 1 des Gerichtskreises Y.________ mit
Rechtswirkung ab 12. Januar 1984 als verschollen erklärt. Am 25. Februar 2000
stellte S.________ zuhanden der AHV-Ausgleichskasse Z.________ ein Gesuch um
Ausrichtung von Witwen- und Waisenrenten für sich und die drei 1975, 1976 und
1980 geborenen Kinder. Nachdem der Rechtsvertreter von S.________ der - für
den Fall zuständigen - AHV-Ausgleichskasse GastroSuisse Aarau am 17. Januar
2001 mitgeteilt hatte, der für verschollen Erklärte sei im Dezember 2000 bei
W.________, der Patin eines der Kinder der Eheleute S.________, aufgetaucht,
wies die Ausgleichskasse das Leistungsgesuch mit Verfügung vom 22. März 2001
ab.

B.
Gegen diese Verfügung liess S.________ Beschwerde führen mit dem Antrag, in
Aufhebung der angefochtenen Verfügung seien die beantragten
Hinterlassenenrenten zuzusprechen. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
tätigte verschiedene Abklärungen und ersuchte dabei auch das Bundesamt für
Sozialversicherung (BSV), im Rahmen der Rechtshilfe gemäss dem
Sozialversicherungsabkommen mit der Bundesrepublik Deutschland mit den
deutschen Sozialversicherungsbehörden abzuklären, ob der verschollen Erklärte
nach dem 11. Januar 1984 bei den Durchführungsorganen der deutschen
Sozialversicherungen in irgendeiner Weise in Erscheinung getreten sei. Mit
Schreiben vom 15. Januar 2002 teilte das BSV dem Gericht mit, dass die
Abklärungen bei den zuständigen deutschen Stellen ergeben hätten, dass der
Ehegatte in K.________ wohne, und legte eine entsprechende Meldebestätigung
vom 2. Januar 2002 bei. Mit Entscheid vom 7. März 2002 hiess das
Verwaltungsgericht die Beschwerde gut und hob die Verfügung vom 22. März 2001
auf, im Wesentlichen mit der Begründung, dass eine vom zuständigen kantonalen
Gericht ausgesprochene Verschollenerklärung rechtsprechungsgemäss bis zu
ihrer, wiederum nur durch das zuständige kantonale Gericht möglichen
Umstossung für das Sozialversicherungsgericht verbindlich sei. Gleichzeitig
wies es die Ausgleichskasse darauf hin, dass eine Verschollenerklärung im
Lichte von Art. 42 ZGB nicht von Amtes wegen widerrufen werden könne und dass
diese ein entsprechendes Verfahren in die Wege leiten müsste.

C.
Das BSV führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt die Aufhebung des
vorinstanzlichen Entscheids.

Während das kantonale Gericht und die Ausgleichskasse auf eine Stellungnahme
verzichten, wobei Letztere sich den Ausführungen des BSV anschliesst, lässt
S.________ die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragen.
Gleichzeitig ersucht sie um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung.

D.
Auf Antrag der Ausgleichskasse stiess der Gerichtspräsident 1 des
Gerichtskreises I.________ mit Entscheid vom 23. August 2002 die
Verschollenerklärung betreffend ihres Ehemannes um und ordnete an, dass das
Zivilstandsregister entsprechend zu berichtigen sei.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2002 samt seinen
Ausführungsverordnungen in Kraft getreten. Mit ihm sind auch zahlreiche
Bestimmungen im AHV-Recht geändert worden. Weil in zeitlicher Hinsicht
grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung
des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw.
1), und weil ferner das Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines
Falles prinzipiell auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen
Verfügung (hier: vom 22. März 2001) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE
129 V 4 Erw. 1.2, 169 Erw. 1, 356 Erw. 1, je mit Hinweisen) - zumal
vorliegend Hinterlassenenleistungen ohnehin nur bis längstens zur Aufhebung
der Verschollenerklärung am 23. August 2002 zugesprochen werden könnten -,
finden im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden
Bestimmungen Anwendung.

2.
Unbestrittenermassen wurde der Ehemann der Beschwerdegegnerin am 31. Dezember
1999 mit Rechtswirkung ab 12. Januar 1984 rechtsgültig für verschollen
erklärt. Es steht sodann ebenfalls fest, dass die Verschollenerklärung am 23.
August 2002 umgestossen und damit widerrufen worden ist. Zu prüfen bleibt, ob
der Beschwerdegegnerin und deren Kindern trotz Widerrufs der
Verschollenerklärung Hinterlassenenleistungen der AHV zustehen. Dies hat das
kantonale Gericht zwar nicht im Rahmen seines Entscheiddispositivs, so aber
doch - wie namentlich den Erwägungen zu entnehmen ist - sinngemäss durch die
vollumfängliche Gutheissung der vorinstanzlichen Beschwerde bejaht, mit
welcher die Aufhebung der Verfügung vom 22. März 2001 sowie die Zusprechung
der mit Anmeldung vom 25. Februar 2000 beanspruchten Hinterlassenenleistungen
beantragt worden war.

3.
3.1 Die Vorinstanz stützt sich zur Begründung ihres Entscheids im Wesentlichen
auf die Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts (BGE 110 V
248; RKUV 2000 Nr. 388 S. 296). Dieses hat in BGE 110 V 250 ff. Erw. 2
insbesondere festgehalten, dass die Verschollenerklärung ihre Wirkung
entfaltet, bis der Nachweis erbracht werden kann, dass der Vermisste noch
lebt. Im Interesse der Rechtssicherheit habe die Aufhebung der
Verschollenerklärung durch das Gericht zu erfolgen, womit jenen
Unsicherheiten begegnet werde, mit denen neue Anhaltspunkte über das
Schicksal des Vermissten behaftet seien. Bis alle Zweifel über die Identität
ausgeräumt seien, habe das Gericht unter Umständen eingehende Abklärungen zu
treffen, weshalb auch in zeitlicher Hinsicht auf dessen Entscheid abzustellen
sei. Für den Zeitraum der rechtsgültigen Verschollenerklärung träten mithin
die daran geknüpften Rechtsfolgen ein, sodass Witwen- und Waisenrenten bis
zur richterlichen Aufhebung der Verschollenerklärung auszurichten seien.
Zudem liesse sich eine rückwirkende Aufhebung der Rentenleistungen mit dem
Ziel der Sozialversicherung nicht vereinbaren, wonach die Renten der AHV und
IV die Deckung des Existenzbedarfs bezweckten sowie für den Unterhalt und bei
Jugendlichen zusätzlich für deren Erziehung bestimmt seien.

3.2 Das Urteil BGE 110 V 248 betraf einen Fall, in welchem eine Witwe auf
Grund der Verschollenerklärung ihres Ehemanns bereits einige Zeit eine
Witwenrente der AHV bezogen hatte, als die Ausgleichskasse erfuhr, dass der
Ehemann noch lebte und sich im Ausland aufhielt. Der Prozess beschränkte sich
somit zur Hauptsache auf die Frage, ob der Widerruf der Verschollenerklärung
rückwirkend (ex tunc) Wirkung entfalte, mit der Folge, dass die Ehefrau zu
Unrecht Witwenrentenleistungen bezogen hätte und diese zurückzuerstatten
gewesen wären. Dies wurde mit der zuvor dargelegten Begründung verneint. Im
vorliegenden Verfahren stellt sich die Situation insofern anders dar, als die
Beschwerdegegnerin und ihre Kinder bis zum Widerruf der Verschollenerklärung
noch gar keine Hinterlassenenleistungen bezogen haben, ja solche noch gar
nicht zugesprochen worden waren. Zu prüfen ist daher, ob die in BGE 110 V 248
entwickelten Grundsätze auch bei einer Konstellation wie der hier zu
beurteilenden zur Anwendung gelangen sollen oder ob sich eine andere
Betrachtungsweise aufdrängt.

4.
4.1 Das Eidgenössische Versicherungsgericht stützte sich in BGE 110 V 248 im
Wesentlichen auf zwei Argumente. Eine erste, eher formelle Erwägung
berücksichtigte die Kompetenz- und Verfahrensregelung, wie sie Art. 35 - 38
sowie 42 ZGB für die Verschollenerklärung und deren Widerruf vorsehen und in
welche das Sozialversicherungsgericht nicht eingreifen soll und kann. Ein
zweites, mehr den materiellen Aspekt betonendes Argument beruft sich auf den
Zweck der Sozialversicherung, wonach mit den Rentenleistungen die Deckung des
Existenzbedarfs beabsichtigt wird.

4.2
4.2.1Das erste Begründungselement behält auch in der hier zu beurteilenden
Konstellation seine Gültigkeit. Würden der Beschwerdegegnerin und deren
Kindern Hinterlassenenleistungen während der Zeit der rechtsgültig
festgestellten Verschollenheit des Ehemanns verweigert, bedeutete dies
faktisch nichts anderes, als dass die Organe der AHV sowie die anschliessend
angerufenen Sozialversicherungsgerichte unabhängig und ohne Rücksicht auf die
im ZGB (und den darauf gestützten kantonalen Prozessordnungen) enthaltene
Verfahrensregelung selbstständig über Bestand, Dauer und Wirkungen einer
Verschollenerklärung befinden könnten. Dabei würde namentlich missachtet,
dass gemäss Art. 42 ZGB ausdrücklich der dafür zuständige Richter oder die
dafür zuständige Richterin eine Verschollenerklärung und damit auch deren
Wirkungen widerrufen kann. Die in den Art. 35 - 38 und 42 ZGB statuierte
Verfahrensordnung würde damit beiseite geschoben.

4.2.2 Dem zweiten, eher materiellen Argument der Existenzsicherung ist unter
den hier zu prüfenden Umständen zwar vergleichsweise weniger Gewicht
beizumessen, es darf aber ebenfalls nicht ganz ausser Acht gelassen werden.
Denn auch eine Rentennachzahlung kann durchaus dazu beisteuern, den nötigen
Existenzbedarf und die für die Kinder erforderlichen Ausbildungskosten besser
abzusichern. Die Beschwerdegegnerin befindet sich offenkundig in sehr
prekären wirtschaftlichen Verhältnissen, sodass Rentennachzahlungen einen
substantiellen Beitrag zur Bestreitung notwendiger Lebenshaltungskosten
leisten können.

4.3 Es besteht folglich kein Anlass, von der mit BGE 110 V 248 bestätigten
Rechtsprechung abzugehen, wenn nicht die Rückforderung von bereits
ausgerichteten Rentenleistungen, sondern deren Nachzahlung im Streite liegt.
Es wird dabei nicht verkannt, dass dieses Resultat unter den gegebenen
Umständen nicht voll zu befriedigen vermag. Der Standpunkt des Beschwerde
führenden BSV weckt insofern Verständnis, als es stossend erscheinen mag,
Hinterlassenenleistungen auszurichten, obwohl im Zeitpunkt von deren
Festsetzung bekannt ist, dass die als verschollen erklärte Person noch lebt.
Nach Lehre und Rechtsprechung besteht die Wirkung einer Verschollenerklärung
insbesondere darin, eine Beweislastumkehr herbeizuführen. Diejenigen, die aus
dem Tod des Verschollenen Rechte ableiten, sind vom Beweis seines Todes
entbunden und können die Rechte geltend machen, wie wenn der Tod bewiesen
wäre (BGE 110 V 250 Erw. 2a mit Hinweisen; RKUV 2000 Nr. U 388 S. 297 Erw. 2a
mit Hinweis). Daraus könnte auch geschlossen werden, dass im Falle der
Geltendmachung eines solchen Rechts, wie beispielsweise des Anspruchs auf
eine Hinterlassenenrente, der ins Recht Gefasste - hier die Ausgleichskasse -
den Gegenbeweis führen kann, dass der Verschollene noch lebt. Würde dieser
Beweis gelingen, müsste der aus dem Tod der angeblich verschollenen Person
abgeleitete Leistungsanspruch verneint werden. So einleuchtend ein solches
Konzept auf den ersten Blick erscheint, ist nicht zu verkennen, dass damit
die sich aus Art. 35 - 38 und Art. 42 ZGB ergebende Verfahrensordnung
weitgehend ausser Kraft gesetzt würde. Das ZGB verlangt für die
Verschollenerklärung und deren Widerruf ein formelles Verfahren beim
zuständigen Zivilgericht und will damit vermeiden, dass andere Behörden und
Gerichtsinstanzen darüber entscheiden, ob die auf der Verschollenerklärung
beruhende Vermutung des Todes der verschollenen Person zu Recht besteht und -
gegebenenfalls - bis zu welchem Zeitpunkt. Es dürfte der Rechtssicherheit
nicht dienlich sein, wenn nicht ausdrücklich dafür vorgesehene Stellen eine
Verschollenerklärung faktisch aufzuheben vermöchten, obwohl Art. 42 ZGB diese
Aufgabe klar einer einzigen dafür zuständigen richterlichen Instanz
zugeordnet hat. An diese Regelung haben sich trotz damit verbundener Härten
auch die Sozialversicherungsorgane und -gerichte zu halten (vgl. auch RKUV
2000 Nr. U 388 S. 297 f. Erw. 2c mit Hinweis).

5.
Das BSV setzt schliesslich einige Fragezeichen zum Vorgehen des
Gerichtspräsidenten 1 des Gerichtskreises I.________ im seinerzeitigen
Verfahren der Verschollenerklärung. Für das Sozialversicherungsgericht muss
es jedoch - ohne Prüfung der näheren Umstände - mit der Feststellung sein
Bewenden haben, dass der Ehemann der Beschwerdegegnerin im betreffenden
Verfahren rechtsgültig als verschollen erklärt worden ist. Es liegt aus den
bereits zuvor genannten Gründen nicht in der Kompetenz des
Sozialversicherungsgerichts, diesen Entscheid mit dem Hinweis auf eine
mangelhafte Vorgehensweise zu missachten und damit nachträglich ausser Kraft
zu setzen, und zwar auch dann nicht, wenn die Kritik als berechtigt
erscheinen mag.

6.
6.1 Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist somit in dem Sinne abzuweisen, als
der Anspruch der Beschwerdegegnerin auf Hinterlassenenleistungen - wie
bereits im vorinstanzlichen Entscheid erwägungsweise erkannt wurde (vgl. Erw.
2 in fine hievor) - grundsätzlich zu bejahen und die Sache zwecks Festlegung
der Leistungen an die Ausgleichskasse zurückzuweisen ist.

6.2 Dem Ausgang des Prozesses entsprechend hat die Beschwerdegegnerin
Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 1 und 2 in Verbindung
mit Art. 135 OG). Das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung ist damit
gegenstandslos.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird im Sinne der Erwägungen abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Das Bundesamt für Sozialversicherung wird verpflichtet, der
Beschwerdegegnerin eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und der Ausgleichskasse
GastroSuisse, Aarau, zugestellt.

Luzern, 19. November 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der I. Kammer:   Die Gerichtsschreiberin: