Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen B 81/2002
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B 81/02

Urteil vom 9. Januar 2004
II. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Meyer und Lustenberger; Gerichtsschreiber
Widmer

Progressa Sammelstiftung BVG der Genfer
Lebensversicherungs-Gesellschaft, Avenue Eugène Pittard 16, 1206 Genève,
Beschwerdeführerin,

gegen

M.________, 1956, Beschwerdegegner, vertreten
durch Rechtsanwalt Robert Baumann, Brühlgasse 39, 9000 St. Gallen

Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau, Weinfelden

(Entscheid vom 10. Juli 2002)

Sachverhalt:

A.
Der 1956 geborene M.________ arbeitete seit 1. Juni 1991 als Schlosser bei
der Firma X.________ AG und war für die berufliche Vorsorge bei der Progressa
BVG-Sammelstiftung der Genfer Lebensversicherungs-Gesellschaft (im Folgenden:
Progressa) versichert. Am 28. Oktober 1993 beendete die Arbeitgeberin das
Anstellungsverhältnis unter sofortiger Freistellung des Versicherten auf Ende
Dezember 1993. In der Folge bezog M.________ Taggelder der
Arbeitslosenversicherung. Am 8. Juni 1995 meldete er sich unter Hinweis auf
verschiedene Beschwerden bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug und
am 23. Dezember 1996 zum Rentenbezug an. Gestützt auf die beigezogenen
Unterlagen, worunter ein Gutachten der Medizinischen Abklärungsstelle
(MEDAS), vom 16. Juni 1998 gelangte die IV-Stelle des Kantons Thurgau zum
Schluss, dass M.________ nach Ablauf der einjährigen Wartezeit ab 29.
November 1996 bei einem Invaliditätsgrad von 100 % Anspruch auf eine ganze
und ab 1. Juni 1998 bei einem Invaliditätsgrad von 50 % auf eine halbe
Invalidenrente habe. Demgemäss sprach sie dem Versicherten ab 1. November
1996 bis 31. Mai 1998 eine ganze und ab 1. Juni 1998 eine halbe
Invalidenrente zu (Verfügungen vom 31. März und 30. April 1999, bestätigt mit
Entscheid der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau vom 27. Oktober
1999).
Im Rahmen eines im Oktober 2000 eingeleiteten Revisionsverfahrens holte die
IV-Stelle einen Bericht des Dr. med. Q.________, Oberarzt und Therapeutischer
Leiter des Psychiatrischen Dienstes Y.________ (vom 29. Januar 2001) ein und
veranlasste eine erneute Begutachtung des Versicherten in der MEDAS
(Expertise vom 13. Februar 2002). Sie kam zur Auffassung, dass der
Versicherte ab 1. Oktober 2000 wiederum eine ganze Invalidenrente
beanspruchen könne.
Nachdem M.________ am 26. April 2002 ein Revisionsgesuch eingereicht hatte,
hob die kantonale AHV/IV-Rekurskommission ihren früheren Entscheid vom 27.
Oktober 1999 sowie die Verfügungen vom 31. März und 30. April 1999 auf,
stellte fest, dass M.________ auch in der Zeit nach dem 1. Juni 1998 Anspruch
auf eine ganze Invalidenrente habe und wies die Sache zur Vornahme weiterer
Abklärungen und zu neuer Verfügung über den Rentenbeginn an die IV-Stelle
zurück (Entscheid vom 9. August 2002).

B.
Am 3. Oktober 2000 liess M.________ beim Verwaltungsgericht des Kantons
Thurgau Klage einreichen und zur Hauptsache beantragen, die Progressa sei zu
verpflichten, ihm eine Invalidenrente aus der obligatorischen beruflichen
Vorsorge, nebst entsprechenden Kinderrenten, auszurichten. Das
Verwaltungsgericht gelangte zur Auffassung, dass M.________ seit 1993, als er
noch bei der Progressa versichert war, arbeitsunfähig sei und zwischen dieser
Arbeitsunfähigkeit und der später eingetretenen Invalidität ein enger
sachlicher und zeitlicher Zusammenhang bestehe. Dementsprechend stellte es
mit Entscheid vom 10. Juli 2002 in Gutheissung der Klage fest, dass die
Progressa gegenüber dem Versicherten aus der obligatorischen beruflichen
Vorsorge leistungspflichtig sei und verpflichtete die Vorsorgeeinrichtung,
M.________ eine dem Invaliditätsgrad entsprechende Invalidenrente nebst
Kinderrenten ab dem Zeitpunkt auszurichten, wie er im massgebenden Entscheid
der Invalidenversicherung festgelegt werde. Überdies verpflichtete das
Gericht die Progressa, die Rückführung des Freizügigkeitsguthabens bei der
Freizügigkeitsstiftung der Bank Z.________ an sie selbst zu veranlassen.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Progressa, der
vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und die Klage abzuweisen. Eventuell
sei die Sache zu neuer Entscheidung über den Anspruch auf Invalidenleistungen
der beruflichen Vorsorge an das kantonale Gericht zurückzuweisen.
M.________ lässt zur Hauptsache auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen, soweit darauf einzutreten sei. In
verfahrensrechtlicher Hinsicht ersucht er um Sistierung des Prozesses bis zur
rechtskräftigen Erledigung des Verfahrens der Invalidenversicherung. Das
Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) lässt sich vernehmen, ohne einen
Antrag zu stellen, während das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau sich in
ablehnendem Sinne zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde äussert.

D.
Mit Verfügung vom 22. Januar 2003 sistierte der Instruktionsrichter das
Beschwerdeverfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht bis zum
Vorliegen des rechtskräftigen Entscheids der Invalidenversicherung über den
Rentenanspruch von M.________.
Am 10. März 2003 liess der Versicherte die Verfügung der IV-Stelle des
Kantons Thurgau vom 31. Januar 2003 einreichen, laut welcher ihm rückwirkend
ab 1. Oktober 1994 bei einem Invaliditätsgrad von 100 % eine ganze Rente der
Invalidenversicherung zugesprochen worden war, worauf die Sistierung des
verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahrens am 18. März 2003 aufgehoben und
der Progressa Gelegenheit eingeräumt wurde, zum Schreiben des
Rechtsvertreters von M.________ Stellung zu nehmen. Hievon machte die
Progressa mit Eingabe vom 4. April 2003 Gebrauch.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Vorinstanz hat unter Hinweis auf Gesetz (Art. 23 BVG) und Rechtsprechung
(BGE 123 V 264 Erw. 1b, 120 V 160 Erw. 2b) zutreffend dargelegt, dass die
Vorsorgeeinrichtung, der ein Arbeitnehmer bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit
angeschlossen war, für die erst nach Beendigung des Vorsorgeverhältnisses
eingetretene Invalidität aufzukommen hat und leistungspflichtig wird, wenn
zwischen der Arbeitsunfähigkeit und der nachfolgenden Invalidität in
sachlicher und zeitlicher Hinsicht ein enger Zusammenhang besteht. Richtig
sind auch die Ausführungen zu den von der Rechtsprechung (BGE 123 V 265, 120
V 116 Erw. 2b) umschriebenen Voraussetzungen, unter denen in sachlicher und
zeitlicher Hinsicht ein enger Zusammenhang anzunehmen ist, sowie zum
Fortbestehen der Leistungspflicht der Vorsorgeeinrichtung, wenn sich der
Invaliditätsgrad des Versicherten nach Beendigung des Vorsorgeverhältnisses
ändert. Darauf kann verwiesen werden.

1.1 Nach der Rechtsprechung sind Vorsorgeeinrichtungen, die ausdrücklich oder
unter Hinweis auf das Gesetz vom gleichen Invaliditätsbegriff wie die
Invalidenversicherung ausgehen, an die Invaliditätsbemessung der IV-Stelle
gebunden, wenn diese sich nicht als offensichtlich unhaltbar erweist (BGE 126
V 310 Erw. 1 mit Hinweisen, 123 V 271 Erw. 2a). Eine Bindung an die
Invaliditätsbemessung der IV-Stelle entfällt indessen, wenn die
Rentenverfügung der Vorsorgeeinrichtung, welche beschwerdeberechtigt ist,
nicht eröffnet wurde (BGE 129 V 73).

1.2 Den Vorsorgeeinrichtungen ist es unbenommen, den Invaliditätsbegriff auch
im obligatorischen Bereich zu Gunsten der Versicherten zu erweitern (BGE 115
V 210 f. Erw. 2b). Dies ist hier der Fall. Nach Art. 15.1 der Allgemeinen
Versicherungsbedingungen (AVB) der Genfer Lebensversicherungs-Gesellschaft
liegt Erwerbsunfähigkeit vor, wenn der Versicherte durch ärztlichen Befund
objektiv nachweisbar ganz oder teilweise ausser Stande ist, seinen Beruf oder
eine andere Erwerbstätigkeit auszuüben, die seiner Lebensstellung, seinen
Kenntnissen und Fähigkeiten angemessen ist, oder wenn er im Sinne der
Invalidenversicherung invalid ist. Eine Erweiterung des Leistungsanspruchs
bringt sodann Art. 15.1 Abs. 4 AVB, wonach bereits eine Erwerbsunfähigkeit
von mindestens 25 % Anspruch auf Invalidenleistungen gibt.

1.3 Da die Vorsorgeeinrichtung teilweise von einem von der
Invalidenversicherung abweichenden Invaliditätsbegriff ausgeht und sie zudem
nicht in das Verfahren der Invalidenversicherung miteinbezogen wurde, ist
eine Bindung der Progressa an die Feststellungen der Invalidenversicherung,
insbesondere auch hinsichtlich des Eintritts der Arbeitsunfähigkeit, zu
verneinen. Der Invalidenrentenanspruch des Beschwerdegegners ist folglich
frei zu prüfen. Da auch der Invaliditätsbegriff nach den AVB der Genfer
Lebensversicherungs-Gesellschaft eine Arbeitsunfähigkeit, bezogen auf die
bisher ausgeübte Erwerbstätigkeit, voraussetzt, ist nachstehend zu prüfen, in
welchem Zeitpunkt eine erhebliche Einschränkung der Arbeitsfähigkeit
eingetreten ist, welche schliesslich zur Invalidität führte, deren Vorliegen
zu Recht von keiner Seite in Zweifel gezogen wird.

2.
Im ersten Gutachten der MEDAS vom 16. Juni 1998 wurde eine ausgeprägte
Somatisierungsstörung bei paranoid-querulatorischer Persönlichkeit
diagnostiziert. Die Arbeitsunfähigkeit schätzten die Ärzte auf 50 %, wobei
sich einzig die psychopathologischen Befunde limitierend auswirkten. Den
Beginn der Einschränkung in der Leistungsfähigkeit setzten die Experten auf
den 29. Mai 1998 fest und wiesen darauf hin, dass der Beschwerdegegner laut
hausärztlichem Attest seit 29. November 1995 voll arbeitsunfähig sei. Dem
zuhanden des Rechtsvertreters des Beschwerdegegners erstatteten Gutachten des
Dr. med. Q.________, Oberarzt des Psychiatrischen Dienstes Y.________, vom
10. Mai 2000 ist zu entnehmen, dass der Versicherte seit ca. 1993 voll
arbeitsunfähig sei. Unter Berufung auf Teile der Krankengeschichte, die der
MEDAS nicht zur Verfügung gestanden hätten, führt Dr. Q.________ im Einzelnen
aus, die Störung sei chronisch fluktuierend und mit einer lang dauernden
Störung des sozialen, interpersonalen und familiären Verhaltens verbunden.
Die Störungen führten beim Beschwerdegegner zu einem ausgeprägten
persönlichen Leiden. Bereits vor Beginn der Arbeitslosigkeit sei sein Leben
von Konflikten mit andern Menschen geprägt gewesen. Dies habe immer wieder
Stellenverluste zur Folge gehabt. Im Verlaufe der Entwicklung habe der
Krankheitswert zugenommen und wahrscheinlich ab 1993 eine Arbeitsunfähigkeit
bewirkt, die es verunmöglicht habe, den Versicherten wieder zu integrieren.
In ihrem zweiten Gutachten (vom 13. Februar 2002) schlossen sich die Experten
der MEDAS bezüglich des Beginns der Arbeitsunfähigkeit der Einschätzung des
Dr. Q.________ an. Unter Hinweis auf die vollständigen Akten des
Psychiatrischen Dienstes Y.________ sowie österreichische Gerichtsakten
hielten die Gutachter nunmehr fest, dass die Arbeitsfähigkeit deutlich
zurückgenommen werden müsse und seit 1993 aus psychiatrischer Sicht eine
volle Arbeitsunfähigkeit bestehe.

3.
Auf die übereinstimmenden Aussagen des Dr. Q.________ und der Ärzte im
zweiten Gutachten der MEDAS vom 13. Februar 2002 ist abzustellen. Entgegen
der Auffassung der Beschwerdeführerin spricht der Umstand, dass der
Versicherte während des Anstellungsverhältnisses bei der Firma X.________ AG
vom 1. Juni 1991 bis zur Freistellung am 28. Oktober 1993 nur wenige
krankheitsbedingte Absenzen zu verzeichnen hatte, nicht gegen die Annahme der
Psychiater, die Arbeitsunfähigkeit aus psychischen Gründen sei wahrscheinlich
bereits 1993 eingetreten. Denn es bestehen jedenfalls keine Anhaltspunkte
dafür, dass der Beschwerdegegner in den Monaten November und Dezember 1993
sowie im Januar 1994, während der gesetzlichen Nachdeckungsfrist von einem
Monat gemäss Art. 10 Abs. 3 BVG, noch voll leistungsfähig gewesen ist. Im
Übrigen setzt die Leistungspflicht der Progressa nicht voraus, dass der
Beschwerdegegner bereits während seiner Zugehörigkeit zur Vorsorgeeinrichtung
voll arbeitsunfähig gewesen ist. Vielmehr genügt es, dass im erwähnten
Zeitraum eine erhebliche Arbeitsunfähigkeit eingetreten ist, die in einem
engen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit der späteren Invalidität
steht. Dass es sich so verhalten hat, ist auf Grund der zitierten
fachärztlichen Stellungnahmen mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit
erstellt. Von der Anordnung eines zusätzlichen psychiatrischen Gutachtens ist
entgegen den Vorbringen der Progressa abzusehen, da von weiteren
Beweismassnahmen zum Eintritt der Arbeitsunfähigkeit schon mit Blick auf den
Zeitablauf keine neuen Erkenntnisse erwartet werden können, die zu einem
abweichenden Ergebnis zu führen vermöchten.

4.
Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass die Voraussetzungen für die
Leistungspflicht der Progressa erfüllt sind.
Im Dispositiv des angefochtenen Entscheides hat das kantonale Gericht den
Anspruch des Beschwerdegegners auf Invalidenleistungen gegenüber der
Progressa aus der obligatorischen beruflichen Vorsorge lediglich dem
Grundsatz nach festgestellt, die Rentenhöhe aber nicht ermittelt. Entgegen
den Einwendungen der Progressa und des BSV ist dieses Vorgehen nicht zu
beanstanden. In BGE 129 V 450 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht
erkannt, dass der Entscheid des kantonalen Berufsvorsorgegerichts, mit
welchem ein Leistungsanspruch entsprechend den Klagebegehren der versicherten
Person lediglich dem Grundsatz nach festgestellt, nicht aber betraglich
ermittelt wird, bundesrechtskonform ist.
Es wird der Progressa obliegen, die dem Versicherten zustehenden
Invalidenleistungen in masslicher Hinsicht zu bestimmen.

5.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Dem Prozessausgang entsprechend
hat die Progressa dem Beschwerdegegner eine Parteientschädigung zu bezahlen
(Art. 159 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Beschwerdeführerin hat dem Beschwerdegegner für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau,
als Versicherungsgericht, der IV-Stelle des Kantons Thurgau und dem Bundesamt
für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 9. Januar 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: