Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen B 52/2002
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B 52/02

Urteil vom 20. Dezember 2002
IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiberin
Keel Baumann

B.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno
Häfliger, Schwanenplatz 7, 6004 Luzern,

gegen

Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche
Abteilung, Hirschengraben 19, 6003 Luzern

(Verfügung vom 12. Juni 2002)

Sachverhalt:

A.
Im Februar 2002 erhob B.________ Klage gegen die Pensionskasse der Stadt
Luzern mit dem Antrag, diese habe ihr ab 1. September 1994 eine halbe und ab
1. April 1995 eine ganze Invalidenrente auszurichten; eventualiter habe ihr
die beizuladende RBA Vorsorge, REVOR Sammelstiftung 2. Säule, mit Wirkung ab
1. Januar 1995 eine ganze Invalidenrente auszurichten; auf den
Rentennachzahlungen sei ein Verzugszins zu bezahlen. Das von ihr gleichzeitig
gestellte Gesuch, es sei ihr die unentgeltliche Rechtspflege zu bewilligen
und Rechtsanwalt Dr. Bruno Häfliger als unentgeltlicher Rechtsbeistand
beizugeben, wies das angerufene Verwaltungsgericht des Kantons Luzern mangels
Bedürftigkeit mit Zwischenentscheid vom 12. Juni 2002 ab.

B.
B.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren,
der kantonale Entscheid sei aufzuheben und es sei ihr Rechtsanwalt Bruno
Häfliger als unentgeltlicher Rechtsbeistand für das kantonale Verfahren
beizugeben. Im Weitern stellt sie ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege
für den letztinstanzlichen Prozess.

Das Verwaltungsgericht, die Pensionskasse und das Bundesamt für
Sozialversicherung verzichten auf Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Der kantonale Entscheid über die (gänzliche oder teilweise) Verweigerung der
unentgeltlichen Rechtspflege gehört zu den Zwischenverfügungen, die einen
nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können. Er ist daher mittels
Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Eidgenössischen Versicherungsgericht
selbstständig anfechtbar (Art. 5 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 45 Abs. 1 und
2 lit. h VwVG sowie Art. 97 Abs. 1 und Art. 128 OG; BGE 100 V 62 Erw. 1, 98 V
115; SVR 1998 UV Nr. 11 S. 31 Erw. 4a, 1994 IV Nr. 29 S. 75 Erw. 1a).

2.
Da es im vorliegenden Verfahren nicht um die Bewilligung oder Verweigerung
von Versicherungsleistungen, sondern um eine rein prozessrechtliche Frage
geht, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob die
Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat, einschliessend Überschreitung oder
Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt
offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher
Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit
Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

3.
Nach der Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts gilt der
Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung als allgemein gültiger
Verfahrensgrundsatz in allen Zweigen der bundesrechtlichen Sozialversicherung
auch für das Beschwerdeverfahren auf kantonaler Ebene, woran das Fehlen einer
entsprechenden Bestimmung in einzelnen Sozialversicherungsgesetzen nichts
ändert (BGE 114 V 230, 103 V 46; SVR 1995 ALV Nr. 42 S. 119 Erw. 4a; Rüedi,
Allgemeine Rechtsgrundsätze des Sozialversicherungsprozesses, in: Recht,
Staat und Politik am Ende des zweiten Jahrtausends, Festschrift zum 60.
Ge-burtstag von Bundesrat Arnold Koller, Bern 1993, S. 469 f.; vgl. nunmehr
auch Art. 29 Abs. 3 BV). Das Recht auf unentgeltliche Verbeiständung ist
demnach auch im kantonalen Klageverfahren der beruflichen Vorsorge nach Art.
73 Abs. 2 BVG gewährleistet.

4.
Die Bedürftigkeit als eine der Voraussetzungen für die Gewährung der
unentgeltlichen Verbeiständung, wie sie Art. 108 Abs. 1 lit. f UVG und Art.
87 lit. f KVG zugrunde gelegt ist, ist gleich zu verstehen wie der Begriff
der Bedürftigkeit im Sinne von Art. 152 Abs. 1 OG (RKUV 2000 Nr. KV 119 S.
154, 1996 Nr. U 254 S. 208 Erw. 2; SVR 1998 UV Nr. 11 S. 31 Erw. 4b). In
gleicher Weise hat sich auch der Begriff der Bedürftigkeit im kantonalen
Klageverfahren der beruflichen Vorsorge - ebenso wie im kantonalen
Beschwerdeverfahren der Arbeitslosenversicherung gemäss Art. 103 Abs. 4 AVIG
(nicht veröffentlichtes Urteil E. vom 25. September 2000, C 62/00) - an der
Auslegung von Art. 152 Abs. 1 OG bzw. Art. 29 Abs. 3 BV zu orientieren. Als
bedürftig gilt danach eine Person, wenn sie die Kosten eines Prozesses nicht
aufzubringen vermag, ohne jene Mittel anzugreifen, derer sie zur Deckung des
notwendigen Lebensunterhaltes für sich und ihre Familie bedarf, wobei die
Einkommens- und die Vermögensverhältnisse in Betracht zu ziehen sind (BGE 127
I 205 Erw. 3b, 125 IV 164 Erw. 4a, 124 I 98 Erw. 3b) und das Einkommen beider
Ehegatten zu berücksichtigen ist (BGE 115 Ia 195 Erw. 3a, 108 Ia 10 Erw. 3;
RKUV 1996 Nr. U 254 S. 209 Erw. 2). Die Grenze für die Annahme von
Bedürftigkeit im Sinne der Regeln über die unentgeltliche Rechtspflege liegt
höher als diejenige des betreibungsrechtlichen Existenzminimums. Bei der
Prüfung der prozessualen Bedürftigkeit geht es um die Frage, ob und inwieweit
einer Partei zugemutet werden kann, zur Wahrung ihrer Interessen neue
Verpflichtungen einzugehen oder entsprechende Verfügungen treffen zu müssen.
Wohl dürfen von der gesuchstellenden Person gewisse Opfer verlangt werden;
sie soll aber nicht gezwungen werden, sich in eine Notlage zu begeben und die
für den Prozess notwendigen Mittel dadurch zu beschaffen, dass sie anderen
dringenden Verpflichtungen nicht nachkommt. Für die Annahme der prozessualen
Bedürftigkeit genügt es, dass die gesuchstellende Person nicht über mehr
Mittel verfügt, als zur Bestreitung eines normalen, bescheidenen
Familienunter-halts nötig sind. Dabei sind die gesamten finanziellen
Verhältnisse ausschlaggebend; zu berücksichtigen sind daher u.a. auch fällige
Steuerschulden (RKUV 2000 Nr. KV 119 S. 155 Erw. 2, 1996 Nr. U 254 S. 208
Erw. 2; vgl. auch BGE 124 I 2 Erw. 2a).

5.
5.1 Nach dem angefochtenen Entscheid stehen im Falle der Beschwerdeführerin
einem monatlichen Einkommen von Fr. 2‘588.-- Auslagen von Fr. 2‘555.75
gegenüber, woraus ein Überschuss von Fr. 32.25 resultiert. Als Vermögen wurde
der Versicherten der Betrag von Fr. 13'903.-- angerechnet, welcher sich
zusammensetzt aus einem Guthaben bei der Luzerner Kantonalbank von Fr.
2‘903.-- sowie einem (zum jeweiligen Hypothekarzinssatz verzinslichen)
Darlehen, das die Beschwerdeführerin ihrem Vater am 15. Januar 1988 gewährt
hat und welches sich (nach einer ersten Rückzahlung von Fr. 4‘000.-- Ende
2001) auf Fr. 11'000.-- beläuft. Die Berücksichtigung des Darlehens
begründete das kantonale Gericht damit, dass die Versicherte dieses gemäss
Art. 318 OR kündigen (eine abweichende Parteivereinbarung sei nicht geltend
gemacht worden) und über das Geld innert Kürze verfügen könnte, dies mit
Blick darauf, dass der Vater als Eigentümer ihrer Wohnung in der Lage wäre,
das Darlehen anderweitig zu finanzieren. Unter Hinweis auf LGVE 1999 I Nr. 28
gewährte die Vorinstanz der Beschwerdeführerin sodann einen
Vermögensfreibetrag (sog. Notgroschen) von Fr. 10'000.-- und gelangte zum
Ergebnis, dass der verbleibende Betrag von Fr. 3‘903.-- die Annahme
prozessualer Bedürftigkeit ausschliesse, weshalb die unentgeltliche
Verbeiständung zu verweigern sei.

5.2 Die Versicherte macht im Wesentlichen geltend, dass die Vorinstanz mit
der Gewährung eines Vermögensfreibetrages von nur gerade Fr. 10'000.-- die
kantonale Notgroschen-Praxis willkürlich angewandt habe und überdies zu
Unrecht davon ausgegangen sei, dass ihr eine sofortige Kündigung des
Darlehens zumutbar wäre. Wie es sich mit letzterem Einwand verhält, kann
offen gelassen werden, weil die Beschwerdeführerin - wie zu zeigen ist (Erw.
5.3 und 5.4 hienach) - selbst bei Anrechnung der Darlehensforderung von Fr.
11'000.-- als Vermögen bedürftig im Sinne der Regeln über die unentgeltliche
Rechtspflege ist.

5.3 Die Vorinstanz ging zwar zutreffend davon aus, dass allfälligem Vermögen
der gesuchstellenden Person unter Umständen - ganz oder teilweise - der
Charakter einer Notreserve zuzubilligen und mit Blick darauf die
Bedürftigkeit im Einzelfall trotz vorhandenen Vermögens zu bejahen ist. Indem
sie indessen mit Hinweis auf LGVE 1999 I Nr. 28 von einer unter diesem Titel
zu berücksichtigenden allgemein gültigen Pauschale von Fr. 10'000.-- ausging,
unterliess sie es, worauf die Beschwerdeführerin zutreffend hinweist, den
nach Rechtsprechung und Lehre bei der Festsetzung dieses sog. Notgroschens
massgebenden Verhältnissen des konkreten Falles, wie namentlich Alter und
Gesundheit, Rechnung zu tragen (Urteil B. vom 26. April 2001, H 41/01, Erw.
4c; nicht veröffentlichte Urteile C. vom 7. Oktober 1996, H 109/96, J. vom
11. Februar 1994, 5P.520/1993, und B. vom 17. Mai 1993, H 62/93; Alfred
Bühler, Die Prozessarmut, in: Gerichtskosten, Parteikosten, Prozesskaution,
unentgeltliche Prozessführung [und Modelle zur Beschränkung ihrer Kosten],
Bern 2001, S. 154 ff.). So wird denn auch in der von der Beschwerdeführerin
eingereichten, vom Luzerner Obergericht im September 1999 publizierten
Praxisübersicht zur unentgeltlichen Rechtspflege (2. Auflage) ausgeführt,
dass der Notgroschen für jüngere Personen im gleichen Haushalt Fr. 10'000.--
betrage und für ältere Personen ohne genügende Altersvorsorge erheblich höher
sein könne. In besonderen Fällen haben das Bundesgericht und das
Eidgenössische Versicherungsgericht bereits Vermögensfreibeträge von Fr.
20'000.-- und mehr zuerkannt (z.B. Fr. 19'600.-- bei einer 82 Jahre alten,
geschiedenen Gesuchstellerin mit einer nicht existenzsichernden AHV-Rente von
Fr. 1‘211.-- [Urteil D. vom 29. Mai 1990, 4P.97/1990]; Fr. 40'000.-- bei
einem HIV-infizierten, nicht krankenversicherten Strafgefangenen [plädoyer
1995/1 S. 53]; eine Lebensversicherung mit einem Rückkaufswert von Fr.
38'000.-- bei einer 62jährigen Gesuchstellerin [Urteil B. vom 17. Mai 1993, H
62/93]; weitere Fälle bei Bühler, a.a.O., S. 155).

5.4 Wird die Darlehensforderung, entsprechend dem angefochtenen Entscheid,
berücksichtigt, muss dem sich sodann auf Fr. 13'903.-- belaufenden Vermögen
- mit Blick auf das Alter der Beschwerdeführerin (42 Jahre), ihre
angeschlagene Gesundheit (sie bezieht eine ganze Rente der
Invalidenversicherung), die nur knapp ausreichenden Einkünfte (monatliches
Erwerbseinkommen von Fr. 580.--; Rente der Invalidenversicherung von Fr.
1‘560.--; Ergänzungsleistungen von Fr. 375.--) und ihre bescheidene
Altersvorsorge - der Charakter eines Notgroschens zuerkannt werden. Selbst
bei Anrechnung des Betrages von Fr. 11'000.-- ist demnach die für die
Bewilligung der unentgeltlichen Verbeiständung erforderliche Bedürftigkeit zu
bejahen. Die Sache ist daher an das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit
es die übrigen Voraussetzungen (fehlende Aussichtslosigkeit des Verfahrens,
Gebotenheit der anwaltlichen Vertretung) prüfe.

6.
Gemäss Praxis (SVR 1994 IV Nr. 29 S. 76 Erw. 4) werden in Verfahren, welche
die Frage der Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für den kantonalen
Prozess zum Gegenstand haben, keine Gerichtskosten erhoben. Zufolge Obsiegens
steht der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu (Art. 159 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 135 OG). Diese geht zu Lasten des Kantons Luzern, da der
Gegenpartei im Verfahren um die Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege
keine Parteistellung zukommt (RKUV 1994 Nr. U 184 S. 78 Erw. 5). Damit wird
das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege im letztinstanzlichen Prozess
gegenstandslos.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Zwischenentscheid des Verwaltungsgerichtes des Kantons Luzern vom 12. Juni
2002 aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen wird, damit
sie über das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung neu befinde.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Der Kanton Luzern hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr.
1‘500.-- zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Pensionskasse der Stadt Luzern, Luzern,
dem Kanton Luzern und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 20. Dezember 2002
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der IV. Kammer:   Die Gerichtsschreiberin: