Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Anklagekammer 8G.94/2002
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8G.94/2002 /pai

Urteil vom 24. September 2002
Anklagekammer

Bundesrichter Corboz, Präsident,
Bundesrichter Raselli, Karlen,
Gerichtsschreiber Monn.

Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn, 4509 Solothurn,
Beschwerdeführerin,

gegen

Generalprokurator des Kantons Bern, Postfach 7475, 3001 Bern,
Procureur général du canton du Jura, Le Château, case postale 9, 2900
Porrentruy,
Juge d'instruction du canton de Vaud, rue du Valentin 34, 1014 Lausanne.

Bestimmung des Gerichtsstandes in Sachen X.________ alias Y.________.

Sachverhalt:

A.
Am 18. Juni 2002 reisten der mongolische Staatsangehörige X.________ alias
Y.________ und zwei minderjährige Jugendliche von Frankreich kommend in
Kleinlützel/SO in die Schweiz ein, um hier, wie sie gegenüber der Polizei
nach anfänglichem Leugnen gestanden, Ladendiebstähle zu begehen. Am nächsten
Tag wurden die drei Personen von der Zollpatrouille angehalten, als sie die
Schweiz in Kleinlützel wieder verlassen wollten. X.________ gab zu, sie
hätten in Delémont/JU, Moutier/BE, Montreux/VD und eventuell in Twann/BE
Ladendiebstähle begangen. Zusätzlich werden den Drei Widerhandlungen gegen
das ANAG und das SVG vorgeworfen. Die beiden minderjährigen Beteiligten
wurden im Kanton Solothurn am 24. Juli 2002 zu einer Einschliessungsstrafe
verurteilt. In Bezug auf X.________ vermochten sich die Behörden der Kantone
Solothurn, Bern, Waadt und Jura in der Gerichtsstandsfrage nicht zu einigen.

B.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn wendet sich mit Eingabe vom 26.
August 2002 an die Anklagekammer des Bundesgerichts und beantragt, es sei der
Gerichtsstand für X.________ zu bestimmen. Dieser liege jedenfalls nicht im
Kanton Solothurn (act. 1).

Der Generalprokurator des Kantons Bern beantragt in seiner Stellungnahme vom
29. August 2002, es seien die Behörden des Kantons Jura für berechtigt und
verpflichtet zu erklären, den Angeschuldigten X.________ zu verfolgen und zu
beurteilen (act. 7).

Der Juge d'instruction du canton de Vaud und der Procureur général de la
République et canton du Jura haben sich am 30. August 2002 und 5. September
2002 vernehmen lassen, ohne einen ausdrücklichen Antrag zu stellen. Ihrer
Ansicht nach sind die Behörden des Kantons Solothurn für zuständig zu
erklären (act. 8 und 10).

Die Kammer zieht in Erwägung:

1.
Für die Verfolgung und Beurteilung einer strafbaren Handlung sind die
Behörden des Ortes zuständig, wo die strafbare Handlung ausgeführt wurde
(Art. 346 Abs. 1 Satz 1 StGB). Wird jemand wegen mehrerer, an verschiedenen
Orten verübter strafbarer Handlungen verfolgt, so sind die Behörden des
Ortes, wo die mit der schwersten Strafe bedrohte Tat verübt worden ist, auch
für die Verfolgung und die Beurteilung der andern Taten zuständig (Art. 350
Ziff. 1 Abs. 1 StGB).

Der Beschuldigte hat seinen eigenen Angaben zufolge zusammen mit zwei
Mittätern mehrere Ladendiebstähle begangen. Da sie zu diesem Zweck in die
Schweiz eingereist sind, kommt bandenmässiger Diebstahl gemäss Art. 139 Ziff.
3 StGB in Frage. Dabei handelt es um das mit der schwersten Strafe bedrohte
Delikt, weshalb die Widerhandlungen gegen das ANAG und das SVG bei der
Bestimmung des Gerichtsstandes nicht zu berücksichtigen sind.

Als für den Gerichtsstand massgebende Tatorte des bandenmässigen Diebstahls
kommen nur die Kantone Bern, Jura und Waadt in Frage, während der Kanton
Solothurn, wo der Beschuldigte nur geringfügigere Straftaten begangen haben
soll, als Tatort ausscheidet.

Der Kanton Solothurn kann im Übrigen auch nicht in Anwendung von Art. 348
Abs. 1 StGB, der einen Anknüpfungspunkt an dem Ort, wo der Täter betreten
wird, vorsieht, als Gerichtsstand bezeichnet werden, weil die mutmasslichen
Tatorte bekannt sind.

Der Kanton Solothurn kommt auch nicht deshalb als Gerichtsstand in Frage,
weil die beiden minderjährigen Beteiligten dort bereits zu
Einschliessungsstrafen verurteilt worden sind. Haben Jugendliche als Mittäter
zusammen mit Erwachsenen delinquiert, sind sie an ihrem Wohnsitz oder
Aufenthaltsort zu verfolgen und zu beurteilen, während sich der Gerichtsstand
für die beteiligten Erwachsenen nach den allgemeinen Regeln bestimmt (Art.
372 StGB; Erhard Schweri, Interkantonale Gerichtsstandsbestimmung in
Strafsachen, Bern 1987, N 347).

2.
Sind die strafbaren Handlungen, für die jemand verfolgt wird, mit der
gleichen Strafe bedroht, so sind die Behörden des Ortes zuständig, wo die
Untersuchung zuerst angehoben wird (Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2 StGB). Im
vorliegenden Fall ist bisher in keinem der Tatortkantone Bern, Jura und Waadt
eine Strafanzeige eingegangen oder auf andere Weise eine Untersuchung
angehoben worden. Folglich versagt dieses Kriterium.

In dieser Situation sind nach der Rechtsprechung die Behörden desjenigen
Kantons zuständig, in dem ein offensichtliches Schwergewicht der deliktischen
Tätigkeit liegt (vgl. Urteil des Bundesgerichts 8G.5/2000 vom 18. Februar
2000, E. 2d; BGE 123 IV 23 E. 2a). Bei nur vier Ladendiebstählen, die in drei
Kantonen begangen wurden, fehlt es jedoch an einem solchen Schwergewicht
(Urteile 8G.76/2002 vom 29. Juli 2002, E. 2, 8G.65/1998 vom 20. Oktober 1998,
E. 2b/bb, und 8G.51/1998 vom 29. Juli 1998, E. 3a). Auch dieses Kriterium
führt im vorliegenden Fall nicht weiter.

3.
Hat noch keiner der Tatortkantone eine Untersuchung angehoben und besteht
überdies in keinem dieser Kantone ein Schwergewicht der deliktischen
Tätigkeit, rechtfertigt es sich, in Analogie zu Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2 StGB
darauf abzustellen, wo der Beschuldigte das erste Delikt begangen hat.

Es ist unstrittig und wird insbesondere vom Procureur général de la
République et canton du Jura in seiner Eingabe ans Bundesgericht vom 5.
September 2002 nicht in Frage gestellt, dass der Beschuldigte zuerst in
Delémont/JU einen Diebstahl begangen hat. Folglich sind die Behörden dieses
Kantons für zuständig zu erklären.

Demnach erkennt die Kammer:

1.
Das Gesuch wird gutgeheissen, und die Behörden des Kantons Jura werden für
berechtigt und verpflichtet erklärt, die X.________ alias Y.________ zur Last
gelegten strafbaren Handlungen zu verfolgen und zu beurteilen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 24. September 2002

Im Namen der Anklagekammer
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: