Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Anklagekammer 8G.130/2002
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8G.130/2002 /pai

Sitzung vom 12. Februar 2003
Anklagekammer

Bundesrichter Karlen, Präsident,
Bundesrichter Fonjallaz, Marazzi,
Gerichtsschreiber Monn.

Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, 9001 St. Gallen,
Gesuchstellerin,

gegen

Verhöramt des Kantons Nidwalden, Kreuzstrasse 2,
6371 Stans,
Generalprokurator des Kantons Bern, Postfach 7475,
3001 Bern.

Bestimmung des Gerichtsstandes in Sachen A.________ und B.________.

Sachverhalt:

A.
A. ________ und B.________ wird zur Hauptsache vorgeworfen, in sechs Kantonen
insgesamt 32 Einbruchdiebstähle begangen zu haben. Die erste Tat wurde am 25.
Juni 2002 im Kanton Nidwalden verübt und am selben Tag in diesem Kanton
angezeigt. Von den übrigen Delikten wurden 12 im Kanton Bern, neun im Kanton
Glarus, fünf im Kanton St. Gallen, vier im Kanton Zürich und einer im Kanton
Luzern begangen.

Zwischen den Behörden der Kantone St. Gallen, Nidwalden und Bern kam es in
Bezug auf die Zuständigkeit zur Führung des Strafverfahrens nicht zu einer
Einigung.

B.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen wendet sich mit Eingabe vom 24.
Dezember 2002 an die Anklagekammer des Bundesgerichts und beantragt, der
Kanton Nidwalden, eventuell der Kanton Bern, sei berechtigt und verpflichtet
zu erklären, das Strafverfahren gegen A.________ und B.________ zu führen.

Das Verhöramt des Kantons Nidwalden beantragt in seiner Stellungnahme vom 20.
Januar 2003, es seien nicht die Behörden des Kantons Nidwalden für berechtigt
und verpflichtet zu erklären, die Angeschuldigten strafrechtlich zu verfolgen
und zu beurteilen.

Der Generalprokurator des Kantons Bern beantragt in seiner Stellungnahme vom
24. Januar 2002, es seien die Strafbehörden des Kantons Nidwalden berechtigt
und verpflichtet zu erklären, das Strafverfahren gegen die beiden
Angeschuldigten zu führen und deren strafrechtlich relevantes Verhalten zu
beurteilen.

Die Kammer zieht in Erwägung:

1.
Für die Verfolgung und Beurteilung einer einzelnen strafbaren Handlung, die
an mehreren Orten ausgeführt worden ist, sind die Behörden des Ortes
zuständig, wo die Untersuchung zuerst angehoben wurde (Art. 346 Abs. 2 StGB).
Wird jemand wegen mehrerer, an verschiedenen Orten verübter strafbarer
Handlungen verfolgt, und sind diese strafbaren Handlungen mit der gleichen
Strafe bedroht, so sind ebenfalls die Behörden des Ortes zuständig, wo die
Untersuchung zuerst angehoben wurde (Art. 350 Ziff. 1 Abs. 1 StGB).

Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen und der Generalprokurator des
Kantons Bern sind sich darüber einig, dass im vorliegenden Verfahren davon
auszugehen ist, dass ein gewerbs- und bandenmässiger Diebstahl vorliegen
könnte. Nach Auffassung des Verhöramts des Kantons Nidwalden steht dies nicht
fest (Stellungnahme vom 20. Januar 2003 S. 3 oben).

Die Frage, ob von einem qualifizierten Diebstahl oder von mehreren getrennten
Diebstählen auszugehen ist, muss nicht weiter geprüft werden, da nach dem
oben Gesagten in beiden Fällen das forum praeventionis gilt und die Behörden
des Ortes zuständig sind, wo die Untersuchung zuerst angehoben wurde. Dies
ist im Kanton Nidwalden der Fall, wo die erste Tat am 25. Juni 2002 angezeigt
worden ist. Dies wird vom Verhöramt des Kantons Nidwalden ausdrücklich
anerkannt (Stellungnahme vom 20. Januar 2003 S. 3 Ziff. 3).

Das Verhöramt des Kantons Nidwalden stützt sich jedoch sinngemäss auf Art.
263 BStP, wonach die Anklagekammer des Bundesgerichts die Zuständigkeit beim
Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen anders als in Art. 350 StGB
bestimmen kann. Da die Rechtsprechung ein Abweichen von jedem gesetzlichen
Gerichtsstand als möglich und zulässig erachtet (Schweri, Interkantonale
Gerichtsstandsbestimmung in Strafsachen, Bern 1987, N 395 ff.), kann auch
unter diesem Gesichtswinkel offen bleiben, ob ein Anwendungsfall von Art. 346
Abs. 2 StGB oder von Art. 350 Ziff. 1 Abs. 1 StGB vorliegt.

2.
Vom gesetzlichen Gerichtsstand, der im vorliegenden Fall im Kanton Nidwalden
liegt, kann gestützt auf Art. 263 BStP ausnahmsweise abgewichen werden, wenn
triftige Gründe es gebieten. Dabei hat sich die Anklagekammer vom Sinn, den
der Gesetzgeber im Auge hatte, nämlich die richtige und rasche Anwendung des
materiellen Rechts zu ermöglichen, leiten zu lassen. Insbesondere aus
Zweckmässigkeits-, Wirschaftlichkeits- und prozessökonomischen Gründen kann
ein Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand gerechtfertigt sein. Es geht
darum zu verhindern, dass die Anwendung der gesetzlichen Regelung zu
besonderen Schwierigkeiten führt (BGE 123 IV 23 E. 2a mit Hinweisen).

Ein Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand kann etwa gerechtfertigt sein,
wenn in einem Kanton ein offensichtliches Schwergewicht der deliktischen
Tätigkeit liegt, wobei es allerdings nicht genügt, dass auf einen Kanton
einige wenige Delikte mehr als auf einen anderen entfallen, sondern das
Übergewicht muss so offensichtlich und bedeutend sein, dass sich das
Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand geradezu aufdrängt. Wenn mehr als
zwei Drittel einer grösseren Anzahl von vergleichbaren Straftaten auf einen
einzigen Kanton entfallen, kann in der Regel davon ausgegangen werden, dass
in diesem Kanton ein Schwergewicht besteht, welches es rechtfertigt, vom
gesetzlichen Gerichtsstand abzuweichen (BGE 123 IV 23). Bei nur einem Drittel
einer grösseren Anzahl von Straftaten, die in einem Kanton begangen wurden,
dürfte in diesem Kanton demgegenüber regelmässig noch kein hinreichendes
Schwergewicht für ein Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand vorliegen
(Urteil der Anklagekammer 8G.47/2002 vom 31. Mai 2002 E. 2c). Diese Regeln
gelten jedoch nicht absolut, sondern müssen ihrerseits einer Überprüfung vor
allem nach prozessökonomischen Gesichtspunkten standhalten (BGE 123 IV 23 E.
2a mit Hinweis).

Auch andere Kriterien können bei der Frage, ob ein Abweichen vom gesetzlichen
Gerichtsstand gerechtfertigt ist, eine Rolle spielen (Schweri a.a.O. N 437
ff; Trechsel, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2. Aufl.,
Zürich 1997, N 19 vor Art. 346.). So kann in besonders gelagerten Fällen im
Hinblick auf den Wohnort oder die Sprache des Beschuldigten oder im Interesse
der Beweisführung ein anderer als der gesetzliche Gerichtsstand zweckmässiger
erscheinen (vgl. z.B. BGE 121 IV 224).

Schliesslich gibt es besonders komplexe Fälle, die eine Vielzahl von
Straftaten betreffen, die von mehreren Tätern allenfalls sogar in
verschiedener Zusammensetzung in mehreren Kantonen verübt worden sind, und in
denen ein eindeutiger Schwerpunkt in einem Kanton nicht auszumachen ist. Eine
Lösung, die in derartigen Fällen dem Bestreben nach Zweckmässigkeit und
Prozessökonomie entgegenkommt, bietet das forum secundum praeventionis. Dabei
wird nicht auf die erste angezeigte Tat abgestellt, sondern der Gerichtsstand
im Verhältnis der Kantone, in denen jeweils ein Schwergewicht liegt, gemäss
Art. 350 StGB festgesetzt (BGE 112 IV 139; Schweri a.a.O. N 432 ff.).

In jedem Fall aber muss darauf geachtet werden, dass grobe
Verfahrensverzögerungen und ein unnötiger prozessualer Aufwand vermieden
werden. Wenn die Untersuchung nahezu abgeschlossen ist, rechtfertigt sich in
der Regel eine Änderung des Gerichtsstands und insbesondere ein Abweichen vom
gesetzlichen Gerichtsstand nicht mehr (BGE 123 IV 23 E. 2a; 94 IV 44 S. 47;
Schweri a.a.O. N 469 und 488).

3.
Im vorliegenden Fall entfallen 12 von 32 vergleichbaren Straftaten auf den
Kanton Bern. Dies ist nur etwas mehr als ein Drittel aller Straftaten, die
den Beschuldigten vorgeworfen werden. Von der Anzahl Straftaten her gesehen
liegt im Kanton Bern folglich kein derartiges Schwergewicht, welches schon
aus diesem Grund ein Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand gebieten würde.

Das Verhöramt des Kantons Nidwalden betont, dass in seinem Kanton nur eine
einzige von 32 Straftaten begangen worden sei (Stellungnahme vom 20. Januar
2003 S. 2/3 Ziff. 4). Damit steht jedoch einzig fest, dass im Kanton
Nidwalden kein Schwergewicht der deliktischen Tätigkeit liegt. Trotz dieses
Umstandes drängt sich denn auch aus verschiedenen Gründen ein Abweichen vom
gesetzlichen Gerichtsstand nicht auf.

Zunächst geht es nicht um eine grosse, sondern nur um eine mittlere Anzahl
von Straftaten. Im vom Verhöramt des Kantons Nidwalden in seiner
Stellungnahme erwähnten BGE 112 IV 139, in dem vom gesetzlichen Gerichtsstand
abgewichen wurde, ging es demgegenüber um insgesamt 110 Straftaten. Der
vorliegende Fall ist mit dem bei Schweri a.a.O. N 434 erwähnten aus dem Jahr
1986 vergleichbar. Obwohl von insgesamt 49 Straftaten nur zwei im zuständigen
Kanton Schwyz verübt worden waren, lehnte die Anklagekammer ein Abweichen vom
gesetzlichen Gerichtsstand ab (Urteil AK 13/1986 vom 14. Mai 1986).

Das Verhöramt des Kantons Nidwalden weist im Übrigen selber darauf hin, dass
die Straftaten im Kanton Bern alle in einem eng begrenzten Raum in und um
Leissigen begangen worden seien (Stellungnahme vom 20. Januar 2003 S. 2 Ziff.
3). Dies spricht jedoch nicht für ein Abweichen vom gesetzlichen
Gerichtsstand, weil sich auch im Kanton Bern ein personell schwach dotiertes
Untersuchungsrichteramt nicht nur mit den 12 im Kanton Bern, sondern überdies
mit den weiteren 20 in anderen Kantonen verübten Straftaten befassen müsste
(Stellungnahme des Generalprokurators des Kantons Bern vom 24. Januar 2003 S.
4). Aus prozessökonomischen Gründen drängt sich aus diesem Grund folglich ein
Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand nicht auf.

Weiter ist zu berücksichtigen, dass in den Kantonen St. Gallen
(Schlussbericht vom 4. Dezember 2002 in Dossier B), Bern (Bericht vom 22.
Oktober 2002 in Dossier B), Glarus (Zusammenfassung der Straftaten vom 20.
Dezember 2002 in Dossier B), Nidwalden (Zusammenfassender Bericht vom 8.
November 2002 in Dossier D) und Luzern (zwei Berichte vom 8. November 2002 in
Dossier D) die polizeilichen Ermittlungen zu einem wesentlichen Teil
abgeschlossen sind. Der Stand des Verfahrens spricht folglich ebenfalls
dagegen, dieses einem anderen als dem von Gesetzes wegen zuständigen Kanton
zuzuteilen. Das Verhöramt Nidwalden macht in diesem Zusammenhang geltend,
nicht nur für die übrigen Verfahrensbeteiligten ergäben sich bei einer
Zuteilung an den Kanton Nidwalden besondere Probleme, sondern es würden zudem
in den meisten Fällen den Nidwaldner Behörden die besonderen Ortskenntnisse
fehlen (Stellungnahme vom 20. Januar 2003 S. 2 Ziff. 5). Welche "besonderen
Probleme" der übrigen Verfahrensbeteiligten für die Beurteilung der
vorliegenden Gerichtsstandsfrage ausschlaggebend sein könnten, und welcher
"besonderen Ortskenntnisse" es für die Beurteilung der Strafsache bedarf,
ergibt sich aus der Vernehmlassung des Verhöramtes jedoch nicht und ist auch
nicht ersichtlich.

Gesamthaft gesehen drängt sich ein Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand,
welches ohnehin nur die Ausnahme bildet, nicht auf. Das Gesuch der
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen ist deshalb gutzuheissen und der
Fall dem Kanton Nidwalden zuzuteilen.

Demnach erkennt die Kammer:

1.
Das Gesuch der Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen wird gutgeheissen,
und die Behörden des Kantons Nidwalden werden berechtigt und verpflichtet
erklärt, die A.________ und B.________ vorgeworfenen Straftaten zu verfolgen
und zu beurteilen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird der Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, dem
Verhöramt des Kantons Nidwalden und dem Generalprokurator des Kantons Bern
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 12. Februar 2003

Im Namen der Anklagekammer
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: