Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6S.80/2002
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6S.80/2002/pai

                 K A S S A T I O N S H O F
                 *************************

                        30. Mai 2002

Es wirken mit: Bundesrichter Schubarth, Präsident des Kassa-
tionshofes, Bundesrichter Schneider, Karlen und Gerichts-
schreiber Weissenberger.

                         ---------

                         In Sachen

X.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecher
Andreas Maurer, Kapellenstrasse 24, Bern,

                           gegen

Generalprokurator des Kantons  B e r n ,
Y.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Fürsprecher
Sven Sievi, Hotelgasse 1, Bern,

                         betreffend
fahrlässige einfache Körperverletzung; Schadenersatz und
                        Genugtuung;
(eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des
Obergerichts des Kantons Bern, 2. Strafkammer, vom
                    11. September 2001),

hat sich ergeben:

     A.- Y.________ ging am 14.10.1999 um 12.05 Uhr zu Fuss
in Grünen/BE von der Abzweigung Hofacker her kommend auf dem
rechten Trottoir die Bahnhofstrasse abwärts. Unvermittelt
und ohne nach links zu blicken betrat er die Hauptstrasse
Sumiswald-Grünen im Bereich des Fussgängerstreifens. An-
zeichen für eine solche Absicht bestanden keine. Als er auf
die Strasse trat, fuhr X.________ die Bahnhofstrasse mit
einer Geschwindigkeit von 35-50 km/h hinunter und befand
sich ungefähr 10-22 m vor dem Fussgängerstreifen. Obwohl sie
sofort die Vollbremsung einleitete, konnte sie eine Kolli-
sion mit Y.________ nicht mehr verhindern und kam mit den
Hinterrädern auf dem Fussgängerstreifen zum Stillstand.
X.________ hatte auf ihrer Fahrt den eilenden Y.________
erstmals ca. 46-74 m vor dem Fussgängerstreifen erblickt,
als er sich etwa 2-3 m unterhalb der Querstrasse Hofacker-
strasse befand, war aber weitergefahren, ohne ihre Ge-
schwindigkeit zu reduzieren und besondere Bremsbereitschaft
zu erstellen. Y.________ erlitt beim Zusammenstoss Ver-
letzungen am Rücken, am linken Fuss und am rechten Sprung-
gelenk (angefochtenes Urteil, S. 6, 9).

     B.- Der Gerichtspräsident 1 des Gerichtskreises VI
Signau-Trachselwald sprach Y.________ am 15. Mai 2001 des
unvorsichtigen Betretens des Fussgängerstreifens schuldig,
nahm aber gemäss Art. 66bis StGB von einer Strafe Umgang.
Mit selbem Urteil verurteilte der Gerichtspräsident
X.________ wegen "einfacher fahrlässiger Körperverletzung"
zu einer Busse von 300 Franken. Das Gericht hiess ferner die
Privatklage von Y.________ dem Grundsatze nach gut und
stellte fest, dass dem Privatkläger unter Vorbehalt eines

Mitverschuldens ein Entschädigungsanspruch zustehe für eine
Genugtuungssumme, "sowie allfällige Erhöhung und zusätzliche
Geltendmachung von Schadenersatz bis zwei Jahre nach Ur-
teil".

        Das Obergericht des Kantons Bern, 2. Strafkammer,
bestätigte das angefochtene Urteil am 11. September 2001 im
Schuld-, Straf- und Zivilpunkt.

     C.- X.________ führt eidgenössische Nichtigkeits-
beschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts des
Kantons Bern vom 11. September 2001 aufzuheben und die Sache
zu ihrer Freisprechung und zur Abweisung der Zivilklage an
die Vorinstanz zurückzuweisen.

        Das Obergericht verzichtet auf Bemerkungen zur
Beschwerde. Der stellvertretende Generalprokurator des
Kantons Bern beantragt in seiner Stellungnahme vom 25. April
2002 die Abweisung der Beschwerde (act. 10).

        Der Beschwerdegegner ersucht um Abweisung soweit
Eintreten (act. 15).

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

     1.- Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde in Straf-
sachen ist kassatorischer Natur (Art. 277ter Abs. 1 BStP).
Soweit die Beschwerdeführerin mehr als die Aufhebung des
angefochtenen Urteils verlangt, ist auf die Beschwerde nicht
einzutreten.

        Die Beschwerdeführerin ficht das angefochtene
Urteil sowohl im Straf- als auch im Zivilpunkt an. Die
Nichtigkeitsbeschwerde im Zivilpunkt ist deshalb zulässig
(Art. 271 Abs. 2 BStP). Auf sie ist einzutreten, da die
Beschwerde im Strafpunkt gutzuheissen ist und die ab-
weichende Beurteilung auch für die Entscheidung im Zivil-
punkt Bedeutung haben kann (Art. 277quater Abs. 2 BStP).

     2.- Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen ihre Ver-
urteilung wegen fahrlässiger einfacher Körperverletzung. Sie
bringt vor, die Vorinstanz habe durch falsche Anwendung von
Bundesrecht, insbesondere von Bestimmungen aus dem Strassen-
verkehrsrecht, eine fahrlässige Körperverletzung bejaht.

        a) Die Vorinstanz führt aus, es sei nicht strittig,
dass die von Y.________ beim Verkehrsunfall erlittenen Ver-
letzungen strafrechtlich als einfache Körperverletzung zu
qualifizieren seien. Der Verletzte habe auch rechtzeitig
Strafantrag gestellt.

        Mit der ersten Instanz sei davon auszugehen, dass
X.________ das Vortrittsrecht des Fussgängers nicht miss-
achtet habe. Denn Y.________ sei für sie völlig überraschend
und ohne auf den von hinten kommenden Strassenverkehr zu
achten auf die Fahrbahn im Bereich des Fussgängerstreifens
getreten. Es sei X.________ in diesem Augenblick nicht mehr
möglich gewesen, vor dem Fussgängerstreifen anzuhalten, wes-
halb sie grundsätzlich auch nicht mehr zur Gewährung des
Vortritts verpflichtet gewesen sei.

        Die Vorinstanz nimmt jedoch an, X.________ sei
gleichwohl verpflichtet gewesen, ihre Geschwindigkeit recht-
zeitig herabzusetzen und Bremsbereitschaft zu erstellen. Sie

habe Y.________ 7-8 m vor dem Fussgängerstreifen, also
während fast 4 s bevor er den Streifen erreicht habe, in
schnellem Schritt auf dem Trottoir parallel zu ihrer Fahrt-
richtung (ihrer Meinung nach) in Richtung Bahnhof eilen
sehen. Es hätten sich keine anderen Autos oder Fussgänger in
der Nähe befunden. Auf der linken Strassenseite in der Ver-
längerung des Fussgängerstreifens führe ein Weg mit Treppen
hinunter nach Grünen. Gemäss den Angaben des Zeugen
R.________ sei dies ein gefährlicher Ort. Als Autofahrer
achte er deshalb immer darauf, dass nicht unerwartet
Fussgänger die Treppe hinauf auf den Fussgängerstreifen
treten würden. Dies umso mehr, als dieser Weg oft von
Schülern benutzt werde. Die Vorinstanz erwägt dazu, die
ortskundige Beschwerdeführerin habe diese Gefahrenmomente
gekannt. Sie hätte deshalb dem Umstand besonders Rechnung
tragen müssen, dass von links auf dem Fussweg von Grünen
spät sichtbar Fussgänger auftauchen könnten, welche den
Fussgängerstreifen überqueren wollten, und nebst der
Vermutung, Y.________ wolle zum Bahnhof, auch ein Überqueren
der Strasse durch diesen beim nahen Fussgängerstreifen in
Betracht ziehen sollen. Vor dem Fussgängerstreifen hätte sie
deshalb gemäss Art. 33 Abs. 2 SVG besonders vorsichtig
fahren müssen (angefochtenes Urteil, S. 12 f.).

        Die Beschwerdeführerin habe nach eigenen Angaben
trotz dem sich vor ihr befindenden Fussgängerstreifen und
dem auf dem Trottoir in auffälliger Eile - sie habe ver-
mutet, er wolle noch einen Zug erreichen - nicht abgebremst
und sei "normal" weitergefahren. "Gerade" der von ihr be-
merkte auffallend schnelle Gang von Y.________ und der nahe
Fussgängerstreifen mit dem daran anschliessenden unüber-
sichtlichen Beginn des Fussweges nach Grünen hätte sie zu
besonderer Vorsicht veranlassen müssen. Sie habe in diesem
Zeitpunkt nicht annehmen dürfen, der Fussgänger werde den
Fussgängerstreifen nicht benützen wollen. Deshalb hätte

sie ihre Geschwindigkeit "mässigen" müssen, um Y.________,
sollte er am Rand des Fussgängerstreifens anhalten, den Vor-
tritt gewähren zu können. Indem sie unverändert weiterge-
fahren sei, habe sie die Geschwindigkeit nicht den Umständen
angepasst und damit gegen Art. 32 Abs. 1 SVG verstossen.
Daran ändere der Vertrauensgrundsatz nichts, da im beur-
teilten Fall "die die Sorgfaltspflicht konkret umschrei-
benden Art. 32 Abs. 1 und 33 Abs. 2 SVG anzuwenden" seien.
X.________ hätte denn auch nicht eine "präventive Voll-
bremsung durchführen sondern einzig vorsichtiger fahren
müssen (Reduktion der Geschwindigkeit und Erstellen der
Bremsbereitschaft)".

        Die Vorinstanz bejaht auch die Vorhersehbarkeit des
Geschehensablaufs und die Vermeidbarkeit der Verletzungen.
Für X.________ sei nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge
voraussehbar gewesen, "dass bei einem überraschenden Fehl-
verhalten von Y.________ - d.h. sollte dieser überraschend
doch noch auf den Fussgängerstreifen treten - oder bei einem
unverwarteten Auftauchen von Fussgängern vom Fussweg Rich-
tung Grünen (links vom Fussgängerstreifen) nicht mehr recht-
zeitig hätte anhalten und eine Kollision vermeiden bzw. eine
Körperverletzung hätte verursachen können". "Jedenfalls"
lasse sich nicht sagen, das Betreten des Fussgängerstreifens
durch Y.________ sei so aussergewöhnlich gewesen, dass damit
schlechterdings nicht hätte gerechnet werden können. Der
eingetretene Erfolg hätte zudem mit höchster Wahrschein-
lichkeit verhindert werden können, wenn die Beschwerde-
führerin beim Erblicken des Fussgängers Bremsbereitschaft
erstellt und ihre Geschwindigkeit auch nur leicht reduziert
hätte. Nach ihren Aussagen habe sie den Fussgänger erstmals
erblickt, als dieser 7 bis 8 Meter vom Streifen entfernt
gewesen sei. Fest stehe, dass die fragliche Stelle aus der
Fahrtrichtung der Beschwerdeführerin erst aus einer Ent-
fernung von etwa 60 bis 70 m einsehbar sei. Für eine Weg-

strecke von 7-8 m benötige ein eilig gehender Fussgänger
ca. 4 s. In dieser Zeitspanne lege ein Personenwagen bei
einer Geschwindigkeit von 35 km/h rund 38 m und bei 50 km/h
rund 55 m zurück. Diese Zahlen würden eindeutig für eine
"Annäherungsgeschwindigkeit" der Beschwerdeführerin "im
oberen Bereich der Annahme der Vorinstanz (35-50 km/h)"
sprechen. Auch wenn sich die gefahrene Geschwindigkeit und
die massgebenden Distanzen nicht genau feststellen liessen,
sei angesichts des Unfallbildes anzunehmen, dass die Kol-
lision bei einem 8 m kürzeren Anhalteweg hätte vermieden
werden können. Dieser Bremsweg lasse sich rechnerisch
bereits einsparen, wenn (unter Annahme einer Verzögerung von
6 m/sec2) eine Vollbremsung statt aus 50 km/h ohne Brems-
bereitschaft (Anhaltestrecke knapp 29 Meter) aus 45 km/h mit
erstellter Bremsbereitschaft (Anhaltestrecke gut 20 m) er-
folgt wäre (angefochtenes Urteil, S. 12-15).

        Zusammenfassend nimmt die Vorinstanz an, X.________
habe den Tatbestand der fahrlässigen einfachen Körperver-
letzung gemäss Art. 125 Abs. 1 StGB sowohl subjektiv als
auch objektiv erfüllt.

        b) Die Beschwerdeführerin macht eine Verletzung der
Art. 125 Abs. 1 und 18 Abs. 3 StGB, Art. 26 Abs. 2, 32 Abs.
1 und 33 Abs. 2 SVG sowie des Art. 6 VRV geltend. Sie wendet
ein, die Vorinstanz habe festgestellt, dass sie mangels auch
nur geringster Anzeichen nicht damit habe rechnen müssen,
der Beschwerdegegner könnte unvermittelt auf den Fussgänger-
streifen treten. Vielmehr habe sie angesichts der Tageszeit,
des geringen Verkehrsaufkommens, der übersichtlichen Strecke
und der Tatsache, dass sich der erwachsene Fussgänger pa-
rallel zur Fahrbahn fortbewegt habe, auf dessen verkehrs-
regelkonformes Verhalten vertrauen dürfen. Die Auffassung
der Vorinstanz bedeute nichts anderes, als dass im Bereich
von Fussgängerstreifen ungeachtet der konkreten Verhältnisse

immer mit klar regelwidrigen Verhalten selbst erwachsener
Fussgänger gerechnet werden müsse und dort deshalb zwingend
mit reduzierter Geschwindigkeit zu fahren sei. Die Pflicht
zu besonders vorsichtiger Fahrweise gemäss Art. 33 Abs. 2
SVG beziehe sich jedoch nicht auf jedes mögliche Fehl-
verhalten eines Fussgängers, sondern einzig auf die Pflicht,
nötigenfalls anzuhalten, um den Fussgängern den Vortritt zu
lassen, die sich schon auf dem Fussgängerstreifen befänden
oder im Begriffe seien, ihn zu überqueren. Wollte man der
Auffassung der Vorinstanz folgen, würde der Vertrauens-
grundsatz im Bereich von Fussgängerstreifen nicht mehr
gelten. Die Vorinstanz habe zu Unrecht eine Verletzung der
Verkehrsregeln und damit eine Sorgfaltspflichtverletzung
bejaht (Beschwerde, S. 6-11).

     3.- a) Fahrlässig begeht der Täter ein Verbrechen oder
Vergehen, wenn die Tat darauf zurückzuführen ist, dass er
die Folgen seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvor-
sichtigkeit nicht bedacht oder darauf nicht Rücksicht ge-
nommen hat (Art. 18 Abs. 3 Satz 1 StGB). Ein Schuldspruch
wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts setzt somit voraus, dass
der Täter den Erfolg durch Verletzung einer Sorgfaltspflicht
verursacht hat. Sorgfaltswidrig ist die Handlungsweise, wenn
der Täter zum Zeitpunkt der Tat auf Grund der Umstände sowie
seiner Kenntnisse und Fähigkeiten die damit bewirkte Gefähr-
dung der Rechtsgüter des Opfers hätte erkennen können und
müssen und wenn er zugleich die Grenzen des erlaubten Ri-
sikos überschritten hat (Art. 18 Abs. 3 Satz 2 StGB). Wo
besondere Normen ein bestimmtes Verhalten gebieten, bestimmt
sich das Mass der dabei zu beachtenden Sorgfalt in erster
Linie nach diesen Vorschriften. Fehlen solche, kann auf
analoge Regeln privater oder halbprivater Vereinigungen
abgestellt werden, sofern diese allgemein anerkannt sind.

Das schliesst nicht aus, dass der Vorwurf der Fahrlässigkeit
auch auf allgemeine Rechtsgrundsätze wie etwa den allge-
meinen Gefahrensatz gestützt werden kann (BGE 127 IV 62
E. 2d S. 64 f. mit Verweisungen).

        Erkennbar bzw. voraussehbar ist die Gefahr des
Erfolgseintritts für den Täter, wenn sein Verhalten geeignet
ist, nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und den Erfah-
rungen des Lebens einen Erfolg wie den eingetretenen herbei-
zuführen oder mindestens zu begünstigen. Dabei genügt es,
wenn der Täter in groben Zügen den zum Erfolg führenden
Kausalverlauf als Folge seines pflichtwidrigen Verhaltens
voraussehen konnte. Die Voraussehbarkeit ist zu verneinen,
wenn ganz aussergewöhnliche Umstände, wie das Mitverschulden
eines Dritten oder Material- und Konstruktionsfehler, als
Mitursachen hinzutreten, mit denen schlechthin nicht ge-
rechnet werden musste und die derart schwer wiegen, dass sie
als wahrscheinlichste und unmittelbarste Ursache des Er-
folges erscheinen und so alle anderen mitverursachenden
Faktoren - namentlich das Verhalten des Angeschuldigten - in
den Hintergrund drängen. Damit der Eintritt des Erfolgs auf
das pflichtwidrige Verhalten des Täters zurückzuführen ist,
muss neben der Voraussehbarkeit auch das Erfordernis der
Vermeidbarkeit gegeben sein. Dabei ist zu prüfen, ob der
Erfolg bei pflichtgemässem Verhalten des Täters mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeblieben wäre
(BGE 121 IV 286 E. 3 mit Hinweisen).

        b) Der Umfang der Sorgfalt, welche die Beschwerde-
führerin zu beachten hatte, richtet sich nach den Be-
stimmungen des Strassenverkehrsgesetzes vom 19. Dezember
1958 (SVG; SR 741.01) und der Verkehrsregelverordnung vom
13. November 1962 (VRV; SR 741.11).

        aa) Nach Art. 33 Abs. 1 und 2 SVG ist den Fuss-
gängern das Überqueren der Fahrbahn in angemessener Weise zu
ermöglichen und hat der Fahrzeugführer vor Fussgänger-
streifen besonders vorsichtig zu fahren und nötigenfalls
anzuhalten, um den Fussgängern den Vortritt zu lassen, die
sich schon auf dem Streifen befinden oder im Begriffe sind,
ihn zu betreten. Diese Regelung wird durch Art. 6 Abs. 1 VRV
konkretisiert, wonach der Fahrzeugführer vor Fussgänger-
streifen ohne Verkehrsregelung jedem Fussgänger den Vortritt
gewähren muss, der sich bereits auf dem Streifen befindet
oder davor wartet und ersichtlich die Fahrbahn überqueren
will. Er muss die Geschwindigkeit rechtzeitig mässigen und
nötigenfalls anhalten, damit er dieser Pflicht nachkommen
kann.

        Art. 6 Abs. 1 VRV verweist damit auf die nach den
Umständen angemessene Geschwindigkeit. Gemäss Art. 32 Abs. 1
SVG ist die Geschwindigkeit stets den Umständen anzupassen,
namentlich den Besonderheiten von Fahrzeug und Ladung, sowie
den Strassen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen. Art. 4
Abs. 3 VRV verdeutlicht, dass der Fahrzeugführer die Ge-
schwindigkeit mässigen und nötigenfalls halten muss, wenn
Kinder im Strassenbereich nicht auf den Verkehr achten. Nach
der Rechtsprechung darf die in Ortschaften zulässige all-
gemeine Höchstgeschwindigkeit (Art. 4a Abs. 1 VRV) nur bei
günstigen Verhältnissen ausgefahren werden. Deshalb richtet
in der Regel seine Geschwindigkeit nicht nach den Umständen,
wer innerorts mit 50 km/h an einem nahe der Strasse ge-
legenen Kindergarten zu einer Zeit, wo sich dort Kinder
befinden, vorbeifährt (BGE 121 IV 286 E. 4b; 121 II 127
E. 4a). Auf der anderen Seite darf der Fahrzeuglenker nicht
ohne zwingende Gründe so langsam fahren, dass er einen
gleichmässigen Verkehrsfluss hindert (Art. 4 Abs. 5 VRV).

        bb) Das Mass der Sorgfalt, die vom Fahrzeuglenker
verlangt wird, richtet sich nach den gesamten Umständen,
namentlich der Verkehrsdichte, den örtlichen Verhältnissen,
der Zeit, der Sicht und den voraussehbaren Gefahrenquellen
(BGE 122 IV 225 E. 2b S. 228). Nach dem aus der Grundregel
von Art. 26 Abs. 1 SVG abgeleiteten Vertrauensgrundsatz darf
jeder Strassenbenützer darauf vertrauen, dass sich die
anderen Verkehrsteilnehmer ordnungsgemäss verhalten. Ein
solches Vertrauen ist jedoch nicht gerechtfertigt, wenn
Anzeichen dafür bestehen, dass sich ein Strassenbenützer
nicht richtig verhalten wird oder wenn ein Fehlverhalten
eines anderen Verkehrsteilnehmers auf Grund einer unklaren
Verkehrssituation nach der allgemeinen Erfahrung unmittelbar
in die Nähe rückt. Das wird von Art. 26 Abs. 2 SVG dahin-
gehend umschrieben, dass besondere Vorsicht geboten ist
gegenüber Kindern, Gebrechlichen und alten Leuten, sowie
wenn Anzeichen dafür bestehen, dass sich ein Strassen-
benützer nicht richtig verhalten wird (BGE 125 IV 83 E. 2b
S. 87 f.; Urteil des Bundesgerichts 6S.120/1998 vom 3.4.1998
E. 2b, veröffentlicht in Pra, 1998 125 692). Die gegenüber
den erwähnten Personen vorgeschriebene besondere Vorsicht
bedeutet, dass eine Berufung auf das Vertrauensprinzip
grundsätzlich selbst dann versagt, wenn keine konkreten
Anzeichen vorliegen, dass sich Kinder, Gebrechliche oder
alte Personen unkorrekt verhalten würden (BGE 104 IV 28
E. 3c; Raphael von Werra, Du principe de la confiance dans
le droit de la circulation routière ..., ZWR 4/1970,
S. 200). Gegenüber den im Gesetz aufgezählten Personen
bedarf es umgekehrt besonderer Umstände, um ein allenfalls
begrenztes Vertrauen in das ordnungsgemässe Verhalten dieser
Strassenbenützer zu rechtfertigen (BGE 115 IV 239 mit Ver-
weis auf Schaffhauser, Grundriss des Schweizerischen
Strassenverkehrsrechts, Band I, S. 118, N 314). Die Pflicht
zu besonderer Vorsicht auch ohne konkrete Anzeichen eines

Fehlverhaltens geht nicht so weit, dass der Führer bei-
spielsweise beim Anblick eines Kindes in jedem Fall seine
Fahrt verlangsamen und Hupsignale geben müsste; dies ist
jedoch innerorts unter anderem geboten, wenn das Kind
sich auf der Fahrbahn oder am Strassenrand befindet, nicht
aber wo es auf dem Trottoir ruhig seines Weges geht
(BGE 115 IV 239; 112 IV 87).

     4.- a) Wie die Vorinstanz zutreffend erkennt, verletzte
die Beschwerdeführerin das Vortrittsrecht des Beschwerde-
gegners als Fussgänger nicht, da dieser den Streifen über-
raschend und zu einem Zeitpunkt betrat, als es der Be-
schwerdeführerin bei der von ihr gefahrenen Geschwindigkeit
nicht mehr möglich war, ihr Fahrzeug rechtzeitig anzuhalten
(rund 20 m vor Kollisionsstelle bei einer Geschwindigkeit
von gegen 50 km/h). Es lagen zum Zeitpunkt, als die Be-
schwerdeführerin den Fussgänger zum ersten Mal erblickte
(46-74 m vor der Kollisionsstelle), auch keine konkreten An-
zeichen oder zuverlässigen Anhaltspunkte für ein über-
raschendes Betreten des Streifens, mithin für ein schweres
Fehlverhalten des Beschwerdegegners vor (vgl. 118 IV 277
E. 4a; 115 II 283 E. 1b, 95 II 184 E. 4b); denn der Umstand,
dass der Beschwerdegegner mit raschen Schritten parallel zur
Fahrbahn die Bahnhofstrasse hinunterging, wies nicht auf
seine Absicht hin, die Fahrbahn auf dem 7-8 m entfernten
Fussgängerstreifen zu überqueren. Die Beschwerdeführerin war
daher nicht verpflichtet, bereits 46-74 m vor der Kolli-
sionsstelle eine Vollbremsung einzuleiten oder ihre Ge-
schwindigkeit deutlich zu reduzieren.

        Zu prüfen ist indes, ob die Beschwerdeführerin mit
unangemessener Geschwindigkeit fuhr. Von der Beschwerde-
führerin wird nicht in Frage gestellt, dass sie bei einer
tieferen Geschwindigkeit von nicht mehr als 45 km/h und
erstellter Bremsbereitschaft die Verletzung des Fussgängers
hätte vermeiden können. Darauf ist hier nicht mehr zurück-
zukommen.

        b) Nach den tatsächlichen Feststellungen der Vor-
instanz fuhr die Beschwerdeführerin mit einer Ge-
schwindigkeit "im oberen Bereich der Annahme der Vorinstanz
(35-50 km/h)", also mit gegen 50 km/h auf den Fussgänger-
streifen zu. Diese Geschwindigkeit hält sich im Rahmen der
in Ortschaften zulässigen allgemeinen Höchstgeschwindigkeit
(Art. 4a Abs. 1 lit. a VRV). Fraglich ist damit nur, ob die
Beschwerdeführerin diese Höchstgeschwindigkeit angesichts
der konkreten Umständen ausfahren durfte. Das hängt ins-
besondere davon ab, ob das Fehlverhalten des Fussgängers für
die Beschwerdeführerin vorhersehbar war.

        Die Beschwerdeführerin erblickte Y.________ erst-
mals 7-8 m vor dem Fussgängerstreifen, also fast 4 s bevor
er den Streifen erreicht hatte, eiligen Schrittes auf dem
Trottoir parallel zu ihrer Fahrtrichtung (ihrer Meinung
nach) in Richtung Bahnhof gehen. Wie die Vorinstanz weiter
feststellt, trat Y.________ unversehens und ohne auf den von
hinten kommenden Strassenverkehr zu achten auf die Fahrbahn
im Bereich des Fussgängerstreifens. Anzeichen für seine
Absicht, die Strasse zu überqueren, bestanden keine. Der
Fussgänger verhielt sich damit klar verkehrsregelwidrig. Die
Vorinstanz leitet die Pflicht der Beschwerdeführerin, ihre
Geschwindigkeit auf 45 km/h oder weniger herabzusetzen und
besondere Bremsbereitschaft zu erstellen aus dem Umstand,
dass der Fussgänger eilig voranschritt, keine anderen

Autos oder Fussgänger in der Nähe waren und auf der linken
Strassenseite in der Verlängerung des Fussgängerstreifens
ein Weg mit Treppen hinunter nach Grünen führte. Sie nimmt
an, die Beschwerdeführerin hätte deshalb nicht nur in Be-
tracht ziehen müssen, dass der Fussgänger die Strasse auf
dem Fussgängerstreifen überqueren wollte, sondern auch dem
Umstand Rechnung tragen sollen, dass von links auf dem Fuss-
weg von Grünen spät sichtbar Fussgänger auftauchen könnten,
welche den Fussgängerstreifen überqueren wollten. Damit
stellt die Vorinstanz teilweise auf unbeachtliche Faktoren
ab und überspannt im Übrigen die zumutbaren Sorgfalts-
anforderungen.

        Der Unfall geschah mittags um 12.05 h bei guten
Witterungs- und Sichtverhältnissen. Die Verkehrslage war
ruhig. Es befanden sich ausser dem Beschwerdegegner keine
weiteren Fussgänger in Sichtweite. Beim Beschwerdegegner
handelt es sich um einen erwachsenen Mann, dem gegenüber
keine besondere Vorsicht geboten war (vgl. Art. 26 Abs. 2
SVG). Es lagen ferner keine konkreten oder zuverlässigen
Anzeichen für sein Fehlverhalten bzw. darauf hinweisende
Umstände vor. Allein die Tatsache, dass der Fussgänger
eiligen Schrittes unterwegs war, hätte die Beschwerde-
führerin nicht dazu veranlassen müssen, sich vorausblickend
in ihrem Fahrverhalten darauf einzustellen, dass er unver-
mittelt auf den Fussgängerstreifen treten könnte, bevor sie
ihn passiert hatte. Die bloss entfernte Möglichkeit eines
künftigen Fehlverhaltens rechtfertigt die Annahme eines
konkreten Anzeichens gemäss Art. 26 Abs. 2 SVG nicht
(BGE 106 IV 393, 103 IV 259). Auf Grund der ausgesprochen
ruhigen Verkehrslage durfte die Beschwerdeführerin vielmehr
darauf vertrauen, dass der Fussgänger ihr herannahendes
Fahrzeug hören und sich entsprechend vorsehen würde. Das
gilt umso mehr, als der Fussgänger noch 7-8 m vom Fuss-

gängerstreifen entfernt war, als die Beschwerdeführerin aus
einer Distanz von 46-74 m herannahte. Wie es sich verhielte,
wenn er zu jenem Zeitpunkt dem Fussgängerstreifen bereits
nahe gewesen wäre, braucht hier nicht entschieden zu werden.
Schliesslich war die Situation mit dem von links ein-
mündenden Fussweg nicht derart unübersichtlich, dass sich
bereits deshalb eine Tempoherabsetzung aufgedrängt hätte
(vgl. die Fotos bei den Akten, act. 129). Aus der Topo-
graphie des fraglichen Streckenabschnitts und dem ruhigen
Verkehrsaufkommen können deshalb keine erhöhten Sorgfalts-
gebote abgeleitet werden.

        Die hier gegebenen Umstände unterscheiden sich
damit ganz wesentlich von den in BGE 121 IV 286 beurteilten.
Sie erlaubten es der Beschwerdeführerin, ohne Verkehrsregeln
zu verletzen mit unverminderter Geschwindigkeit und mit
durchschnittlicher Bremsbereitschaft auf den Fussgänger-
streifen zuzufahren. Sie musste nach dem erwähnten Ver-
trauensgrundsatz nicht mit dem schweren Fehlverhalten des
erwachsenen Fussgängers rechnen. Indem die Vorinstanz eine
von der Beschwerdeführerin begangene Sorgfaltspflicht-
verletzung bejahte, hat sie Bundesrecht verletzt. Die Be-
schwerde ist begründet.

        Mit der Gutheissung der Beschwerde im Strafpunkt
erübrigt es sich, auf die Vorbringen der Verletzung von
Art. 62 Abs. 1 und 59 Abs. 1 SVG betreffend den Zivilpunkt
einzugehen. Die Zivilsache ist mit der Strafsache zu
neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen
(Art.277quater Abs. 2 BStP).

     5.- Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde ist des-
halb gutzuheissen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem
Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben und ist
der Beschwerdeführerin eine Entschädigung aus der Bundes-
gerichtskasse zuzusprechen.

        Das Bundesgericht hat das Gesuch des Beschwerde-
gegners Y.________ um Bewilligung der unentgeltlichen
Prozessführung und Verbeiständung mit Beschluss vom
30. April 2002 gutgeheissen. Dem Vertreter des Beschwerde-
gegners, Fürsprecher Sven Svieri, wird für das bundes-
gerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 2'500.--
aus der Bundesgerichtskasse ausgerichtet.

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

     1.- Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wird
gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist, das Urteil des
Obergerichts des Kantons Bern, 2. Strafkammer, vom
11. September 2001 aufgehoben und die Sache zu neuer
Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

     2.- Es werden keine Kosten erhoben.

     3.- Der Beschwerdeführerin wird für das Verfahren der
eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde eine Entschädigung
von Fr. 2'500.-- aus der Bundesgerichtskasse zugesprochen.

     4.- Dem Vertreter des Beschwerdegegners, Fürsprecher
Sven Svieri, wird für das bundesgerichtliche Verfahren eine
Entschädigung von Fr. 2'500.-- aus der Bundesgerichtskasse
ausgerichtet.

     5.- Dieses Urteil wird den Parteien, sowie dem Ge-
neralprokurator und dem Obergericht(2. Strafkammer) des
Kantons Berns schriftlich mitgeteilt.

                       ______________

Lausanne, 30. Mai 2002

                Im Namen des Kassationshofes
             des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
                       Der Präsident:

                   Der Gerichtsschreiber: