Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6S.474/2002
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6S.474/2002 /kra

Sitzung vom 10. April 2003
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Kolly, Karlen,
Ersatzrichterin Pont Veuthey,
Gerichtsschreiber Boog.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Peter F. Siegen, Postfach
7337, 8023 Zürich,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau, Frey-Herosé-Strasse 12, 5001 Aarau.

Sexuelle Handlungen mit Kindern, Exhibitionismus (Art. 187 StGB),

Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau,
2. Strafkammer, vom 24. Oktober 2002.

Sachverhalt:

A.
X. ________ begab sich am 23. September 2000, um 21.30 Uhr, in die Nähe des
B.________-Schulhauses in A.________. Dort näherte er sich den anwesenden
vier 15-jährigen Kindern, beobachtete sie über eine Stunde lang vom
angrenzenden Waldrand aus, zog seine Hosen herunter und onanierte. Die
Jugendlichen hatten ihn bemerkt und jeweils anhand der Glut der von ihm
gerauchten Zigaretten lokalisiert. Den eigentlichen Akt der
Selbstbefriedigung konnten sie nicht beobachten; sie realisierten aber, dass
er am Unterkörper nackt oder allenfalls nur leicht bekleidet war.

B.
Das Bezirksgericht Brugg sprach X.________ mit Urteil vom 9. Oktober 2001 von
der Anklage der sexuellen Handlung mit Kindern und des Exhibitionismus frei,
auferlegte ihm indes die Verfahrenskosten. Auf Berufung der
Staatsanwaltschaft und des Beurteilten hin erklärte das Obergericht des
Kantons Aargau X.________ der sexuellen Handlungen mit Kindern (Art. 187
Ziff. 1 StGB) schuldig und verurteilte ihn zu zwei Monaten Gefängnis
unbedingt. Eine hiegegen geführte eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde hiess
das Bundesgericht mit Urteil vom 20. September 2002 gut und hob das
angefochtene Urteil auf.

C.
Mit Urteil vom 24. Oktober 2002 erklärte das Obergericht des Kantons Aargau
X.________ erneut der sexuellen Handlung mit Kindern (Art. 187 Ziff. 1 StGB)
schuldig und verurteilte ihn zu zwei Monaten Gefängnis unbedingt.

D.
X.________ führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das
angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die
Vorinstanz zurückzuweisen.

E.
Das Obergericht des Kantons Aargau beantragt in seiner Vernehmlassung die
Abweisung der Beschwerde. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau schliesst
unter Verzicht auf Vernehmlassung ebenfalls auf Abweisung der Beschwerde.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Die kantonale Behörde muss bei einer Rückweisung ihrer neuen Entscheidung
die Begründung der Kassation zugrunde legen (Art. 277ter BStP). Das gilt im
Entscheidpunkt und für weitere Fragen insoweit, als sich die
bundesgerichtliche Kassation auf andere Punkte auswirkt und es der
Sachzusammenhang erfordert. In diesem Umfang ist die neue Entscheidung vor
Bundesgericht anfechtbar (BGE 123 IV 1 E. 1 mit Hinweisen).

Bei der Rückweisung kann die kantonale Instanz auf ihre im ersten Urteil
getroffenen tatsächlichen Feststellungen, sofern sie nicht oder erfolglos
angefochten wurden, nicht mehr zurückkommen (BGE 104 IV 276 E. 2b und d). Im
Falle eines Weiterzuges des neuen Entscheides der unteren Instanz ist das
Bundesgericht an die Erwägungen gebunden, mit denen es die Rückweisung
begründet hat.

1.2 Die Vorinstanz nahm in ihrem ersten Urteil vom 22. April 2002 an, der
Beschwerdeführer habe eine Wahrnehmung seiner sexuellen Handlung durch die
Kinder gewollt, respektive mindestens in Kauf genommen, wobei letzteres
ausreiche (E. 3b/bb in fine).

Das Bundesgericht erwog in seinem Rückweisungsentscheid vom 20. September
2002, beim Tatbestand der sexuellen Handlungen mit Kinden gemäss Art. 187
Ziff. 1 StGB genüge Eventualvorsatz bei der Tatvariante des Einbeziehens von
Kindern in eine sexuelle Handlung nicht. Der Täter müsse die Wahrnehmung
seiner sexuellen Handlungen durch die Kinder als eigentliches Handlungsziel
verfolgen (Urteil des Kassationshofs 6S.241/2002 vom 20.9.2002 E. 1.2). Das
Obergericht habe nicht ausdrücklich festgestellt, dass die Wahrnehmung seiner
Handlungen durch die Kinder das eigentliche Handlungsziel des
Beschwerdeführers gewesen sei. Das Bundesgericht hob daher das angefochtene
Urteil schon aus diesem Grund auf und prüfte die Rügen hinsichtlich des
objektiven Tatbestandes nicht.

1.3 Ob die Vorinstanz in ihrem neuen Urteil den von den verbindlichen
Erwägungen im Rückweisungsentscheid als Gegenstand der neuen Entscheidung
vorgegebenen Rahmen überschreitet, indem sie die tatsächlichen
Voraussetzungen für den direkten Vorsatz abklärt, kann offen bleiben. Wie
sich aus den nachfolgenden Erwägungen ergibt, ist die Beschwerde schon aus
objektiven Gründen gutzuheissen.

1.4 Nach der Rechtsprechung kann der neue Entscheid der kantonalen Instanz
vor Bundesgericht nicht mehr angefochten werden, wenn die Anfechtung bereits
in Bezug auf das erste Urteil möglich gewesen wäre und nach Treu und Glauben
für die betreffende Partei die Anfechtung zumutbar war (BGE 117 IV 97 E. 4a
S. 104).
Der Beschwerdeführer wendet sich in erster Linie gegen die Bejahung des
objektiven Tatbestandes der sexuellen Handlungen mit Kindern gemäss Art. 187
Ziff. 1 StGB. Er bringt aber insofern nichts vor, was er nicht schon in
seiner ersten Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil der Vorinstanz vom 22.
April 2002 vorgebracht hatte. Da die Rügen im Rückweisungsentscheid nicht
geprüft wurden, weil das angefochtene Urteil aus anderen Gründen aufgehoben
werden musste, ist auf diese nunmehr in diesem Verfahren einzutreten.

2.
2.1 Die Vorinstanz stellt für den Kassationshof verbindlich fest (Art. 277bis
Abs. 1 BStP), der Beschwerdeführer habe sich am fraglichen Abend den sich
beim Schulhaus befindenden Jugendlichen genähert, habe sich die Hosen
heruntergezogen und onaniert. Die 15-jährigen Kinder hätten ihn wahrgenommen
und realisiert, dass er am Unterkörper nackt oder allenfalls nur leicht
bekleidet gewesen sei. Sie hätten auch realisiert, dass der Beschwerdeführer
bei seinem Tun sexuelle Absichten verfolgt habe, was sich insbesondere aus
den Strafanträgen der betroffenen Mädchen ergebe. Die Jugendlichen hätten
zwar den eigentlichen Vorgang der Selbstbefriedigung des Beschwerdeführers
nicht beobachten können, hätten die gesamten Umstände jedoch richtig
eingeordnet und realisiert, dass dieser sexuelle Absichten verfolge. Sie
hätten dementsprechend den Vorgang als sexuelle Handlung interpretiert.

2.2 In objektiver Hinsicht gelangt die Vorinstanz zum Schluss, der
Beschwerdeführer habe die Kinder, indem er in ihrer Anwesenheit onaniert
habe, in eine sexuelle Handlung einbezogen. Der Tatbestand erfordere nicht,
dass die eigentliche sexuelle Handlung oder gar das Geschlechtsteil vom Kind
visuell wahrgenommen werde.

2.3 Das Bezirksgericht Brugg hatte demgegenüber den Beschwerdeführer in
seinem Urteil vom 9. Oktober 2001 vollumfänglich freigesprochen, weil die
Jugendlichen weder das Geschlechtsteil des Beschwerdeführers noch
irgendwelche Manipulationen daran wahrnehmen konnten.

3.
3.1 Gemäss Art. 187 Ziff. 1 StGB macht sich der sexuellen Handlungen mit
Kindern u.a. schuldig, wer ein Kind unter 16 Jahren in eine sexuelle Handlung
einbezieht (aura mêlé ... à un acte d'ordre sexuel; coinvolge ... in un atto
sessuale). Das frühere Recht hatte noch die blosse Vornahme einer solchen
Handlung vor einem Kind mit Strafe bedroht (Art. 191 Ziff. 2 aStGB). Die neue
Fassung des Gesetzes verdeutlicht, dass der Täter die geschlechtliche
Handlung bewusst vor dem Kinde ausführen und beabsichtigen muss, dass dieses
die Handlung wahrnimmt (Botschaft über die Änderung des Schweizerischen
Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes [Strafbare Handlungen gegen
Leib und Leben, gegen die Sittlichkeit und gegen die Familie] vom 26. Juni
1985, BBl 1985 II S. 1009, 1067). Das Einbeziehen des Kindes in eine sexuelle
Handlung bedeutet, dass der Täter das Kind gezielt zum Zuschauer seiner
sexuellen Handlungen, und dadurch zum Sexualobjekt macht (Trechsel,
Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2. Aufl., Zürich 1997, Art.
187 N 9; Stratenwerth/jenny, Schweizerisches Strafrecht, Bes. Teil I, 6.
Aufl., Bern 2003, § 7 N 16; Rehberg/Schmid, Strafrecht III, 7. Aufl., Zürich
1997, S. 382; Corboz, Les infractions en droit suisse, vol. I, Bern 2002, S.
723 N 24; vgl. auch Philipp Maier, Basler Kommentar, Strafgesetzbuch II, Art.
187 N 14; ders., Umschreibung von sexuellen Verhaltensweisen im Strafrecht,
AJP 1999, S. 1398 f.). Das ist etwa der Fall, wenn der Täter vor dem Kind mit
allen Zeichen sexueller Erregung onaniert (Jenny, Kommentar zum
Schweizerischen Strafrecht, 4. Band: Delikte gegen die sexuelle Integrität
und gegen die Familie, Art. 187 N 21; Stratenwerth/jenny, a.a.O., § 7 N 16).
Nicht erforderlich ist, dass das Kind den Vorgang als sexuelle Handlung
begreift; was der Täter mit seiner Handlung bezweckt, muss es nicht verstehen
(Jenny, a.a.O., Art. 187 N 15; Trechsel, a.a.O., Art. 187 N 5).

3.2 Nach den Feststellungen der Vorinstanz haben die Jugendlichen hier
lediglich wahrgenommen, dass der Beschwerdeführer "am Unterkörper nackt oder
allenfalls nur leicht bekleidet war". Seinen Penis oder die eigentliche
Selbstbefriedigung haben sie nicht gesehen. Nach Auffassung der Vorinstanz
haben sie "den Vorgang aber gestützt auf die gesamten Umstände als sexuelle
Handlung interpretiert" bzw. haben sie "die gesamten Umstände richtig
eingeordnet und realisiert, dass der Beschwerdeführer sexuelle Absichten
verfolgte".

Dies lässt sich, wie der Beschwerdeführer zu Recht einwendet, nicht als
Wahrnehmung einer sexuellen Handlung im Sinne von Art. 187 Ziff. 1 StGB
würdigen. Der Tatbestand des Einbeziehens von Kindern in eine sexuelle
Handlung erfordert, dass diese den äusseren Vorgang der sexuellen Handlung
als Ganzes unmittelbar sinnlich wahrnehmen (vgl. Trechsel, a.a.O., Art. 187 N
9). Unmittelbar wahrgenommen haben die Jugendlichen hier, wie ausgeführt,
aber nur, dass der Beschwerdeführer etliche Zeit auf dem Schulhausareal
herumgeschlichen ist und dass er im Bereich des Unterkörpers - jedenfalls an
den Oberschenkeln - nicht bekleidet war. Das fällt nicht unter den Tatbestand
der sexuellen Handlungen mit Kindern im Sinne von Art. 187 Ziff. 1 StGB.

Keiner der Jugendlichen schildert in seinen Aussagen vor der Kantonspolizei
denn auch nur ansatzweise, er hätte beobachtet, wie der Beschwerdeführer sich
selbst befriedigt habe, dass er an seinem Körper Manipulationen vorgenommen
habe, die auf so etwas hätten schliessen lassen, oder dass sie das Glied des
Beschwerdeführers gesehen hätten. Die Vorinstanz stützt sich für ihren
Schuldspruch letztlich allein auf den Umstand, dass der Beschwerdeführer
anlässlich seiner Einvernahme durch die Kantonspolizei zugestanden hatte, er
habe sich am fraglichen Ort - nach seiner Darstellung allerdings vor
Eintreffen der Jugendlichen - selbst befriedigt. Aus diesem Zugeständnis
lässt sich aber nicht ableiten, die Jugendlichen hätten die
Selbstbefriedigung des Beschwerdeführers auch tatsächlich gesehen. Das folgt
entgegen der Auffassung der Vorinstanz auch nicht daraus, dass die
betroffenen Mädchen Strafantrag erhoben haben und dass der Beschwerdeführer
nach Eintreffen der alarmierten Polizei die Flucht ergriffen hat.
Es mag zutreffen, dass die Jugendlichen die Verhaltensweise des
Beschwerdeführers als belästigende sexuelle Handlung eingeordnet haben. Diese
Zuweisung eines sexuellen Bedeutungsgehalts kann sich aber nur darauf
beziehen, was von ihnen tatsächlich unmittelbar beobachtet werden konnte,
nämlich dass der Beschwerdeführer sich ihnen während einiger Zeit in
teilweise unbekleidetem Zustand mehrfach genähert hat. Das ist keine sexuelle
Handlung im Sinne des Gesetzes (vgl. BGE 125 IV 58 E. 3b). Wie der
Beschwerdeführer zu Recht vorbringt, ist der Tatbestand der sexuellen
Handlungen mit Kindern nicht erfüllt, wenn sich die Wahrnehmungen der Kinder
lediglich auf die Begleitumstände der sexuellen Handlung beschränken.

Im Übrigen ist zu beachten, dass der Einbezug eines Kindes in eine sexuelle
Handlung den Tatvarianten der Vornahme einer sexuellen Handlung mit einem
Kinde oder der Verleitung eines Kindes zu einer solchen Handlung gleichsteht
und dass für alle Tatvarianten dieselben Strafdrohungen, nämlich Zuchthaus
bis zu fünf Jahren oder Gefängnis, gelten. Der Tatbestand des Einbeziehens
erfordert daher eine Verhaltensweise von einiger Erheblichkeit, mithin eine
ähnlich intensive Beteiligung des Kindes wie bei den anderen beiden
Tatvarianten der Vornahme oder der Verleitung (vgl. Jenny, a.a.O., Art. 187 N
16).

Der Schluss der Vorinstanz, der Beschwerdeführer habe den objektiven
Tatbestand des Art. 187 Ziff. 1 StGB erfüllt, verletzt daher Bundesrecht. Die
Beschwerde erweist sich somit als begründet.

4.
Die Vorinstanz hat die Frage, ob sich der Beschwerdeführer auch des
Exhibitionismus schuldig gemacht habe, nicht geprüft, da Art. 194 Abs. 1 StGB
von Art. 187 Ziff. 1 StGB konsumiert werde. Dass der Schuldspruch der
sexuellen Handlungen mit Kindern aufgehoben werden muss, führt indes nicht zu
einer Verurteilung wegen exhibitionistischer Handlungen. Denn auch Art. 194
Abs. 1 StGB, der das bewusste Zurschaustellen der Sexualorgane aus sexuellen
Beweggründen, bzw. das Entblössen des männlichen Glieds vor einem
ahnungslosen Opfer zum Zweck der Erregung oder Befriedigung der
Geschlechtslust unter Strafe stellt, erfordert, dass das entblösste
Sexualorgan tatsächlich wahrgenommen wird (Stratenwerth/jenny, a.a.O., § 10 N
20). Dies ist nach den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz, wie
ausgeführt, nicht der Fall.

5.
Aus diesen Gründen ist die Beschwerde gutzuheissen. Bei diesem Ausgang des
Verfahrens sind keine Kosten zu erheben und ist dem Beschwerdeführer eine
angemessene Entschädigung auszurichten (Art. 278 Abs. 2 und 3 BStP).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Obergerichts des Kantons Aargau vom 24. Oktober 2002 aufgehoben und die Sache
zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Dem Beschwerdeführer wird für das bundesgerichtliche Verfahren eine
Entschädigung von Fr. 3'000.-- aus der Bundesgerichtskasse ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons
Aargau und dem Obergericht des Kantons Aargau, 2. Strafkammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 10. April 2003

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: