Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6S.430/2002
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6S.430/2002 /pai

Urteil vom 13. Dezember 2002
Kassationshof

Bundesrichter Schubarth, Präsident,
Schneider, Wiprächtiger, Kolly, Karlen,
Gerichtsschreiberin Bendani.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Marc Wollmann, Spitalstrasse
12, Postfach, 2501 Biel/Bienne,

gegen

Generalprokurator des Kantons Bern, Postfach 7475,
3001 Bern.

Einfache Verkehrsregelverletzung,

Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil der 1. Strafkammer des Obergerichtes
des Kantons Bern vom 8. August 2002.

Sachverhalt:

A.
Am 24. September 2000 fuhr A.________ mit seinem Auto in einer stockenden
Kolonne auf der Hauptstrasse A5 in Richtung Biel. Auf der Höhe von
Tüscherz-Alfermée schlug er die Räder nach links ein, um zu wenden, ohne dass
er zuvor gegen die Mittellinie eingespurt hatte. Nachdem er auf der
übersichtlichen Strecke Richtung Biel keinen Gegenverkehr sah, stellte er den
linken Blinker, blickte in den Aussenrückspiegel und über die Schulter zurück
und begann, da er keinen Verkehr von hinten sah, langsam mit dem
Wendemanöver. Als er sich mitten auf der Gegenfahrbahn in einem Winkel von
ca. 90 Grad zur Fahrbahn befand, fuhr X.________ seitlich in sein Fahrzeug.
X.________ war mit seinem Motorrad ebenfalls in Richtung Biel unterwegs.
Ungefähr 100 bis 150 Meter vor der Unfallstrecke hatte er die stockende
Kolonne mit einer Geschwindigkeit von 60-80 km/h links zu überholen begonnen,
ohne die Gewissheit zu haben, wieder regelkonform einbiegen zu können. Dabei
erblickte er den links abbiegenden Personenwagen von A.________ etwa 20 bis
30 Meter vor der Unfallstelle, als er einen Zusammenstoss nicht mehr
verhindern konnte. Das Motorrad fuhr frontal in die hintere linke Seite des
Autos. X.________ und sein Mitfahrer erlitten diverse Verletzungen.

B.
Der Gerichtspräsident 8 des Gerichtskreises II Biel-Nidau sprach am 6. März
2002 A.________ und X.________ frei.

C.
Auf Einsprache der Staatsanwaltschaft und von X.________ hin verurteilte die
erste Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern A.________ wegen
einfacher fahrlässiger Körperverletzung gemäss Art. 125 StGB zu einer Busse
von 600 Franken und X.________ wegen einfacher Verkehrsregelverletzung in
Anwendung von Art. 35 Abs. 2 und 3 und 90 Ziff. 1 SVG zu einer Busse von 300
Franken.

D.
X.________ führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das
Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an
die Vorinstanz zurückzuweisen.

E.
Das Obergericht hat auf Gegenbemerkungen verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
In Anwendung von Art. 37 Abs. 3 OG wird dieses Urteil auf Deutsch, d.h. in
der Sprache verfasst, in welcher der angefochtene Entscheid erging, obwohl
die Beschwerde auf Französisch eingereicht wurde.

2.
Die Nichtigkeitsbeschwerde kann nur damit begründet werden, dass die
angefochtene Entscheidung eidgenössisches Recht verletze (Art. 269 Abs. 1
BStP). Ausführungen, die sich gegen die tatsächlichen Feststellungen des
Entscheides richten, sowie das Vorbringen neuer Tatsachen sind unzulässig
(Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP). Der Kassationshof ist im Verfahren der
eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde an den von den kantonalen Behörden
festgestellten Sachverhalt gebunden (Art. 277bis Abs. 1 BStP). Auf eine
Beschwerde kann deshalb insoweit nicht eingetreten werden, als darin von
einem abweichenden Sachverhalt ausgegangen oder der Sachverhalt angefochten
wird (BGE 126 IV 65 E. 1 S. 66 mit Hinweisen).

3.
Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung von Art. 35 Abs. 2 und 3 SVG
geltend.

3.1  Seine Verurteilung wegen Verletzung der Verkehrsregeln beruht auf Art.
90 Ziff. 1 SVG in Verbindung mit Art. 35 Abs. 2 und 3 SVG. Die Vorinstanz
begründet ihren Entscheid wie folgt:

Der Beschwerdeführer habe sich in einer unklaren Verkehrssituation befunden
und daher beispielsweise damit rechnen müssen, dass andere Verkehrsteilnehmer
wenden, um dem Stau zu entkommen. Da sich die Kolonne langsam vorwärts bewegt
habe und seitlich verschoben gewesen sei, habe es der Beschwerdeführer an der
besonderen Rücksicht gegenüber den anderen Verkehrsteilnehmern mangeln
lassen, als er sie überholte. Zudem sei er gegenüber den überholten
Fahrzeugen nicht vortrittsberechtigt gewesen, da er nicht habe ausschliessen
können, dass weiter vorne in der Kolonne ein Fahrzeug bereits den Blinker zum
Linksabbiegen gestellt habe, womit er zum Überholen gar nicht mehr berechtigt
gewesen wäre. Die Geschwindigkeit müsse beim Überholen den
Verkehrsverhältnissen angepasst sein, um die überholten Fahrzeuge frühzeitig
wahrnehmen und zeitgerecht reagieren zu können. Angesichts der heiklen
Verkehrslage hätte der Beschwerdeführer vor allem dort, wo die Fahrzeuge in
der Kolonne seitlich verschoben waren, seine Geschwindigkeit den
Erfordernissen des Verkehrs anpassen und viel langsamer überholen sollen. Er
habe seine mangelnde Aufmerksamkeit selber zugegeben, indem er erklärte, den
Blinker des abbiegenden Fahrzeuges nicht gesehen zu haben. Er könne sich auch
nicht auf das Vertrauensprinzip berufen, da er bei seinem Manöver keine
Gewissheit gehabt habe, rechtzeitig und ohne Behinderung anderer
Fahrzeuglenker wieder einbiegen zu können.

3.2  Der zweite Abschnitt des Strassenverkehrsgesetzes (SVG) "Regeln für den
Fahrverkehr" ist in folgende fünf Titel eingeteilt: "I. Allgemeine
Fahrregeln" (Art. 29 bis 32 SVG), "II. Einzelne Verkehrsvorgänge" (Art. 34
bis 38 SVG), "III. Sicherungsvorkehren" (Art. 39 bis 42 SVG), "IV. Regeln für
besondere Strassenverhältnisse" (Art. 43 bis 45 SVG) und "V. Besondere
Fahrzeugarten" (Art. 46 bis 48 SVG). Aus dieser Systematik ergibt sich, dass
es allgemeine Bestimmungen gibt, welche für den Verkehr generell gelten, und
besondere in den Titeln IV. und V. aufgeführte Normen. Die in Art. 35 SVG
aufgestellten Überholregeln sind allgemeine Bestimmungen, die auf alle
Fahrzeuglenker anwendbar sind (vgl. Bussy/Rusconi, Code suisse de la
circulation routière, Commentaire, 3. Aufl., S. 355 N. 2.1 lit. e). Die
spezielle Regel von Art. 47 SVG betrifft hingegen nur Motorradfahrer.

3.2.1  Gemäss Art. 35 Abs. 2 SVG sind Überholen und Vorbeifahren an
Hindernissen nur gestattet, wenn der nötige Raum übersichtlich und frei ist
und der Gegenverkehr nicht behindert wird. Im Kolonnenverkehr darf nur
überholen, wer die Gewissheit hat, rechtzeitig und ohne Behinderung anderer
Fahrzeuge wieder einbiegen zu können. Wer eine Fahrzeugkolonne überholen
will, muss sich vergewissern, dass diese gesetzlichen Voraussetzungen im
Zeitpunkt erfüllt sind, wo er zum Überholen ansetzt. Wer keine Gewissheit
hat, bevor er das Überholmanöver einleitet, gefahrlos vor dem Ende des für
ihn sichtbaren Raums wieder einbiegen zu können, verletzt somit Art. 35 Abs.
2 SVG (BGE 121 IV 235 E. 1b S. 237; 105 IV 336 E. 2 S. 337).

Abs. 3 von Art. 35 SVG bestimmt, dass der Überholende auf die übrigen
Strassenbenützer, namentlich jene, die er überholt, besonders Rücksicht
nehmen muss. So darf zum Beispiel in unübersichtlichen Kurven nicht überholt
werden (Art. 35 Abs. 4 SVG). Ebenso wenig darf überholt werden, wenn ein
Fahrzeugführer die Absicht anzeigt, nach links abzubiegen (Art. 35 Abs. 5
SVG). Hingegen dürfen Fahrzeuge, die zum Abbiegen nach links eingespurt sind,
rechts überholt werden (Art. 35 Abs. 6 SVG, vgl. BGE 125 IV 83 E. 1a S. 84).

Überholen gehört - vorab natürlich auf Strassen mit Gegenverkehr - zu den
gefährlichsten Fahrmanövern. Die Regeln über das Überholen bezwecken
durchwegs, diese Fahrmanöver entweder zu verbieten in Situationen, in denen
sie üblicherweise übergrosse Gefahren bewirken, oder sie an eine Reihe von
Anforderungen zu knüpfen, bei deren Beachtung die zusätzlichen Risiken
minimiert werden. Überholen ist nur gestattet, wenn es nicht überhaupt
verboten ist, der nötige Raum übersichtlich und frei ist und der Gegenverkehr
nicht behindert oder gefährdet wird (René Schaffhauser, Grundriss des
schweizerischen Strassenverkehrsrechts, Band I, Grundlagen, Verkehrszulassung
und Verkehrsregeln, Bern 2002, S. 326, N. 716 f.).

3.2.2  Gemäss Art. 47 Abs. 2 SVG haben Motorradfahrer ihren Platz in der
Fahrzeugkolonne beizubehalten, wenn der Verkehr angehalten wird. Das
Bundesgericht hat entschieden, dass diese Bestimmung in Verbindung mit der
allgemeinen Vorsichtsregel von Art. 26 SVG und den Überholregeln von Art. 35
SVG dem sich in einer Fahrzeugkolonne befindenden Motorradfahrer die Pflicht
zum Anhalten auferlegt, wenn das Fahrzeug vor ihm oder jenes, das er gerade
überholt, anhält. Dieselbe Pflicht trifft den Motorradfahrer, wenn die
Fahrzeugkolonne sich langsam und stockend fortbewegt und ein Fahrzeuglenker
innerhalb der Kolonne aus Höflichkeit einen anderen Verkehrsteilnehmer sich
einfügen lässt (Urteil C.349/1983 vom 19. Dezember 1983, Rep. 1985 118 27,
JdT 1984 I 414). Motorradfahrer dürfen eine stehende Kolonne weder links
überholen noch rechts an ihr vorbeifahren; einzig Radfahrer und
Motorfahrradführer dürfen rechts an einer Motorfahrzeugkolonne vorbeifahren
(Art. 42 Abs. 3 Verkehrsregelnverordnung [VRV], Bussy/Rusconi, a.a.O., S. 468
N. 2.8).
3.3  Der Beschwerdeführer macht geltend, sein Überholmanöver sei in Anwendung
von Art. 35 Abs. 2 SVG erfolgt, da der nötige Raum übersichtlich gewesen sei
und nichts habe darauf schliessen lassen, dass sich ein überholtes Fahrzeug
verkehrsregelwidrig verhalten würde. Er beruft sich auf Art. 35 Abs. 3 SVG
und führt aus, während des regelkonformen Überholens habe er laut
Vertrauensprinzip davon ausgehen können, dass andere Verkehrsteilnehmer sein
Vortrittsrecht nicht durch ein plötzliches Ausscheren verletzen würden. Seine
Geschwindigkeit hätte ihn nicht daran gehindert, rechtzeitig zu reagieren,
wenn sich ein Fahrzeuglenker verkehrsregelgerecht verhalten und seine
Absicht, nach links abzubiegen, angezeigt hätte.

3.3.1  Der Beschwerdeführer beruft sich weitgehend auf einen Sachverhalt,
welcher von den Feststellungen der Vorinstanz abweicht. Insoweit sind seine
Vorbringen nicht zu hören (vgl. E. 2).

3.3.2  Die Vorinstanz hält fest, dass es zwar einem Motorradfahrer bei einer
mit einer Geschwindigkeit von bis zu 20 km/h fahrenden Kolonne faktisch immer
möglich sei, sich irgendwo wieder einzufügen, dass der Beschwerdeführer sich
aber über das Wiedereinbiegen gar keine Gedanken gemacht habe. Da verbindlich
feststeht (vgl. Art. 277bis Abs. 1 BStP), dass er das Überholmanöver
einleitete, ohne die Gewissheit zu haben, über den nötigen Raum zwischen zwei
Fahrzeugen zu verfügen, um rechtzeitig und ohne Behinderung anderer Fahrzeuge
wieder einbiegen zu können, hat der Beschwerdeführer Art. 35 Abs. 2 SVG
verletzt und dies selbst, wenn er schliesslich doch genügend Raum gehabt
hätte (vgl. E. 3.2.1).
3.3.3  Es erhellt aus den verbindlichen tatsächlichen Feststellungen, dass
die Verkehrssituation unklar war, namentlich am Unfallort, weil die
Fahrzeugkolonne seitlich verschoben war, einige Fahrzeuge still standen,
andere sich langsam bewegten und der verunfallte Fahrzeuglenker sein
Blinklicht eingeschaltet hatte. Auf der Gegenfahrbahn war die Strecke
hingegen übersichtlich und verkehrsfrei. Man kann sich deshalb fragen, ob der
Beschwerdeführer in einer derartigen Verkehrssituation nicht damit rechnen
musste, dass ein Fahrzeug wenden würde, um dem Stau zu entkommen, und sein
Verhalten daher unvorsichtig war, als er die Kolonne mit hoher
Geschwindigkeit links überholte. Diese Frage kann indessen offen bleiben, da
die Verletzung von Art. 35 Abs. 3 SVG vorliegend durch die Verletzung von
Art. 47 Abs. 2 SVG konkretisiert wird:

Gemäss den verbindlichen tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz
herrschte stockender Verkehr und hat der Beschwerdeführer mit einer
Geschwindigkeit von 60 km/h bis 80 km/h eine zum Teil stehende, zum Teil sehr
langsam fahrende Kolonne überholt. Die Vorinstanz hält weiter fest, dass
A.________ innerhalb der Kolonne stillstand und die Räder nach links
eingeschlagen hatte, um zu wenden. Unter diesen Umständen waren die
Voraussetzungen von Art. 47 Abs. 2 SVG erfüllt. Der Beschwerdeführer durfte
deshalb nicht überholen, sondern musste seinen Platz in der Kolonne
beibehalten.

Indem der Beschwerdeführer Art. 47 Abs. 2 SVG verletzt hat, hat er auch gegen
die allgemeinen Regeln betreffend das Überholen verstossen. Denn wer ein
wegen seiner Gefährlichkeit verbotenes Überholmanöver ausführt, lässt es
zugleich an der für ein solches Manöver im Allgemeinen vorgeschriebenen
nötigen Vorsicht mangeln.

Deshalb verletzt die Vorinstanz kein Bundesrecht, wenn sie annimmt, der
Beschwerdeführer habe die Art. 35 Abs. 3 SVG entsprechende besondere
Rücksicht auf die übrigen Strassenbenützern nicht wahrgenommen, als er diese
mit übersetzter Geschwindigkeit überholte und als er dieses Manöver
einleitete, ohne die Gewissheit zu haben, wieder einbiegen zu können (Art. 35
Abs. 2 SVG).

4.
Aus diesen Gründen ist die Nichtigkeitsbeschwerde abzuweisen, soweit darauf
einzutreten ist. Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdeführer
die Kosten (Art. 278 Abs. 1 BStP).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf
einzutreten ist.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Generalprokurator sowie der 1.
Strafkammer des Obergerichtes des Kantons Bern schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 13. Dezember 2002

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: