Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6S.355/2002
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6S.355/2002 /kra

Urteil vom 8. Januar 2003
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Schubarth, Wiprächtiger
Gerichtsschreiber Borner.

P. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Jürg Federspiel, Lindenstrasse
37, Postfach 356, 8034 Zürich,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Postfach, 8023 Zürich.

Landesverweisung (bandenmässiger Diebstahl),

Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich,
II. Strafkammer, vom 11. Juni 2002.

Sachverhalt:

A.
Das Bezirksgericht Dielsdorf verurteilte P.________ am 6. Dezember 2001 wegen
gewerbs- und bandenmässigen Diebstahls, mehrfacher Sachbeschädigung,
mehrfachen Hausfriedensbruchs und versuchter Begünstigung zu 28 Monaten
Zuchthaus und 7 Jahren Landesverweisung; den Vollzug der Nebenstrafe schob es
nicht auf.

Auf Berufung des Verurteilten sprach ihn das Obergericht des Kantons Zürich
am 11. Juni 2002 von der Anschuldigung der versuchten Begünstigung frei; es
verurteilte ihn zu 24 Monaten Zuchthaus sowie 5 Jahren Landesverweisung und
bestätigte im Übrigen den erstinstanzlichen Entscheid.

B.
P.________ führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt, der
angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die
Vorinstanz zurückzuweisen.

Das Obergericht und die Bezirksanwaltschaft II für den Kanton Zürich haben
auf eine Stellungnahme verzichtet (act. 5 und 9).

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Gemäss Art. 55 Abs. 1 StGB kann der Richter den Ausländer, der zu Zuchthaus
oder Gefängnis verurteilt wird, für 3 bis 15 Jahre aus dem Gebiete der
Schweiz verweisen. Bei Rückfall kann Verweisung auf Lebenszeit ausgesprochen
werden.
Die Landesverweisung ist Nebenstrafe und Sicherungsmassnahme zugleich. Sie
hat überwiegend den Charakter einer sichernden Massnahme. Wegen ihres
Charakters als Nebenstrafe ist sie in Anwendung von Art. 63 StGB anzuordnen,
d.h. nach dem Verschulden des Täters unter Berücksichtigung der Beweggründe,
des Vorlebens und der persönlichen Verhältnisse des Schuldigen. Es ist im
Einzelfall dem Straf- und dem Sicherungszweck Rechnung zu tragen. Dabei
verfügt die Vorinstanz über einen Ermessensspielraum. Das Bundesgericht
greift nur ein, wenn sie ihr Ermessen überschritten und einen unhaltbar
harten oder milden Entscheid gefällt hat (BGE 123 IV 107 E. 1).

Art. 8 Ziff. 1 EMRK - und seit dem 1. Januar 2000 auch ausdrücklich Art. 13
Abs. 1 BV - gewährleistet das Recht auf Achtung des Privat- und
Familienlebens. Darauf kann sich der Ausländer berufen, der eine familiäre
Beziehung oder nahe Verwandte mit einem gefestigten Anwesenheitsrecht in der
Schweiz hat; wird ihm selber die Anwesenheit in der Schweiz untersagt, kann
dies Art. 8 EMRK verletzen (BGE 126 II 425 E. 2; BGE 122 II 1 E. 1e). Ein
Eingriff ist aber zulässig, insoweit er gesetzlich vorgesehen ist und eine
Massnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die
nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche
Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von
strafbaren Handlungen, zum Schutze der Gesundheit und Moral sowie der Rechte
und Freiheiten anderer notwendig ist. Die Konvention verlangt also eine
Abwägung der sich gegenüberstehenden privaten und öffentlichen Interessen,
wobei die öffentlichen in dem Sinn überwiegen müssen, dass sich der Eingriff
als notwendig erweist. Nebst den persönlichen und familiären Verhältnissen
ist insbesondere der Art und Schwere des strafbaren Verhaltens Rechnung zu
tragen, der Dauer des Aufenthalts im Gaststaat, wie lange das Verbrechen
zurückliegt und wie sich der Betroffene in der Zwischenzeit verhalten hat.
Von Bedeutung können auch die Umstände des Eheschlusses sein, die
Nationalität der Ehepartner, ob diese Kinder haben und wie alt diese sind.
Sodann ist bei der Interessenabwägung zu fragen, ob der Ehefrau zugemutet
werden kann, dem Beschwerdeführer ins Ausland zu folgen. Die Frage der
Zumutbarkeit bewertet sich nicht nach den persönlichen Wünschen der
Betroffenen, sondern ist unter Berücksichtigung ihrer persönlichen
Verhältnisse und aller Umstände objektiv zu beurteilen (Urteil des EGMR i.S.
Boultif c. Schweiz vom 2. August 2001, Ziff. 46-48; BGE 122 II 1 E. 2; 115 Ib
1 E. 3).

1.1 Die Vorinstanz führt zur Begründung der Landesverweisung aus, der
Beschwerdeführer sei zu einer längeren Freiheitsstrafe zu verurteilen. Sein
Verschulden wiege schwer. Als Einbrecher, der die Diebstähle in der Art eines
Berufes verübt und zudem als Mitglied einer Bande gewirkt habe, stelle er
eine erhebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit dar. Er sei
"hierzulande nicht eben stark verwurzelt", wenn auch seine Ehefrau und eine
Schwester in der Schweiz lebten. Seine übrige Familie wohne im Kosovo. Zudem
spreche er nur wenig Deutsch.

Unter Berücksichtigung dieser Umstände und der bislang erwirkten Vorstrafen
sowie im Verhältnis zu den Hauptstrafen erweise sich die Nebenstrafe von fünf
Jahren Landesverweisung als angemessen.

1.2 Der Beschwerdeführer macht geltend, die Anordnung einer Landesverweisung
von einer Dauer von 5 Jahren erscheine angesichts der Taten unangemessen
hoch. Er habe zwar banden- und gewerbsmässig gehandelt, doch sei er
beispielsweise kein Schlafzimmerräuber gewesen, sondern sei nachts in
menschenleere Geschäftslokalitäten eingebrochen. Seine kriminelle Energie sei
in diesem Sinne deutlich limitiert gewesen. Sollte er, was aktenwidrig sei,
tatsächlich nur wenig Deutsch sprechen, so sei zu berücksichtigen, dass er
immerhin fliessend und korrekt Italienisch und damit eine unserer
Landessprachen spreche. Er befinde sich seit 1995 in der Schweiz; eine
Schwester lebe ebenfalls hier. Er sei aber bereits seit 1997 mit seiner in
der Schweiz niedergelassenen Ehefrau verheiratet. Mit ihr lebe er schon
jahrelang in einer intakten Ehe. Mit diesem Umstand setze sich die Vorinstanz
überhaupt nicht auseinander. Sie habe es aber auch nicht für nötig erachtet,
im Hinblick auf Art. 8 EMRK sowie Art. 13 Abs. 1 und Art. 14 BV im Rahmen
einer Interessenabwägung wenigstens zu fragen, ob der Ehefrau zugemutet
werden könne, dem Beschwerdeführer ins Ausland zu folgen.

1.3 Die vorinstanzliche Begründung ist in der Tat sehr kurz ausgefallen (E.
1.2). Selbst wenn man auf die Strafzumessungserwägungen zurückgreift, wird
nicht deutlich, wie die Vorinstanz die Abwägung der sich gegenüberstehenden
privaten und öffentlichen Interessen vorgenommen hat. Insbesondere fehlt eine
Auseinandersetzung mit der Frage, ob der Ehefrau des Beschwerdeführers
zugemutet werden kann, ihm ins Ausland zu folgen. Wegen dieses Mangels und
anderer Mängel im Zusammenhang mit der Beurteilung des bedingten Vollzugs der
Landesverweisung (E. 2.2) ist der angefochtene Entscheid aufzuheben.

2.
Gemäss Art. 41 Ziff. 1 Abs. 1 StGB kann der Richter den Vollzug der
Landesverweisung aufschieben, wenn Vorleben und Charakter des Verurteilten
erwarten lassen, er werde dadurch von weiteren Verbrechen oder Vergehen
abgehalten. Ob die Landesverweisung bedingt aufgeschoben oder vollzogen
werden soll, hängt einzig von der Prognose über das zukünftige Verhalten des
Verurteilten in der Schweiz ab; nicht von Bedeutung ist dabei die Frage, ob
die Aussichten der Wiedereingliederung in der Schweiz oder im Heimatland
besser sind. Ob der Vollzug geeignet sei, den Angeklagten von der Begehung
weiterer Straftaten abzuhalten, muss auf Grund einer Gesamtwürdigung
entschieden werden. In die Beurteilung mit einzubeziehen sind neben den
Tatumständen das Vorleben und der Leumund sowie alle weiteren Tatsachen, die
gültige Schlüsse auf den Charakter des Täters und die Aussichten seiner
Bewährung zulassen. Es ist unzulässig, unter den nach Art. 41 Ziff. 1 Abs. 1
StGB zu berücksichtigenden Umständen einzelnen eine vorrangige Bedeutung
beizumessen und andere zu vernachlässigen oder überhaupt ausser Acht zu
lassen (BGE 123 IV 107 E. 4a).

2.1 Die Vorinstanz führt aus, der Beschwerdeführer sei 1995 als Asylbewerber
in die Schweiz eingereist, habe seit Ende jenes Jahres bereits viermal
verurteilt werden müssen und habe drei Freiheitsstrafen verbüsst. Dennoch
habe er unbekümmert und stets massiver weiter delinquiert und damit
dargelegt, dass er sich durch keinen staatlichen Eingriff von der Begehung
strafbarer Handlungen abhalten lasse. Die Prognose für künftiges
Wohlverhalten in der Schweiz sei sehr ungünstig. Seine Bindungen hierzulande,
abgesehen von jenen zu den Mittätern und zu anderen Landsleuten, seien im
Übrigen offensichtlich nicht von derart grosser Bedeutung, dass sich ein
Vollzug der Nebenstrafe als unangemessen beurteile. Ebenso stehe fest, dass
ihm auch seine Ehefrau bis anhin offensichtlich nie den notwendigen Halt habe
bieten und ihn von der Delinquenz abhalten können; es sei nicht einzusehen,
weshalb sich dies nun ändern solle.

2.2 Diese Beurteilung ist zum Teil einseitig und trägt nicht allen
wesentlichen Elementen Rechnung. Es trifft zwar zu, dass der Beschwerdeführer
- bevor er die hier zu beurteilenden Straftaten beging - innerhalb relativ
kurzer Zeit viermal bestraft werden musste und deshalb Freiheitsstrafen von
25 und 30 Tagen sowie von drei Monaten verbüsste. Wie die Vorinstanz aber
selbst festhält, handelte es sich dabei nicht um sehr gravierende Sanktionen.
Von Bedeutung ist aber auch, dass der Beschwerdeführer nun erstmals eine
längere Freiheitsstrafe verbüsst hat. Ob diese Strafverbüssung beim
Beschwerdeführer einen bleibenden Eindruck mit entsprechender Warnwirkung
hinterlassen hat, dazu schweigt sich die Vorinstanz aus. Ebenso wenig äussert
sie sich zur Frage, ob das Geständnis des Beschwerdeführers prognoserelevant
sei. Nachdem sie im Rahmen der Strafzumessung ausgeführt hatte, entgegen der
erstinstanzlichen Auffassung könne sein Geständnis durchaus leicht
strafmindernd berücksichtigt werden, hätte sie zumindest darlegen müssen,
weshalb dem Geständnis im Hinblick auf die Prognose nichts Positives
abzugewinnen sei. Schliesslich hätte die Vorinstanz auch prüfen müssen, ob
nicht im Hinblick auf die vom Beschwerdeführer geltend gemachte intensive
eheliche Beziehung eine bedingt aufgeschobene Landesverweisung den nötigen
Druck zu erzeugen vermöchte, den Beschwerdeführer von weiteren Straftaten
abzuhalten.

3.
Nach dem bisher Gesagten hat die Vorinstanz wesentliche Gesichtspunkte nicht
berücksichtigt bzw. gewichtet, weshalb der angefochtene Entscheid aufzuheben
ist. Bei der Neubeurteilung des Falles wird die Vorinstanz von der
dannzumaligen Situation auszugehen haben. Deshalb erübrigt sich im jetzigen
Zeitpunkt eine Erörterung mit Sachverhalten, die sich bis zum neuen
Urteilszeitpunkt verändern können.

Bei diesem Ausgang des Verfahrens ist das Gesuch des Beschwerdeführers um
unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos. Sein Rechtsvertreter hat eine
angemessene Parteientschädigung zugut; auf die Erhebung von Kosten ist zu
verzichten (Art. 278 Abs. 2 und 3 BStP).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, der Entscheid des Obergerichts
des Kantons Zürich vom 11. Juni 2002 aufgehoben und die Sache zur
Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wird aus der Bundesgerichtskasse
mit Fr. 2'000.-- entschädigt.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons
Zürich und dem Obergericht des Kantons Zürich, II. Strafkammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 8. Januar 2003

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: