Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6S.253/2002
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6S.253/2002 /kra

Sitzung vom 3. Dezember 2002
Kassationshof

Bundesrichter Schubarth, Präsident,
Bundesrichter Schneider, Wiprächtiger, Kolly, Karlen,
Gerichtsschreiber Näf.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Roger Zuber, Münzgraben 6, 3000
Bern 7,

gegen

Generalprokurator des Kantons Bern, Postfach 7475, 3001 Bern.

Verfügung über mit Beschlag belegte Vermögenswerte (Art. 169 StGB),

Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil der 1. Strafkammer des Obergerichts
des Kantons Bern vom 4. April 2002.

Sachverhalt:

A.
Beim Pfändungsvollzug durch das Betreibungs- und Konkursamt Berner
Jura-Seeland, Dienststelle Büren a.A., wurde am 20. Juni 2000 im Rahmen einer
Betreibung gegen X.________ unter anderem ein Personalcomputer "Pentium III
500" inklusive Drucker, Jahrgang 1999, gepfändet, dessen Wert auf Fr. 800.--
geschätzt wurde. Im August 2000 reichten zwei Gläubiger das
Verwertungsbegehren ein. Da X.________ in der Zwischenzeit nach Wil/SG
umgezogen war, beauftragte das Betreibungs- und Konkursamt Berner
Jura-Seeland das Betreibungsamt Wil mit der Durchführung der Verwertung.

Als der Beamte des Betreibungsamtes Wil unter anderem den gepfändeten
Personalcomputer zur Verwertung abholen wollte, gab X.________ ihm durch
unterschriebene Erklärung vom 31. Oktober 2000 an, der Personalcomputer sei
im Frühjahr 2000 verkauft worden.

Am 23. Januar 2001 erstattete das Betreibungs- und Konkursamt Berner
Jura-Seeland gegen X.________ Strafanzeige wegen Verfügung über mit Beschlag
belegte Vermögenswerte im Sinne von Art. 169 StGB. Im Strafverfahren sagte
X.________ am 19. Juli 2001 als Beschuldigter aus, dass er den
Personalcomputer in Tat und Wahrheit nicht verkauft habe. Er habe dem Beamten
die Unwahrheit gesagt, um zu verhindern, dass dieser das Gerät mitnehme. Der
Computer befinde sich nach wie vor in seiner Wohnung. X.________ wurde vom
Gerichtspräsidenten aufgefordert, den Computer beim Gericht abzugeben. Am 7.
September 2001 lieferte X.________ das Gerät beim Gericht ab.

B.
Das Obergericht des Kantons Bern verurteilte X.________ am 4. April 2002 in
Bestätigung des Entscheids des Gerichtspräsidenten 1 des Gerichtskreises V
Burgdorf-Fraubrunnen vom 13. Dezember 2001 wegen Verfügung über mit Beschlag
belegte Vermögenswerte im Sinne von Art. 169 StGB zu einer Gefängnisstrafe
von zehn Tagen, bedingt vollziehbar bei einer Probezeit von zwei Jahren. Es
ordnete gestützt auf Art. 58 StGB die Einziehung des Personalcomputers zu
Handen wem rechtens an.

C.
X.________ führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das
Urteil des Obergerichts sei aufzuheben. Zudem ersucht er um Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege.

D.
Das Obergericht hat auf Gegenbemerkungen zur Beschwerde verzichtet.

Der Generalprokurator des Kantons Bern beantragt unter Hinweis auf die
Erwägungen im angefochtenen Urteil die Abweisung der Beschwerde.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Gemäss Art. 169 StGB wird wegen Verfügung über mit Beschlag belegte
Vermögenswerte mit Gefängnis unter anderem bestraft, wer eigenmächtig zum
Schaden der Gläubiger über einen Vermögenswert verfügt, der amtlich gepfändet
ist, oder einen solchen Vermögenswert beschädigt, zerstört, entwertet oder
unbrauchbar macht.

1.1 Die Vorinstanz führt aus, Art. 169 StGB erfasse nicht nur
rechtsgeschäftliche, sondern auch tatsächliche Verfügungen über gepfändete
Vermögenswerte. Über einen Vermögenswert im Sinne dieser Bestimmung verfüge
auch etwa, wer ihn beiseite schaffe oder verstecke, aber auch, wer ihn
verheimliche und gegenüber dem Beamten wahrheitswidrig angebe, der gepfändete
Gegenstand sei nicht mehr vorhanden. Alle diese Verhaltensweisen seien
geeignet, den Zweck der betreibungsamtlichen Massnahme zu vereiteln und auf
diese Weise das Befriedigungsinteresse der Gläubiger zu gefährden. Die
wahrheitswidrige Angabe gegenüber dem Beamten, der gepfändete Vermögenswert
sei, etwa infolge Veräusserung, nicht mehr vorhanden, sei nicht bloss eine -
mangels Garantenstellung des Schuldners nicht tatbestandsmässige -
Unterlassung, sondern eine Handlung. Sie habe den Beamten davon abgehalten,
nach dem Vermögenswert zu suchen, und die wahrheitswidrige Angabe komme de
facto dem Verstecken des Vermögenswertes gleich. Der Beschwerdeführer habe
somit durch seine wahrheitswidrige Angabe, der gepfändete Personalcomputer
sei verkauft worden und befinde sich daher nicht mehr in seiner Wohnung, im
Sinne von Art. 169 StGB über einen gepfändeten Vermögenswert verfügt.

1.2 Der Beschwerdeführer macht geltend, Art. 169 StGB erfasse nach seinem
Wortlaut nur Handlungen beziehungsweise Verfügungen rechtsgeschäftlicher und
tatsächlicher Natur an der gepfändeten Sache selbst, nicht aber auch etwa die
wahrheitswidrige Angabe gegenüber dem Beamten, dass die gepfändete Sache
nicht mehr vorhanden sei. Das inkriminierte Verhalten möge strafwürdig sein,
es erfülle aber den Tatbestand von Art. 169 StGB nicht. Das Bestreben, ein
strafwürdiges Verhalten tatsächlich auch zu bestrafen, dürfe nicht dazu
führen, den Anwendungsbereich einer bestehenden Strafnorm beliebig
auszuweiten. Die Vorinstanz habe den Anwendungsbereich von Art. 169 StGB in
einer gegen Art. 1 StGB verstossenden Weise ausgeweitet und damit Bundesrecht
verletzt. Es sei Sache des Gesetzgebers, allenfalls eine Strafbestimmung zu
erlassen, welche Verhaltensweisen der inkriminierten Art erfasse, wobei wohl
in Anbetracht der relativ geringfügigen Rechtsgutgefährdung die Schaffung
eines Art. 323 StGB (betreffend Ungehorsam des Schuldners im Betreibungs- und
Konkursverfahren) entsprechenden Übertretungstatbestands in Betracht zu
ziehen wäre.

Damit werde die ordnungsgemässe Durchführung des Betreibungsverfahrens nicht
in Frage gestellt. Einerseits stehe es den Betreibungsbehörden frei,
gleichzeitig mit der Ankündigung der Wegnahme von gepfändeten Gegenständen
(allenfalls formularmässig) eine entsprechende Verfügung verbunden mit der
Strafandrohung gemäss Art. 292 StGB zu erlassen. Andererseits sei gemäss Art.
91 Abs. 3 SchKG der Schuldner verpflichtet, dem Beamten auf Verlangen
Räumlichkeiten und Behältnisse zu öffnen, wobei der Beamte nötigenfalls die
Polizeigewalt in Anspruch nehmen könne. Es sei in Rechtsprechung und Lehre
unbestritten, dass Art. 91 Abs. 3 SchKG Ausfluss eines über das
Pfändungsverfahren hinaus gültigen Grundsatzes sei; der Betreibungsbeamte sei
somit nicht nur bei der Pfändung, sondern auch bei der Wegnahme von
gepfändeten Vermögenswerten zum Zwecke ihrer Verwertung berechtigt,
Räumlichkeiten, nötigenfalls unter Inanspruchnahme der Polizei, zu
durchsuchen.

Die wahrheitswidrige Angabe des Beschwerdeführers gegenüber dem Beamten, der
gepfändete Gegenstand sei verkauft worden, habe nur zufällig zum Erfolg
geführt. Der Beamte hätte darauf bestehen müssen, zumindest der guten Form
halber kurz einen Blick in die Wohnung des Beschwerdeführers zu werfen. Er
hätte dort den gepfändeten Computer, der offen herumgestanden sei, ohne
weiteres vorgefunden und zum Zwecke der Verwertung mitnehmen können. Wie im
Pfändungsverfahren - bei dem immer ein Augenschein durchgeführt werde, selbst
wenn der Schuldner behaupte, über keine Vermögenswerte zu verfügen - gehöre
auch bei der Wegnahme von gepfändeten Vermögenswerten zum Zwecke der
Verwertung zumindest eine kurze, einfache Kontrolle der Angaben des
Schuldners zum gesetzmässigen Vorgehen. Das Verhalten des Beschwerdeführers
habe zwar die Arbeit des Betreibungsbeamten erschwert, sie aber, bei
konsequenter Anwendung der einschlägigen Bestimmungen des SchKG, nicht
verunmöglicht. Darin unterscheide sich der vorliegende Fall wesentlich von
den gemäss Art. 169 StGB tatbestandsmässigen rechtlichen oder tatsächlichen
Verfügungen an der Sache; werde der gepfändete Gegenstand beispielsweise
ausser Haus versteckt, so führe, anders als im vorliegenden Fall der blossen
wahrheitswidrigen Angabe, auch eine gesetzeskonforme Durchsuchung nicht zum
Ziel.

Der Beschwerdeführer beruft sich im Weiteren auf BGE 81 IV 325 ff., woraus
sich ebenfalls ergebe, dass die wahrheitswidrige Aussage des Schuldners
gegenüber dem Betreibungsbeamten, dass der gepfändete Gegenstand veräussert
worden und daher nicht mehr vorhanden sei, den Tatbestand von Art. 169 StGB
nicht erfülle.

Der Beschwerdeführer habe somit durch seine wahrheitswidrige Angabe gegenüber
dem Betreibungsbeamten, er habe den gepfändeten Gegenstand verkauft, nicht im
Sinne von Art. 169 StGB über den gepfändeten Gegenstand verfügt.

2.
2.1 Gemäss Art. 169 StGB macht sich strafbar, wer "über einen Vermögenswert
verfügt" ("celui qui ... aura disposé d'une valeur patrimoniale"; "chiunque
... dispone ... di valori patrimoniali"), sowie derjenige, welcher einen
solchen Vermögenswert beschädigt, zerstört, entwertet oder unbrauchbar macht.
Durch die Bestimmung sollen sowohl die staatliche Autorität als auch die
Interessen der Gläubiger geschützt werden (BGE 99 IV 146; 75 IV 174, je mit
Hinweisen). Nicht nur, wer über die Sache ein Rechtsgeschäft abschliesst
(Eigentum überträgt, ein beschränktes dingliches oder ein persönliches Rechts
bestellt), sondern auch, wer sie zum Gegenstand anderer Handlungen macht, die
den Endzweck der Pfändung, den betreibenden Gläubiger zu befriedigen,
vereiteln, "verfügt" über sie. Es ist nicht zu sehen, weshalb das Gesetz die
tatsächliche Verfügung über eine Sache anders hätte behandeln wollen als die
rechtliche Verfügung (BGE 75 IV 62 E. 3 S. 64).

Die Umschreibung der Tathandlungen in Art. 169 StGB lehnt sich an jene in
Art. 163 und Art. 164 StGB an (Albrecht, Kommentar Strafrecht, Besonderer
Teil, 2. Band, 1990, Art. 169 [a]StGB N.  25; Trechsel, Schweizerisches
Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2. Aufl. 1997, Art. 169 N. 7; Noll,
Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, 1983, S. 182). Nach Art. 163
StGB ("Betrügerischer Konkurs und Pfändungsbetrug") macht sich unter den
darin genannten weiteren Voraussetzungen der Schuldner strafbar, der sein
Vermögen zum Schein vermindert, namentlich Vermögenswerte beiseite schafft
oder verheimlicht. Das Verheimlichen von Vermögenswerten im Sinne dieser
Bestimmung kann auf verschiedene Weise geschehen, zum Beispiel durch
Verstecken oder durch die wahrheitswidrige Behauptung, es seien keine
(weiteren) Vermögenswerte vorhanden (Albrecht, a.a.O., Art. 163 [a]StGB N.
33; siehe auch BGE 102 IV 172 E. 2a).

Aus dem Umstand, dass in Art. 169 StGB im Unterschied zu Art. 163 StGB das
Beiseiteschaffen und das Verheimlichen von Vermögenswerten nicht ausdrücklich
erwähnt sind, folgt nicht die Straflosigkeit dieser Handlungen (Albrecht,
a.a.O., Art. 169 [a]StGB N. 25). Wer gepfändete Gestände verbirgt oder an
einen anderen Ort schafft, wo sie dem Zugriff des Betreibungsamtes entzogen
sind, verfügt im Sinne von Art. 169 StGB über sie; das tut er sogar schon
dann, wenn er durch diese Handlungen die Verwertung der Gegenstände bloss
vorübergehend verhindert (BGE 75 IV 62 E. 3 S. 64; Stratenwerth,
Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, 5. Aufl. 1995, § 23 N. 41).

2.2 Die scheinbare Vermögensverminderung durch Verheimlichen eines
Vermögenswerts ist aber bei Art. 169 StGB, im Unterschied zu Art. 163 StGB,
nicht eo ipso eine tatbestandsmässige Handlung, sondern nur, wenn sie im
Sinne von Art. 169 StGB auf dem Wege einer - rechtlichen oder tatsächlichen -
Verfügung über den Vermögenswert geschieht.
Das Verstecken eines Vermögenswerts kann als eine tatsächliche Verfügung
betrachtet werden. Hingegen ist die blosse wahrheitswidrige Angabe gegenüber
dem Betreibungsbeamten, der Vermögenswert sei veräussert worden und daher
nicht mehr beim Veräusserer vorhanden, nicht eine Verfügung über den
Vermögenswert. Die gegenteilige Auffassung geht über eine - zulässige -
extensive Auslegung von Art. 169 StGB hinaus und verletzt daher das unter
anderem in Art. 1 StGB festgelegte Legalitätsprinzip. Wohl werden durch eine
solche wahrheitswidrige Angabe die Interessen der Gläubiger an der
Befriedigung ihrer Ansprüche aus dem Erlös der Verwertung des gepfändeten
Vermögenswerts in ähnlicher Weise gefährdet wie etwa durch ein Verstecken
oder Beiseiteschaffen des gepfändeten Vermögenswerts. Dies bedeutet aber
bloss, dass solche wahrheitswidrige Angaben allenfalls strafwürdig sind.
Daraus folgt indessen nicht, dass die Täuschung des Betreibungsbeamten durch
wahrheitswidrige Angaben über den Verbleib eines gepfändeten Gegenstandes als
Verfügung über den Vermögenswert im Sinne von Art. 169 StGB qualifiziert
werden darf.

2.3 Indem der Beschwerdeführer dem Betreibungsbeamten wahrheitswidrig
erklärte, der gepfändete Personalcomputer sei veräussert worden und daher
nicht mehr bei ihm vorhanden, hat er nicht im Sinne von Art. 169 StGB über
einen Vermögenswert verfügt. Die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen
Verfügung über mit Beschlag belegte Vermögenswerte verstösst somit gegen
Bundesrecht.

3.
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde ist demnach gutzuheissen, das
angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die
Vorinstanz zurückzuweisen.

Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird das Gesuch des Beschwerdeführers um
Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege gegenstandslos. Es sind keine
Kosten zu erheben, und dem Vertreter des Beschwerdeführers, Fürsprecher Roger
Zuber, Bern, ist eine Entschädigung aus der Bundesgerichtskasse auszurichten.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil der
1. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern vom 4. April 2002 aufgehoben
und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wird als
gegenstandslos geworden abgeschrieben.

3.
Es werden keine Kosten erhoben.

4.
Dem Vertreter des Beschwerdeführers, Fürsprecher Roger Zuber, Bern, wird eine
Entschädigung von Fr. 2'000.-- aus der Bundesgerichtskasse ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Generalprokurator des Kantons
Bern und der 1. Strafkammer des Obergerichtes des Kantons Bern schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 3. Dezember 2002

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: