Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6S.247/2002
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6S.247/2002 /kra

Urteil vom 3. März 2004
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Zünd,
Gerichtsschreiber Kipfer Fasciati.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Peter Albrecht,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Postfach, 8023 Zürich.

Strafzumessung (Widerhandlung gegen das BetmG),

Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich,
II. Strafkammer,
vom 11. April 2002.

Sachverhalt:

A.
Mit Entscheid vom 6. September 1999 verurteilte das Bezirksgericht Zürich
X.________, geboren 1975, wegen mehrfacher Widerhandlung gegen das
Betäubungsmittelgesetz zu drei Jahren Gefängnis. Auf seine Berufung hin
bestätigte das Obergericht das Urteil im Schuldpunkt und setzte das Strafmass
- als Zusatzstrafe zum Strafbefehl der Bezirksanwaltschaft Zürich vom 6.
November 1999 (60 Tage Gefängnis wegen Körperverletzung) - auf zwei Jahre und
vier Monate Gefängnis fest.

B.
Gegen das Urteil des Obergerichts erhob X.________ eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde, mit welcher er die Aufhebung des obergerichtlichen
Urteils beantragte. Er suchte ausserdem um aufschiebende Wirkung für die
Beschwerde und um Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege und
Verbeiständung nach. Er erhob ausserdem kantonale Nichtigkeitsbeschwerde beim
Kassationsgericht des Kantons Zürich. Das Verfahren der eidgenössischen
Nichtigkeitsbeschwerde wurde vom Bundesgericht bis zum Entscheid des
Kassationsgerichts des Kantons Zürich sistiert.

C.
Mit Beschluss vom 21. Juni 2003 wies das Kassationsgericht des Kantons Zürich
die kantonale Nichtigkeitsbeschwerde ab, soweit es darauf eintrat. Dagegen
erhob X.________ staatsrechtliche Beschwerde, mit welcher er die Aufhebung
des Beschlusses des Kassationsgerichts beantragte. Ausserdem suchte er um
aufschiebende Wirkung für die Beschwerde und um Bewilligung der
unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung nach.

D.
Mit Verfügung vom 25. September 2003 erkannte der Präsident des
Kassationshofes der staatsrechtlichen Beschwerde gegen den Beschluss des
Kassationsgerichts aufschiebende Wirkung zu.

E.
Mit Entscheid vom heutigen Tag hat das Bundesgericht die staatsrechtliche
Beschwerde gegen den Beschluss des Kassationsgerichts des Kantons Zürich
abgewiesen, weshalb die Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des
Obergerichts des Kantons Zürich nun zu behandeln ist.

F.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich verzichtet auf Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Nichtigkeitsbeschwerde kann nur damit begründet werden, dass die
angefochtene Entscheidung eidgenössisches Recht verletze (Art. 269 Abs. 1
BStP). Dabei hat der Beschwerdeführer kurz darzulegen, welche
Bundesrechtssätze und inwiefern sie durch den angefochtenen Entscheid
verletzt sind. Ausführungen, die sich gegen die tatsächlichen Feststellungen
des Entscheides richten, das Vorbringen neuer Tatsachen, neue Einwände,
Bestreitungen und Beweismittel sowie Erörterungen über die Verletzung
kantonalen Rechts sind unzulässig (Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP). Der
Kassationshof ist an die tatsächlichen Feststellungen der kantonalen Behörde
gebunden (Art. 277bis Abs. 1 BStP; BGE 126 IV 65 E. 1, mit Hinw.).

2.
Gemäss den verbindlichen vorinstanzlichen Feststellungen liegt dem
angefochtenen Urteil folgender Sachverhalt beziehungsweise folgende
Prozessgeschichte zu Grunde. Der Beschwerdeführer wurde am 6. September 1999
wegen Drogenhandels zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Am 6. November 1999
erging gegen den Beschwerdeführer ein Strafbefehl über 60 Tage Gefängnis
wegen einer am 5. November 1999 begangenen einfachen Körperverletzung. Auf
Berufung gegen das bezirksgerichtliche Urteil hatte die Vorinstanz u.a. das
Strafmass für die Drogendelikte neu festzusetzen und, ebenfalls neu, formell
eine Zusatzstrafe zum Strafbefehl über 60 Tage Gefängnis auszusprechen.
Aufgrund eines medizinischen Gutachtens, das im Rahmen des vorinstanzlichen
Verfahrens erstellt wurde, anerkannte die Vorinstanz sowohl hinsichtlich
Drogenhandels wie auch, nachträglich, hinsichtlich des
Körperverletzungsdeliktes eine leicht verminderte Zurechnungsfähigkeit. Der
Gutachter hatte beim Beschwerdeführer ein organisches Psychosyndrom im Sinne
einer kognitiven Störung diagnostiziert, die er auf eine im Rahmen eines
Motorradunfalls im Jahre 1988 erlittene Hirngewebeschädigung zurückführte.
Aufgrund dieses Gutachtens stellte der Beschwerdeführer ein Gesuch um
Revision des Strafbefehls wegen Körperverletzung. Die Vorinstanz sprach ihr
Urteil, ohne den Entscheid über das hängige Revisionsgesuch abzuwarten. Sie
trug der auch für die Körperverletzung vom 5. November 1999 von ihr
anerkannten verminderten Zurechnungsfähigkeit des Beschwerdeführers bei der
Bemessung der Zusatzstrafe Rechnung.

3.
Der Beschwerdeführer bringt vor, das Obergericht verstosse mit seinem
Vorgehen gegen den Grundsatz, wonach die Rechtskraft eines ersten Urteils, zu
dem in Anwendung von Art. 68 Ziff. 2 StGB eine Zusatzstrafe auszusprechen
sei, nicht angetastet werden dürfe. Ausserdem lege es nicht offen, wie es die
Strafe im Einzelnen bemesse. Das Urteil genüge deshalb den von der
Rechtsprechung aus Art. 63 StGB abgeleiteten Begründungsanforderungen nicht.
Schliesslich verstosse die Vorinstanz gegen Art. 13 StGB, weil ein
medizinisches Gutachten für den Fall der Körperverletzung nicht eingeholt
worden sei und der Gutachter, welcher den Beschwerdeführer wegen dessen
Betäubungsmitteldelinquenz zu untersuchen hatte, keine Kenntnis der
Körperverletzung gehabt habe.

4.
Hat der Richter eine mit Freiheitsstrafe bedrohte Tat zu beurteilen, die der
Täter begangen hat, bevor er wegen einer anderen Tat zu Freiheitsstrafe
verurteilt worden ist, so bestimmt der Richter die Strafe so, dass der Täter
nicht schwerer bestraft wird, als wenn die mehreren strafbaren Handlungen
gleichzeitig beurteilt worden wären (Art. 68 Ziff. 2 StGB).

Die Strafe, die sich der ersten anfügt, wird im Gegensatz zur Gesamtstrafe
(peine d'ensemble, pena unica) Zusatzstrafe (peine complémentaire ou
additionnelle ou supplémentaire, pena addizionale) genannt (BGE 116 IV 14 E.
2a S. 16 f. mit Hinweisen). Die Zusatzstrafe gleicht die Differenz zwischen
der ersten, Einsatz- oder Grundstrafe, und der Gesamtstrafe aus, die nach
Auffassung des Richters bei Kenntnis der später beurteilten Straftat
ausgefällt worden wäre. Bei der Bemessung der gedanklich zu bestimmenden
Zusatzstrafe ist der Richter sowohl in Bezug auf die Strafart als auch
hinsichtlich der Art des Vollzugs nicht an den rechtskräftigen ersten
Entscheid gebunden (vgl. BGE 116 IV 14 E. 2a und b; 109 IV 90 E. 2d S. 93 mit
Hinweisen). Hingegen darf der Richter das erste, rechtskräftig gewordene
Urteil im Dispositiv nicht antasten. So ist insbesondere der gegebenenfalls
gewährte bedingte Vollzug für die erste Strafe zu beachten. Das Vorgehen bei
der Festsetzung der Strafe und die Anforderungen an die Begründung der
Strafzumessung bei retrospektiver Realkonkurrenz wurden vom Bundesgericht in
mehreren Urteilen ausführlich dargelegt (129 IV 113 E. 1.1, mit Hinweisen).
Die Vorinstanz stellt richtigerweise fest, dass sie eine Gesamtwürdigung
vorzunehmen habe. Dabei sei von der hypothetischen Annahme auszugehen, dass
zum Zeitpunkt des früheren Urteils bereits alle Taten und alle weiteren für
die Strafzumessung relevanten Belange bekannt gewesen wären. Das könne dazu
führen, dass die frühere Strafe, für sich betrachtet, als zu hoch erscheine.
Zwar könne das frühere Urteilsdispositiv nicht abgeändert werden, es sei dem
strafmindernden Umstand jedoch bei der Bemessung der Zusatzstrafe Rechnung zu
tragen.

Die Vorinstanz verfährt in der Folge im Sinne dieser Vorgabe: Sie nimmt
aufgrund des später erstellten psychiatrischen Gutachtens an, dass der
Beschwerdeführer auch hinsichtlich des Körperverletzungsdelikts nur
beschränkt zurechnungsfähig war. Sie fällt im Ergebnis ein Strafe von 30
Monaten Gefängnis aus (zwei Monate gemäss Strafbefehl und 28 Monate als
Zusatzstrafe), im Unterschied zu 38 Monaten Gefängnis als Resultat des
Strafbefehls und des Urteils des Bezirksgerichts. Nach dem Gesagten ist
dieses Vorgehen nicht bundesrechtswidrig, zumal im Ergebnis gewährleistet
ist, dass der Beschwerdeführer wegen der Zweiteilung des Verfahrens nicht
härter bestraft worden ist, als er bei Ausfällung einer Gesamtstrafe bestraft
worden wäre. Die Beschwerde ist in diesem Punkt unbegründet.

5.
Für die Bemessung der Strafe billigt das Bundesgericht dem kantonalen
Sachrichter ein erhebliches Ermessen zu. Gemäss den von der Rechtsprechung zu
Art. 63 ff. StGB entwickelten Grundsätzen hat der Sachrichter aber seine
Überlegungen zur Strafzumessung - Strafrahmen, straferhöhende und
strafmindernde Faktoren etc. - so darzustellen, dass erkennbar wird, von
welchen Grundsätzen er sich leiten liess, welche Gesichtspunkte er
berücksichtigte und wie er diese gewichtete. Zusätzliche Anforderungen gelten
für die Begründung von Zusatzstrafen (BGE 118 IV E. 2). Würden diese
Anforderungen nicht erfüllt, fehlte einem Betroffenen die Handhabe, die
Strafzumessung begründet zu beanstanden, und eine Rechtsmittelinstanz wäre
nicht in der Lage, die Strafzumessung auf ihre Rechts- und
Ermessenskonformität hin zu überprüfen.

Im vorliegenden Fall legt die Vorinstanz nicht detailliert dar, wie hoch es
die Strafen für das Körperverletzungsdelikt und für die Drogendelikte
ansetzt. Insoweit leidet das Urteil an einem gewissen Mangel. Das Urteil hält
dennoch - sowohl im Ergebnis wie auch in der Begründung - vor Bundesrecht
stand: Die Strafzumessung ist insgesamt sorgfältig begründet, die in Anschlag
gebrachten Kriterien sind vollständig und ermessenskonform gewürdigt. Der
geltend gemachte Mangel fällt insofern nicht ins Gewicht, als sich die
Gewichtung der einzelnen Taten unschwer aus dem Urteil erschliessen lässt:
Gegenüber dem Resultat der zunächst getrennt ermittelten Strafmasse von 38
Monaten reduzierte die Vorinstanz das Gesamtstrafmass auf 30 Monate und damit
um knapp einen Viertel. Die Begründung für diese Reduktion liegt in der
festgestellten leicht verminderten Zurechnungsfähigkeit, welche die
Vorinstanz dem Beschwerdeführer für das Körperverletzungsdelikt und für die
Betäubungsmitteldelikte gleichermassen zubilligt. Es kann deshalb davon
ausgegangen werden, dass die Vorinstanz die Strafe für das
Körperverletzungsdelikt auf ungefähr eineinhalb Monate und damit die
Zusatzstrafe etwa einen halben Monat tiefer ansetzte, als sie es getan hätte,
wenn der Beschwerdeführer für das Körperverletzungsdelikt voll
zurechnungsfähig gewesen wäre. Die Beschwerde ist demnach auch in diesem
Punkt unbegründet. Im Übrigen ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer
nicht vorbringt, er halte die Strafzumessung für falsch, könne sie aber
mangels differenzierterer Ausführungen der Vorinstanz nicht anfechten. Er
erhebt insbesondere keine Einwände gegen das Strafmass.

6.
Art. 13 Abs. 1 StGB schreibt vor, dass ein Beschuldigter psychiatrisch zu
begutachten ist, wenn Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit bestehen.

Im Strafbefehlsverfahren wegen Körperverletzung bestanden keine Zweifel an
der Zurechnungsfähigkeit des Beschwerdeführers. Dieser wurde erst im
Zusammenhang mit den ihm vorgeworfenen Betäubungsmitteldelikten neurologisch
und psychiatrisch begutachtet. Der Gutachter, der vom Körperverletzungsdelikt
keine Kenntnis hatte, kam zum Schluss, der Beschwerdeführer sei wegen einer
1988 erlittenen Hirnverletzung vermindert einsichtsfähig. Die Vorinstanz
stützt ihr Erkenntnis betreffend die leichtgradig verminderte
Zurechnungsfähigkeit auf dieses Gutachten ab, und zwar nicht nur hinsichtlich
des Betäubungsmittelhandels, sondern rückwirkend auch hinsichtlich der
Körperverletzung. Diese Entscheidgrundlage ist offensichtlich genügend, auch
wenn der Gutachter von der Körperverletzung keine Kenntnis hatte, zumal der
psychiatrische Befund auf einer vorbestehenden organischen Ursache beruht. Es
ist nicht ersichtlich, welche zusätzlichen Erkenntnisse von einer erneuten,
explizit auf das Körperverletzungsdelikt bezogenen Neubegutachtung erwartet
werden könnten. Die Vorinstanz hat Art. 13 Abs. 1 StGB somit nicht verletzt,
weshalb die Beschwerde auch in diesem Punkt unbegründet ist.

7.
Zusammenfassend ergibt sich, dass die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde
abzuweisen ist. Der Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege und Verbeiständung. Das Gesuch ist abzuweisen, da die Beschwerde
von Anfang an aussichtslos war (Art. 152 Abs. 1 OG). Bei diesem
Verfahrensausgang wird der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 278 Abs. 1
BStP). Den finanziellen Verhältnissen des Beschwerdeführers ist bei der
Bemessung der Gerichtsgebühr Rechnung zu tragen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 800.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons
Zürich und dem Obergericht des Kantons Zürich, II. Strafkammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 3. März 2004

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: