Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6S.233/2002
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6S.233/2002 /pai

Urteil vom 11. Juli 2002
Kassationshof

Bundesrichter Schubarth, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Karlen,
Gerichtsschreiber Luchsinger.

Generalprokurator des Kantons Bern, 3001 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

X.________, Schorenstrasse 28A, 3645 Gwatt (Thun),
Beschwerdegegner,

Nichtabgabe entzogener Ausweise und Kontrollschilder,

Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern, 2.
Strafkammer, vom 26. März 2002.

Sachverhalt:

A.
Das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons Bern stellte X.________
am 23. März 2001 eine Rechnung von Fr. 70.-, soweit ersichtlich für das
Ausstellen eines neuen Fahrzeugausweises wegen Wechsels des Fahrzeugs.
Nachdem die Rechnung auch nach zweimaliger Mahnung unbezahlt geblieben war,
verfügte das genannte Amt am 18. Juli 2001 den Entzug des Fahrzeugausweises
für den Personenwagen von X.________. Zugleich verpflichtete es ihn, den
Fahrzeugausweis zusammen mit den Kontrollschildern innerhalb von 10 Tagen
abzugeben, vorbehältlich nachträglicher Bezahlung des ausstehenden Betrags
innert der erwähnten Frist. Die Entzugsverfügung wurde mit eingeschriebener
Post versandt. X.________ nahm die Sendung jedoch innert der siebentägigen
Abholfrist nicht in Empfang und erhielt von der Entzugsverfügung keine
Kenntnis.

Wegen dieses Vorfalls sowie verschiedener Verstösse gegen Vorschriften über
das Parkieren wurde gegen X.________ ein Strafverfahren eröffnet. Der
Gerichtspräsident 6 des Gerichtskreises X Thun erklärte ihn am 28. September
2001 der einfachen Verkehrsregelverletzung schuldig, sprach ihn aber von der
Anschuldigung der Nichtabgabe entzogener Ausweise und Kontrollschilder frei.
Das Obergericht des Kantons Bern bestätigte dieses Urteil am 26. März 2002.

B.
Der Generalprokurator des Kantons Bern führt eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt die Aufhebung des Urteils des
Obergerichts vom 26. März 2002. Er rügt lediglich den Freispruch hinsichtlich
des Vorwurfs der Nichtabgabe entzogener Ausweise und Kontrollschilder.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Vorinstanz vertritt die Ansicht, die Verfügung über den Entzug des
Fahrzeugausweises und die Pflicht zur Rückgabe von Ausweis und Schildern vom
18. Juli 2001 sei dem Beschwerdegegner nicht ordnungsgemäss eröffnet worden.
Dieser habe deshalb gar nicht gegen die darin enthaltene Aufforderung zur
Abgabe des Fahrzeugausweises und der Kontrollschilder verstossen können. Nach
Auffassung der Vorinstanz ist schon der objektive Tatbestand von Art. 97
Ziff. 1 Abs. 2 SVG nicht erfüllt. Der Beschwerdeführer macht demgegenüber in
erster Linie geltend, der Beschwerdegegner habe den objektiven Tatbestand der
genannten Strafnorm erfüllt und überdies auch in subjektiver Hinsicht
eventualvorsätzlich, zumindest aber fahrlässig gehandelt. Daneben rügt der
Beschwerdeführer, dass die Vorinstanz die Zustellfiktion, die bei
Nichtabholung einer eingeschriebenen Sendung innert der siebentägigen Frist
zum Zuge komme, missachtet habe. Der Freispruch verletze aus diesen Gründen
Bundesrecht.

1.1 Nach Art. 97 Ziff. 1 Abs. 2 SVG macht sich des Missbrauchs von Ausweisen
und Schildern schuldig, wer ungültige oder entzogene Ausweise oder
Kontrollschilder trotz behördlicher Aufforderung nicht abgibt. Der
Gesetzgeber trägt mit dieser Strafnorm einerseits der Notwendigkeit Rechnung,
Ausweise und Kontrollschilder, die nicht mehr gültig sind, wegen des von
ihnen ausgehenden Rechtsscheins möglichst rasch einzuziehen; anderseits will
er der Tendenz der von einem Entzug Betroffenen vorbeugen, die Abgabe
möglichst lange hinauszuschieben. Dieses besondere Interesse an einem raschen
und reibungslosen Einzug ungültiger oder entzogener Ausweise und Schilder
erklärt, warum das Gesetz die Widerhandlung gegen die entsprechende
behördliche Aufforderung nicht als blosse Übertretung, sondern als Vergehen
qualifiziert.

1.2 In objektiver Hinsicht setzt die Verwirklichung des Tatbestands voraus,
dass ein Ausweis oder Schild für ungültig erklärt oder entzogen und zu dessen
Abgabe aufgefordert wurde. Die Aufforderung zur Abgabe von Ausweis und
Schildern muss vollstreckbar sein. Denn die Strafnorm dient ja gerade dazu,
die Durchsetzung dieses behördlichen Befehls sicherzustellen (BGE 88 IV 116
E. 1 S. 118 und E. 4 S. 120). Wird der Entzug angefochten, so wird dieser in
der Regel erst nach Abschluss des Verfahrens vor den Instanzen der
Verwaltungsrechtspflege vollstreckbar.

1.3 Die Vollstreckbarkeit einer Verfügung tritt ausserdem im Regelfall nur
ein, wenn sie zuvor ordnungsgemäss eröffnet wurde. Es ist zwar nicht
ausgeschlossen, dass ausnahmsweise auch von mangelhaft eröffneten Verfügungen
Rechtswirkungen ausgehen. Doch darf nach einem allgemeinen Grundsatz des
Verwaltungsrechts den Parteien aus einer mangelhaften Eröffnung kein
Rechtsnachteil erwachsen (BGE 122 I 97 E. 3a/aa S. 99 mit Verweis auf Art. 38
VwVG und Art. 107 Abs. 3 OG). Dieser Regel ist bei der Auslegung von Art. 97
Ziff. 1 Abs. 2 SVG Rechnung zu tragen. Sie hat zur Folge, dass eine
Bestrafung ausser Betracht fällt, wenn der Adressat von der an ihn
gerichteten Entzugsverfü-gung und Aufforderung zur Abgabe von Ausweis und
Schildern infolge eines Eröffnungsfehlers überhaupt keine Kenntnis hat. In
diesem Fall fehlt es bereits an einer wirksamen behördlichen Aufforderung,
wie sie der Tatbestand von Art. 97 Ziff. 1 Abs. 2 SVG voraussetzt (vgl. auch
den Entscheid des Kantonsgerichts Schwyz vom 28. Februar 1972 in RStrS 1975
Nr. 829).

Der Beschwerdeführer wendet gegenüber dieser im Ergebnis auch von den
Vorinstanzen vertretenen Auffassung ein, eine Verurteilung nach der genannten
Strafbestimmung erfordere nicht zwingend die Kenntnis der Entzugsverfügung
und der Rückgabeaufforderung. Das trifft zwar zu. Werden die genannten Akte
ordnungsgemäss eröffnet, unterlässt es der Adressat aber beispielsweise, sie
zu lesen, so steht dies einer Bestrafung gestützt auf Art. 97 Ziff. 1 Abs. 2
SVG nicht entgegen. Anders verhält es sich jedoch wie erwähnt, wenn die
unterbliebene Kenntnisnahme auf eine mangelhafte Eröffnung zurückzuführen
ist. In einem solchen Fall trifft den Adressaten am fehlenden Wissen um seine
Rückgabepflicht keinerlei Schuld. Entgegen der in der Beschwerde vertretenen
Auffassung scheidet auch ein fahrlässiges Handeln aus. Der Beschwerdeführer
übersieht, dass der Straftatbestand von Art. 97 Ziff. 1 Abs. 2 SVG
voraussetzt, dass eine Entzugsverfügung und eine Rückgabeaufforderung
ergangen sind und der Letzteren zuwider gehandelt wird. An diesem
Tatbestandselement fehlt es, wenn die genannten Akte nicht ordnungsgemäss
eröffnet worden sind oder der Inhaber bei fehlerhafter Eröffnung nicht auf
andere Weise von seiner Rückgabepflicht Kenntnis erlangt. Wer die
Verkehrssteuern oder -gebühren nicht bezahlt, muss zwar damit rechnen, dass
ihm gestützt auf Art. 16 Abs. 4 SVG der Fahrzeugausweis entzogen wird. Doch
ergibt sich daraus keine Pflicht, sich bei ausstehenden Rechnungen über
Verkehrssteuern oder -gebühren darum zu kümmern, ob der Fahrzeugausweis noch
nicht entzogen worden sei und ob nicht allenfalls Ausweis und Schilder innert
einer bestimmten Frist zurückzugeben seien. Der Ausweisinhaber darf vielmehr
von der Weitergeltung des Fahrzeugausweises ausgehen, solange ihm keine
Entzugsverfügung zugestellt worden ist. In diesem Punkt unterscheidet sich
Art. 97 Ziff. 1 Abs. 2 SVG von dem in der Beschwerde angesprochenen
Tatbestand des Fahrens ohne Haftpflichtversicherung gemäss Art. 96 Ziff. 2
Abs. 1 SVG. Nach dieser Bestimmung macht sich bereits strafbar, wer ein
Motorfahrzeug lenkt, obwohl er bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit wissen
konnte, dass die vorgeschriebene Haftpflichtversicherung nicht besteht. Einer
vorgängigen Meldung, dass der Versicherungsschutz nicht mehr bestehe, bedarf
es zur Verwirklichung des Tatbestands in diesem Fall nicht.

Nach dem Ausgeführten ist demnach der objektive Tatbestand des Missbrauchs
von Ausweisen und Schildern gemäss Art. 97 Ziff. 1 Abs. 2 SVG nur erfüllt,
wenn die Entzugsverfügung und die Rückgabeaufforderung ordnungsgemäss
eröffnet worden sind oder der Inhaber bei fehlerhafter Eröffnung gleichwohl
zuverlässige Kenntnis von der ihm obliegenden Rückgabepflicht hat. Die
Beschwerde erweist sich deshalb als unbegründet, soweit damit eine
Verurteilung des Beschwerdegegners gestützt auf Art. 97 Ziff. 1 Abs. 2 SVG
unabhängig von der ordnungsgemässen Eröffnung bzw. der tatsächlichen Kenntnis
der Rückgabepflicht verlangt wird. Es fragt sich somit einzig, ob die
Entzugsverfügung mit der Aufforderung zur Abgabe von Fahrzeugausweis und
Kontrollschildern vom 18. Juli 2001 dem Beschwerdeführer ordnungsgemäss
eröffnet worden ist oder er sonst zuverlässige Kenntnis von seiner Pflicht
zur Abgabe hatte.

1.4 Der Beschwerdeführer macht geltend, die genannte Verfügung vom 18. Juli
2001 gelte nach der unterbliebenen Entgegennahme innert der siebentägigen
Abholfrist als zugestellt. Es liege deshalb eine ordnungsgemässe Eröffnung
vor und der Beschwerdegegner habe sich die fehlende Kenntnisnahme selber
anzulasten.

Das Verfahren des Entzugs des Führer- oder Fahrzeugausweises richtet sich
nach dem kantonalen Recht (Art. 106 Abs. 2 SVG). Dies gilt auch für die
Eröffnung und Zustellung von Verfügungen. Das Bundesrecht schreibt lediglich
vor, dass die Entzugsverfügung schriftlich zu eröffnen und zu begründen ist
(Art. 23 Abs. 1 SVG). Die Vorinstanz gelangt gestützt auf die massgeblichen
Normen des kantonalen Rechts zum Schluss, dass die Zustellung der Verfügung
vom 18. Juli 2001 fehlerhaft sei. Mangels eines Prozessrechtsverhältnisses im
Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BGE 120 III 3 E. 1d S. 4;
119 V 89 E. 4b/aa S. 94; 116 Ia 90 E. 2a S. 92; 115 Ia 12 E. 3a S. 15) sei
der Beschwerdegegner nicht verpflichtet gewesen, die Verfügung vom 18. Juli
2001 innert der siebentägigen Abholfrist in Empfang zu nehmen, und die
Sendung gelte dementsprechend nicht als am letzten Tag der Abholfrist
zugestellt.

Die Rüge, welche der Beschwerdeführer gegenüber dieser Argumentation erhebt,
ist im Rahmen der Nichtigkeitsbeschwerde nicht zulässig. Der angefochtene
Entscheid stützt sich in diesem Punkt wie erwähnt auf kantonales Recht bzw. -
soweit dieses keine ausdrückliche Regelung enthält - auf allgemeine
Zustellungsgrundsätze, deren Anwendung das Bundesgericht nur unter dem
Gesichtswinkel der Willkür prüft (BGE 116 Ia 90 E. 2b S. 92). Mit der
Nichtigkeitsbeschwerde kann nun aber weder die Verletzung kantonalen Rechts
noch jene verfassungsmässiger Rechte wie des Willkürverbots gerügt werden
(Art. 269 BStP). Auf die Beschwerde ist daher nicht einzutreten, soweit sie
sich gegen die Bejahung einer mangelhaften Zustellung richtet.

2.
Aus diesen Erwägungen ist die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde
abzuweisen, soweit auf sie eingetreten werden kann.

Bei diesem Verfahrensausgang sind keine Kosten zu erheben (Art. 278 Abs. 2
BStP). Dem Beschwerdegegner ist keine Parteientschädigung zuzusprechen, da
ihm im bundesgerichtlichen Verfahren keine Umtriebe entstanden sind.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf
einzutreten ist.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern, 2.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 11. Juli 2002

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: