Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6S.223/2002
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6S.223/2002 /kra

Urteil vom 29. November 2002
(nach Sitzung vom 3. Oktober 2002)
Kassationshof

Bundesrichter Schubarth, Präsident,
Bundesrichter Schneider, Wiprächtiger, Kolly, Karlen,
Gerichtsschreiber Näf.

X. ________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecher lic.iur. Franz Hollinger,
Stapferstrasse 28, Postfach, 5201 Brugg AG,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau, Frey-Herosé-Strasse 12, 5001 Aarau.

fahrlässige Körperverletzung (Art. 125 Abs. 1 StGB),

Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau,
3. Strafkammer, vom 26. April 2002.

Sachverhalt:

A.
X. ________ fuhr am 11. Oktober 2000 bei Dämmerung am Steuer eines
Personenwagens mit etwa 45 km/h in Turgi auf der Bahnhofstrasse in Richtung
eines aus einer Distanz von 100 Metern sichtbaren, gut beleuchteten und in
der Mitte mit einer Verkehrsinsel unterteilten Fussgängerstreifens. Als sie
30 Meter vom Streifen entfernt war, betrat diesen von links die hell
gekleidete Fussgängerin A.________, geboren 1959. X.________ fuhr trotzdem
mit unverminderter Geschwindigkeit weiter. Die Fussgängerin überquerte die
Strasse in eiligem Schritt, ohne auf der Verkehrsinsel einen Halt einzulegen.
Sie stiess mit der linken Seite des Personenwagens zusammen; infolge der
Kollision mit dem linken Aussenrückspiegel erlitt sie eine Distorsion der
Halswirbelsäule und Prellungen.

B.
Das Bezirksgericht Baden verurteilte X.________ am 11. Juni 2001 wegen
fahrlässiger Körperverletzung (Art. 125 Abs. 1 StGB), begangen durch
Missachten des Vortritts gegenüber Fussgängern auf dem Fussgängerstreifen
sowie mangelnde Aufmerksamkeit im Strassenverkehr, zu einer Busse von 300
Franken.

Das Obergericht des Kantons Aargau wies die von X.________ eingereichte
Berufung am 26. April 2002 ab.

C.
X.________ führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das
Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an
die Vorinstanz zurückzuweisen.

D.
Das Obergericht und die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau haben auf
Gegenbemerkungen verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Fussgänger haben die Fahrbahn vorsichtig und auf dem kürzesten Weg zu
überschreiten, nach Möglichkeit auf einem Fussgängerstreifen. Sie haben den
Vortritt auf diesem Streifen, dürfen ihn aber nicht überraschend betreten
(Art. 49 Abs. 2 SVG). Auf Fussgängerstreifen ohne Verkehrsregelung haben die
Fussgänger den Vortritt, ausser gegenüber der Strassenbahn. Sie dürfen jedoch
vom Vortrittsrecht nicht Gebrauch machen, wenn das Fahrzeug bereits so nahe
ist, dass es nicht mehr rechtzeitig anhalten könnte (Art. 47 Abs. 2 VRV). Bei
Fussgängerstreifen ohne Verkehrsregelung, die durch eine Verkehrsinsel
unterteilt sind, gilt jeder Teil des Überganges als selbständiger Streifen
(Art. 47 Abs. 3 VRV).

Vor Fussgängerstreifen hat der Fahrzeugführer besonders vorsichtig zu fahren
und nötigenfalls anzuhalten, um den Fussgängern den Vortritt zu lassen, die
sich schon auf dem Streifen befinden oder im Begriffe sind, ihn zu betreten
(Art. 33 Abs. 2 SVG). Vor Fussgängerstreifen ohne Verkehrsregelung muss der
Fahrzeugführer jedem Fussgänger den Vortritt gewähren, der sich bereits auf
dem Streifen befindet oder davor wartet und ersichtlich die Fahrbahn
überqueren will. Er muss die Geschwindigkeit rechtzeitig mässigen und
nötigenfalls anhalten, damit er dieser Pflicht nachkommen kann (Art. 6 Abs. 1
VRV).

Gemäss der in Art. 26 SVG umschriebenen Grundregel muss sich im Verkehr
jedermann so verhalten, dass er andere in der ordnungsgemässen Benützung der
Strasse weder behindert noch gefährdet (Abs. 1). Besondere Vorsicht ist
geboten gegenüber Kindern, Gebrechlichen und alten Leuten, ebenso wenn
Anzeichen dafür bestehen, dass sich ein Strassenbenützer nicht richtig
verhalten wird (Abs. 2).

1.1 Die erste Instanz ging in tatsächlicher Hinsicht davon aus, die
Beschwerdeführerin habe die Fussgängerin erblickt, als diese sich "auf der
linken Hälfte des Streifens" befand (erstinstanzliches Urteil S. 7 unten,
kant. Akten p. 87), d.h. in der Mitte des Streifens links der Insel
(erstinstanzliches Urteil S. 8, kant. Akten p. 88; siehe auch angefochtenes
Urteil S. 4). Die erste Instanz hielt fest, die Distanz zwischen diesem Punkt
und der Kollisionsstelle habe 4-5 Meter betragen. Die Fussgängerin sei
schnell und eilig unterwegs gewesen. Es sei daher von einer Geschwindigkeit
von ca. 7,2 km/h, d.h. von ca. 2 m/sec, auszugehen. Die Fussgängerin habe
somit für die Strecke von 4-5 Metern von dem Punkt in der Mitte der
Gegenfahrbahn, als sie von der Beschwerdeführerin erstmals erblickt worden
sei, bis zur Kollisionsstelle 2-2,5 Sekunden benötigt. In dieser Zeit habe
die Beschwerdeführerin, die mit einer Geschwindigkeit von 45 km/h, d.h. 12,5
m/sec, gefahren sei, 25-30 Meter zurückgelegt. Hätte die Beschwerdeführerin
sofort eine Vollbremsung eingeleitet, als sie die Fussgängerin erblickt habe,
so wäre sie bei einer realistischen Bremsverzögerung von 6,0 m/sec2 - unter
Einbezug der Reaktionssekunde - nach ca. 25,5 Metern stillgestanden
(erstinstanzliches Urteil S. 7, kant. Akten p. 87). Die Beschwerdeführerin
habe dies aber nicht getan, sondern ihre Fahrt fortgesetzt in der Hoffnung,
die Fussgängerin werde auf der Verkehrsinsel anhalten. Zu dieser Hoffnung
habe für die Beschwerdeführerin indessen kein Anlass bestanden; denn von
einem Fussgänger, der in unmittelbarer Nähe eines Bahnhofs mit schnellem
Schritt in dessen Richtung gehe, könne nicht erwartet werden, dass er auf
sein Vortrittsrecht verzichten werde, sondern sei vielmehr zu befürchten,
dass er dieses notfalls sogar erzwingen werde, um den Zug noch zu erreichen,
auch wenn dem Fahrzeuglenker das rechtzeitige Anhalten objektiv gar nicht
mehr möglich sein sollte. Für die Beschwerdeführerin hätten daher Anzeichen
im Sinne von Art. 26 Abs. 2 SVG dafür vorgelegen, dass sich die Fussgängerin
möglicherweise unrichtig verhalten werde. Unter diesen Umständen habe die
Beschwerdeführerin das Vortrittsrecht der Fussgängerin missachtet. Daran
ändere Art. 47 Abs. 3 VRV nichts, wonach bei Fussgängerstreifen ohne
Verkehrsregelung, die durch eine Verkehrsinsel unterteilt sind, jeder Teil
des Überganges als selbständiger Streifen gilt. Da sich die Fussgängerin
bereits auf der linken Hälfte des Streifens befunden habe, als die
Beschwerdeführerin sie erblickt habe, stelle sich die Lage gleich dar, wie
wenn ein Fussgänger auf einen Streifen ohne Verkehrsinsel zusteuere und so
die Absicht anzeige, diesen zu überqueren (erstinstanzliches Urteil S. 7,
kant. Akten p. 87).

Die erste Instanz führt im Weiteren aus, die Beschwerdeführerin hätte bei der
gemäss Art. 3 Abs. 1 VRV gebotenen Aufmerksamkeit die Fussgängerin schon viel
früher erkennen können und erkennen müssen, nämlich als diese sich noch auf
dem - aus der Sicht der Beschwerdeführerin - linksseitigen Trottoir, d.h. 4-5
Meter von der Mitte des linken Teils des Streifens entfernt, befunden habe,
mithin 2-2,5 Sekunden vor dem Zeitpunkt, in dem sie die Fussgängerin
tatsächlich in der Mitte des linken Teils des Streifens gesehen habe. In dem
Augenblick, als die Beschwerdeführerin bei der nach Art. 3 Abs. 1 VRV
gebotenen Aufmerksamkeit die Fussgängerin auf dem linksseitigen Trottoir
hätte sehen können, sei die Beschwerdeführerin 50-60 Meter von der
Kollisionsstelle entfernt gewesen. Der Beschwerdeführerin müsse der Vorwurf
gemacht werden, den vor ihr liegenden Fussgängerstreifen mit den angrenzenden
Randbereichen des Trottoirs zu wenig aufmerksam beobachtet zu haben, so dass
sie nicht rechtzeitig auf das Auftauchen der schnell gehenden Fussgängerin
habe reagieren können (erstinstanzliches Urteil S. 8, kant. Akten p. 88). Die
Beschwerdeführerin habe daher gegen Art. 3 Abs. 1 VRV verstossen
(erstinstanzliches Urteil S. 9, kant. Akten p. 89).

1.2 Die Vorinstanz führt aus, für die Beantwortung der Frage einer
allfälligen Sorgfaltspflichtverletzung durch die Beschwerdeführerin sei
entgegen der Auffassung der ersten Instanz weniger ausschlaggebend, wie viel
Zeit zwischen der ersten Wahrnehmung der Fussgängerin durch die
Beschwerdeführerin und der Kollision verstrichen sei, als vielmehr, wann der
Beschwerdeführerin spätestens habe klar sein müssen, dass die Fussgängerin
den Streifen überqueren werde. Denn gemäss Art. 33 Abs. 2 SVG habe der
Fahrzeugführer vor Fussgängerstreifen besonders vorsichtig zu fahren und
nötigenfalls anzuhalten, wenn Fussgänger sich schon auf dem Streifen befinden
oder auch nur im Begriffe sind, ihn zu betreten. Der Anhalteweg ab dem
Zeitpunkt der effektiven ersten Wahrnehmung der Fussgängerin durch die
Beschwerdeführerin sei erst dann von Bedeutung, wenn die hier in erster Linie
in Betracht fallende Verkehrsregel gemäss Art. 33 Abs. 2 SVG nicht verletzt
sei und weitere, mögliche Verkehrsregelverletzungen - namentlich
Nichtbeherrschen des Fahrzeugs (Art. 31 Abs. 1 SVG) oder Nichtanpassen der
Geschwindigkeit an die Umstände (Art. 32 Abs. 1 SVG) - zu prüfen wären
(angefochtenes Urteil S. 8).

Die Vorinstanz hält fest, der Fussgängerstreifen sei gut ausgeleuchtet und
übersichtlich und auch bei Dämmerung und Regen aus einer Entfernung von 100
Metern gut sichtbar gewesen. Die Beschwerdeführerin hätte somit spätestens in
dem Moment, als die Fussgängerin den Streifen betreten habe, im Sinne von
Art. 33 Abs. 2 SVG besonders vorsichtig fahren, d.h. ihre Geschwindigkeit
reduzieren und Bremsbereitschaft erstellen müssen. Wenn von einem sehr
eiligen Schritttempo der Fussgängerin von maximal 10 km/h oder 2, 77 m/sec
und von einem Vorwärtsschreiten ohne Halt auf der Verkehrsinsel ausgegangen
werde, dann habe die Fussgängerin bis zur Kollisionsstelle, welche sich, wie
zu Gunsten der Beschwerdeführerin angenommen werden müsse, frühestens
unmittelbar nach der Verkehrsinsel befunden haben könne, ca. 2,5 Sekunden
benötigt, da die Distanz vom Trottoir bis hinter die Verkehrsinsel 6,05 Meter
betrage. In dieser Zeit sei die Beschwerdeführerin bei einer Geschwindigkeit
von 45 km/h mindestens 30 Meter weit gefahren. Diese Distanz hätte zu einem
normalen Anhaltemanöver ausreichen müssen, da mit der Einleitung einer
Vollbremsung - ohne Berücksichtigung der hier wegen des erkennbaren
Herannahens der Fussgängerin zum Fussgängerstreifen schon vorher
erforderlichen Bremsbereitschaft - der Anhalteweg (Reaktionsweg + Bremsweg)
nur 25,6 Meter betragen hätte, wenn zu Gunsten der Beschwerdeführerin vom
tiefst möglichen Bremsverzögerungsfaktor von 5,0 m/sec2 auf nassem Asphalt
ausgegangen und mit 0,6 Sekunden Reaktionszeit und 0,2 Sekunden
Bremsschwellzeit gerechnet werde. Die Beschwerdeführerin habe mit ihrer
Weiterfahrt ohne Geschwindigkeitsreduktion somit Art. 33 Abs. 2 SVG verletzt
und sich dadurch sorgfaltswidrig verhalten. Weitere mögliche
Verkehrsregelverletzungen seien daher nicht zu prüfen. Es möge dennoch
angefügt werden, dass die Beschwerdeführerin die Fussgängerin schon früher
hätte wahrnehmen müssen und mit deren Wahrnehmung erst Mitte der
Gegenfahrbahn sich offensichtlich auch unaufmerksam verhalten und daher auch
Art. 3 Abs. 1 VRV i.V. m. Art. 31 Abs. 1 SVG verletzt habe (angefochtenes
Urteil S. 9).

Die Vorinstanz führt sodann aus, der hypothetische Kausalzusammenhang
zwischen der Sorgfaltspflichtverletzung und der Kollision sei evident, da mit
der Einleitung eines normalen Bremsmanövers die Kollision hätte vermieden
werden können. Eine allfällige Unaufmerksamkeit der Fussgängerin, die auf dem
Streifen auf die Gewährung des Vortrittsrechts habe vertrauen dürfen, da sich
die Beschwerdeführerin im Moment, als die Fussgängerin den Streifen betreten
habe, in genügender Entfernung dazu befunden habe, könne den
Kausalzusammenhang nicht unterbrechen; denn für die Fussgänger bestehe im
Bereich von Fussgängerstreifen keine Verpflichtung, Fahrzeuge passieren zu
lassen, die rechtzeitig anhalten könnten. Indem die Fussgängerin den Streifen
ohne Halt auf der Verkehrsinsel überquert habe, habe sie kein überraschendes
Fehlverhalten gezeigt (angefochtenes Urteil S. 9 f.).
1.3 Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Vorinstanz habe den Anhalteweg
falsch und in Missachtung von Erfahrungssätzen berechnet. Der Anhalteweg habe
nicht bloss 25,6 Meter, sondern ca. 40 Meter betragen. Die zur Verfügung
stehende Distanz von 31,5 Metern von dem Punkt, an welchem die
Beschwerdeführerin nach Auffassung der Vorinstanz ein Bremsmanöver hätte
einleiten müssen, bis zum Kollisionspunkt hätte daher nicht ausgereicht. Der
Erfolg wäre somit auch eingetreten, wenn die Beschwerdeführerin sich so
verhalten hätte, wie es nach der Auffassung der Vorinstanz geboten gewesen
wäre. Wenn die Beschwerdeführerin ein Bremsmanöver eingeleitet hätte, wäre
übrigens die Fussgängerin vom Fahrzeug gar frontal erfasst worden, was
bestimmt schwerere Verletzungen als die bei der Streifkollision tatsächlich
eingetretenen zur Folge gehabt hätte.

Die Beschwerdeführerin macht im Weiteren geltend, die Vorinstanz lasse ausser
Acht, dass der Fussgängerstreifen durch eine Verkehrsinsel unterteilt ist und
deshalb gemäss Art. 47 Abs. 3 VRV jeder Teil des Übergangs als selbständiger
Streifen gilt. Die Beschwerdeführerin sei daher entgegen der Auffassung der
Vorinstanz nicht verpflichtet gewesen, gemäss Art. 33 Abs. 2 SVG anzuhalten,
als die Fussgängerin den die Gegenfahrbahn querenden Teil des Übergangs
betreten habe; denn die Fussgängerin habe sich in jenem Moment noch nicht auf
dem die Fahrbahn der Beschwerdeführerin querenden Teil des Übergangs, der
gemäss Art. 47 Abs. 3 VRV ein selbständiger Streifen sei, befunden, und sie
sei auch nicht im Sinne von Art. 33 Abs. 2 SVG im Begriff gewesen, diesen
Streifen zu betreten. Die Beschwerdeführerin habe sich vielmehr darauf
verlassen dürfen, dass die Fussgängerin auf der Verkehrsinsel anhalten, sich
neu orientieren und, entsprechend Art. 47 Abs. 2 Satz 2 VRV, die Fahrzeuge
passieren lassen werde, welche bereits zu nahe waren, um noch rechtzeitig
anzuhalten. Der Beschwerdeführerin sei daher keine relevante
Sorgfaltspflichtverletzung vorzuwerfen.

2.
Die Vorinstanz begründet die Verurteilung der Beschwerdeführerin wegen
fahrlässiger Körperverletzung damit, dass die Beschwerdeführerin auf Grund
der sich aus Art. 33 Abs. 2 SVG ergebenden Verhaltenspflichten spätestens in
dem Moment hätte ein Bremsmanöver einleiten müssen, in welchem die gut
wahrnehmbare Fussgängerin, das Trottoir verlassend, den gut sichtbaren
Streifen betreten habe. Bei einer Einleitung des Bremsmanövers spätestens in
diesem Augenblick hätte nach der Auffassung der Vorinstanz in Anbetracht der
festgestellten Tatsachen die Kollision verhindert werden können.

2.1 Die Vorinstanz lässt damit die Tatsache ausser Acht, dass der
Fussgängerstreifen durch eine Verkehrsinsel unterteilt ist, und sie setzt
sich denn auch - im Unterschied zur ersten Instanz - nicht mit Art. 47 Abs. 3
VRV auseinander. Nach dieser Bestimmung gilt bei Fussgängerstreifen ohne
Verkehrsregelung, die durch eine Verkehrsinsel unterteilt sind, jeder Teil
des Überganges als selbständiger Streifen. Der Fussgänger hat damit, wenn er
die Verkehrsinsel erreicht hat, die Voraussetzungen der Inanspruchnahme des
Vortritts für den weiteren Teil des Übergangs von neuem zu prüfen (René
Schaffhauser, Grundriss des schweizerischen Strassenverkehrsrechts, Bd. I, 2.
Aufl. 2002, N. 965). Der Fussgänger muss mithin (spätestens) auf der
Verkehrsinsel prüfen, ob er den zweiten Teil des Übergangs, der gemäss Art.
47 Abs. 3 VRV als selbständiger Streifen gilt, betreten könne, ohne dadurch
in Missachtung seiner in Art. 47 Abs. 2 Satz 2 VRV festgelegten Pflicht
Fahrzeuge, die bereits so nahe sind, dass sie nicht mehr rechtzeitig anhalten
können, zu brüsken Brems- und Ausweichmanövern etc. zu nötigen.

Das bedeutet indessen nicht, dass der Fussgänger auf der Verkehrsinsel,
welche den Streifen unterteilt, in jedem Fall einen "Sicherheitshalt"
einschalten müsse. Soweit sich aus der Regeste von BGE 101 IV 238, der im
Übrigen das Überqueren einer Strasse ausserhalb eines Fussgängerstreifens
betraf, etwas anderes ergeben sollte, kann daran nicht festgehalten werden.
Der Fussgänger darf einen durch eine Verkehrsinsel unterteilten Streifen in
einem Zug überqueren, wenn er auf Grund seiner Beobachtungen, zu welchen er
gestützt auf Art. 49 Abs. 2 am Ende SVG und Art. 47 Abs. 2 Satz 2 VRV
verpflichtet ist, davon ausgehen darf, dass er dadurch keine herannahenden
Fahrzeuglenker zu brüsken Manövern zwingt. Zu einem Warten auf der Insel ist
der Fussgänger nur verpflichtet, wenn Fahrzeuge bereits so nahe sind, dass
sie nicht mehr rechtzeitig anhalten könnten, und er daher gemäss Art. 47 Abs.
2 Satz 2 VRV von seinem Vortritt nicht Gebrauch machen darf.

2.2 Der Fahrzeuglenker, der sich einem durch eine Verkehrsinsel unterteilten
Fussgängerstreifen ohne Verkehrsregelung nähert, darf grundsätzlich darauf
vertrauen, dass der Fussgänger seiner Beobachtungspflicht und allfälligen
Wartepflicht nachkommt. Dies ergibt sich aus dem Vertrauensgrundsatz (Art. 26
SVG), der auch im Verhältnis zwischen Fahrzeuglenkern und Fussgängern im
Bereich von Fussgängerstreifen gilt (BGE 115 II 283 E. 1a).

Der Fahrzeuglenker, der sich einem Fussgängerstreifen ohne Verkehrsregelung
nähert, welcher durch eine Verkehrsinsel unterteilt ist, hat seine
Aufmerksamkeit nicht nur dem rechtsseitigen Trottoir, der Insel und dem seine
Fahrbahn querenden Teil des Übergangs zu widmen. Vielmehr muss er auch das
Geschehen auf dem die Gegenfahrbahn querenden Teil des Übergangs sowie auf
dem linksseitigen Trottoir beobachten. Allerdings wurde in BGE 101 IV 218
entschieden, in Fällen, in denen eine Verkehrsinsel die Strasse in zwei
verschiedene Fahrbahnen trenne, könne vom Motorfahrzeuglenker nicht verlangt
werden, dass er seine Aufmerksamkeit auch der von ihm nicht benützten
Fahrbahn schenke, selbst dann nicht, wenn ein Fussgänger im Begriffe sei,
diese zu überqueren. Jenes Urteil betraf indessen einen Fall, in dem ein
Fussgänger eine Strasse ohne Fussgängerstreifen überquerte, was aber aus dem
Entscheid nicht besonders deutlich, sondern nur implizit (siehe E. 3b S. 220)
hervorgeht. Allerdings könnte der Hinweis in E. 3b auf Art. 47 Abs. 2 Satz 2
VRV in der damals geltenden Fassung, welcher Art. 47 Abs. 3 VRV entspricht,
in dem Sinne verstanden werden, dass der Fahrzeuglenker, der sich einem durch
eine Verkehrsinsel unterteilten Fussgängerstreifen nähert, seine
Aufmerksamkeit nicht auch dem die Gegenfahrbahn querenden Teil des Übergangs
schenken muss. Soweit in BGE 101 IV 218 E. 3b S. 220 diese Auffassung zum
Ausdruck gebracht worden sein sollte, kann daran nicht festgehalten werden.

Der Fahrzeuglenker, der sich einem durch eine Verkehrsinsel unterteilten
Streifen nähert, muss schon deshalb auch das Geschehen auf dem die
Gegenfahrbahn querenden Teil des Übergangs sowie auf dem linksseitigen
Trottoir beobachten, damit er erkennen kann, ob sich dort Fussgänger
befinden, bei denen Anzeichen dafür bestehen, dass sie, was keineswegs völlig
aussergewöhnlich ist, in Verletzung ihrer Verkehrsbeobachtungs- und
allfälligen Wartepflicht die Strasse in einem Zug überqueren und sich damit
verkehrswidrig verhalten könnten.

Ob solche Anzeichen im Sinne von Art. 26 Abs. 2 SVG bestehen, hängt von den
gesamten konkreten Umständen des einzelnen Falles ab. Dazu gehören zum einen
das Verhalten des Fussgängers, zum andern aber auch die örtlichen
Verhältnisse; auf eher schmalen Strassen und kleinen Inseln dürfte das
Risiko, dass Fussgänger die Strasse in einem Zug überqueren, im Allgemeinen
grösser sein als auf breiten Strassen und gut ausgebauten Verkehrsinseln.

2.3 Die Vorinstanz wird demnach im neuen Verfahren abklären, ob und
gegebenenfalls in welchem Moment für die Beschwerdeführerin bei der gebotenen
Aufmerksamkeit Anzeichen dafür erkennbar waren, dass die Fussgängerin in
Missachtung ihrer Pflichten die Strasse in einem Zug überqueren könnte, und
ob gegebenenfalls bei Einleitung eines Bremsmanövers in diesem Zeitpunkt die
Kollision hätte vermieden werden können. Bei diesem Ergebnis ist im
vorliegenden Verfahren auf die Kritik der Beschwerdeführerin an der
vorinstanzlichen Berechnung des Anhalteweges nicht einzugehen.

3.
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde ist somit gutzuheissen, das Urteil
des Obergerichts aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die
Vorinstanz zurückzuweisen.

Bei diesem Ausgang des Verfahrens werden keine Kosten erhoben und wird der
Beschwerdeführerin eine Entschädigung aus der Bundesgerichtskasse
ausgerichtet (Art. 278 BStP).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Obergerichts des Kantons Aargau, 3. Strafkammer, vom 26. April 2002
aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz
zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Beschwerdeführerin wird eine Entschädigung von Fr. 3'000.-- aus der
Bundesgerichtskasse zugesprochen.

4.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Staatsanwaltschaft des Kantons
Aargau und dem Obergericht des Kantons Aargau, 3. Strafkammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 29. November 2002

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: