Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6S.168/2002
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6S.168/2002 /pai

Sitzung vom 3. Oktober 2002
Kassationshof

Bundesrichter Schubarth, Präsident,
Bundesrichter Schneider, Wiprächtiger, Kolly, Karlen,
Gerichtsschreiberin Krauskopf.

X. ________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecher Friedrich Affolter,
Seestrasse 2, Bahnhofplatz, 3700 Spiez,

gegen

Generalprokurator des Kantons Bern, Postfach 7475, 3001 Bern.

Einfache Verkehrsregelverletzung durch ungenügendes Rechtsfahren mit PW,

Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern, 2.
Strafkammer, vom 20. März 2002.

Sachverhalt:

A.
Am 27. Juli 2000 kam es im Bereich der Einmündung der vortrittsbelasteten
A.________strasse in die B.________strasse in der Gemeinde C.________ zu
einer Kollision zwischen den beiden Personenwagen von Y.________ und
X.________. Erstere bog aus der A.________strasse nach rechts in die
B.________strasse ein, ohne ihre Fahrbahn zu verlassen. X.________ kam von
rechts und wollte geradeaus über die Kreuzung Richtung Dörfli fahren. Im
Kollisionszeitpunkt befand sich das linke Vorderrad des Wagens von X.________
50 cm links der Strassenmitte. Die B.________strasse biegt sich im Bereich
der Kreuzung leicht nach links.

B.
Mit Strafmandat vom 14. August 2000 wurde X.________ mit Fr. 400.-- gebüsst.
Auf ihre Einsprache verurteilte sie der Gerichtspräsident des Gerichtskreises
IV Aarwangen-Wangen am 29. November 2001 wegen einfacher
Verkehrsregelverletzung durch ungenügendes Rechtsfahren zu einer Busse von
Fr. 400.--.

C.
Das Obergericht des Kantons Bern bestätigte am 20. März 2002 den Schuldspruch
und setzte die Busse auf Fr. 300.-- fest.

D.
X.________ führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das
Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung an
dieses zurückzuweisen.

Das Obergericht sowie der Generalprokurator des Kantons Bern verzichten auf
Gegenbemerkungen.

E.
Die Kollisionsbeteiligte Y.________ wurde wegen Missachtung des
Vortrittrechts mit rechtskräftigem Strafmandat vom 8. Februar 2001 mit Fr.
300.-- gebüsst.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Beschwerdeführerin macht geltend, ihr Vortrittsrecht bestehe auf der
gesamten Schnittfläche der Verzweigung, weshalb insoweit das Rechtsfahrgebot
aufgehoben sei.

1.1 Die Vorinstanz verneint die von der Beschwerdeführerin vor allem gestützt
auf BGE 98 IV 113 geltend gemachte Verletzung von Art. 36 Abs. 2 SVG. Die
zitierten Fälle bezögen sich auf Situationen, wo die Fahrbahnen der
Beteiligten zwingend zusammentrafen. Vorliegend handle es sich aber um eine
Konstellation, bei der die Beschwerdeführerin das ihr unbestrittenermassen
zustehende Vortrittsrecht zur ungestörten Weiterführung ihres Weges gar nicht
habe in Anspruch nehmen müssen, denn die Kollisionsgegnerin habe ihr dies
durch ihre Fahrtroute nicht verwehrt.

In einer Eventualbegründung führt die Vorinstanz aus, selbst wenn man von der
Anwendung des Grundsatzes ausgehe, wonach dem Vortrittsberechtigten der
Vortritt auf der gesamten Kreuzungsfläche der Strasse zustehe, sei dieser
einigen Einschränkungen unterworfen. Es gelte wie überall das
Vertrauensprinzip. Die Kollisionsgegnerin habe ihre Fahrbahn nie verlassen.
Sie hätte eine korrekt entgegenkommende Verkehrsteilnehmerin in der
Fortführung ihrer Fahrt nicht behindert. Überdies habe sie aufgrund der
unübersichtlichen Verhältnisse das verkehrswidrige Verhalten der
Beschwerdeführerin nicht erkennen können. Damit habe sie in aller Hinsicht
den Strassenverkehrsregeln genügt und insbesondere das Vortrittsrecht der
Beschwerdeführerin nicht beschnitten. Hingegen habe letztere durch
ungenügendes Rechtsfahren im Bereich der Einmündung Verkehrsvorschriften
verletzt.

1.2 Auf Strassenverzweigungen hat das von rechts kommende Fahrzeug den
Vortritt (Art. 36 Abs. 2 SVG). Die Regel des Rechtsvortritts kommt nur zum
Tragen, wenn bei einer Strassenverzweigung die Fahrbahnen der aus
verschiedenen Richtungen kommenden Fahrzeuge nach den örtlichen Verhältnissen
auch bei korrektem Fahren notwendig zusammentreffen (BGE 93 IV 104 E. 1 S.
106, Urteil 4C.242/1998 vom 2. Oktober 1998 E. 3). Die Vorinstanz hält fest,
dass die Fahrbahnen der zwei verunfallten Wagen nicht notwendigerweise
zusammentreffen mussten (Urteil S. 6). Daraus zieht sie zu Recht den Schluss,
dass Art. 36 Abs. 2 SVG nicht zur Anwendung gelangt.

Selbst wenn diese Vorschrift anwendbar wäre, könnte die Beschwerdeführerin
aus ihrem Vortrittsrecht nichts zu ihren Gunsten ableiten. Zwar besteht nach
ständiger Rechtsprechung der Rechtsvortritt auch dann, wenn sich der
Berechtigte pflichtwidrig verhält, etwa in Missachtung des Rechtsfahrgebots
zu weit links fährt (BGE 116 IV 157 E. 1 S. 158, 102 IV 259 E. 2 S. 261 mit
Hinweisen). Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin bedeutet dies
jedoch nicht, dass das Vortrittsrecht ihr das Recht einräumt, ohne weiteres
auch die linke Fahrbahn zu benutzen. Die Rechtsprechung zu Art. 36 Abs. 2 SVG
bedeutet nur, dass der Vortrittsbelastete auch dann wegen Missachtung des
Vortrittsrechts verurteilt werden kann, wenn sich der Vortrittsberechtigte
pflichtwidrig verhält. Aus dieser Praxis kann hingegen nicht geschlossen
werden, das Vortrittsrecht entbinde den Fahrzeuglenker von der Pflicht, sich
an die allgemeinen Fahrregeln sowie an die besonderen Verkehrsregeln, zu
denen das Rechtsfahrgebot zählt, zu halten. Auch wenn dem Berechtigten das
Vortrittsrecht auf der ganzen Schnittfläche der zusammentreffenden Strassen
zusteht, hat er die Vorschriften des Strassenverkehrsgesetzes einzuhalten
(vgl. auch Urteil 6S.111/1991 vom 19. August 1991 E. 1b, Urteil 6S.723/2001
vom 6. Februar 2002 E. 2a/bb). Die Tatsache, dass links eine Strasse
einmündet und ein geradeaus fahrendes Fahrzeug gegenüber einem von dort
kommenden den Vortritt hat, kann den geradeaus fahrenden Lenker nicht von der
Pflicht entbinden, rechts zu fahren (Urteil 4C.341/1992 vom 25. Februar 1993
E. 3c). An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten: Das Vortrittsrecht auf
einer Strassenverzweigung hebt das Gebot des Rechtsfahrens nicht auf.

1.3 Nach Art. 34 Abs. 1 SVG müssen Fahrzeuge rechts, auf breiten Strassen
innerhalb der rechten Fahrbahnhälfte fahren (Satz 1); sie haben sich
möglichst an den rechten Strassenrand zu halten, namentlich bei langsamer
Fahrt und auf unübersichtlichen Strecken (Satz 2). Das Rechtsfahrgebot gilt
allerdings nicht absolut. Dessen Einhaltung ist nach den Verkehrs- und
Sichtverhältnissen der konkreten Situation zu beurteilen (BGE 107 IV 44 E. 2a
S. 46; 106 IV 50 E. 2 S. 51). Der Fahrzeugführer kann auf gewölbten oder
sonst schwer zu befahrenen Strassen und in Linkskurven von der Regel
abweichen, wenn die Strecke übersichtlich ist und weder der Gegenverkehr noch
nachfolgende Fahrzeuge behindert werden (Art. 7 Abs. 1 VRV). Laut der
Rechtsprechung zum Rechtsfahrgebot gemäss Art. 26 MFG, das sich inhaltlich
mit Art. 34 SVG deckt (vgl. dazu BGE 97 II 362 E. 2 S. 365), allerdings ohne
die in Art. 7 Abs. 1 VRV statuierte Ausnahme vorzusehen, ist auf
unübersichtlichen Strassen oder auf solchen, in welche unübersichtliche
andere Strassen oder Wege einmünden, das Rechtsfahrgebot strikt einzuhalten.
Der Fahrzeuglenker muss sich immer an diese Vorschrift halten, wenn wegen
besonderer Verhältnisse jede Abweichung von der Regel den Verkehr unmittelbar
gefährden müsste (BGE 76 IV 59 E. 1 S. 62). Wo mit entgegenkommenden
Fahrzeugen zu rechnen ist, die nicht auf Distanz wahrgenommen werden können,
muss zum vornherein der zum Kreuzen notwendige Zwischenraum in der Mitte der
Strasse freigelassen werden (BGE 81 IV 170 E. 1 S. 173). Dieser Zwischenraum
wurde auf mindestens 50 cm festgesetzt (BGE 107 IV 44 E. 2c S. 47).

Die Vorinstanz stellt verbindlich fest (Art. 277bis Abs. 1 BStP), dass die
Beschwerdeführerin weder einem anderen Verkehrsteilnehmer auf ihrer Rechten
ausweichen noch jemanden überholen musste. Die Beschwerdeführerin konnte die
einmündende A.________strasse nur beschränkt einsehen. Sie ist zudem in
C.________ wohnhaft und kennt die örtlichen Verhältnisse. Unter diesen
Umständen musste sie sich streng an das Rechtsfahrgebot halten, ungeachtet
dessen, ob die leichte Biegung der B.________strasse als Linkskurve im Sinne
von Art. 7 Abs. 1 VRV zu bezeichnen ist oder nicht. An unübersichtlichen
Stellen erheischt nämlich die Verkehrssicherheit das strenge Einhalten des
Rechtsfahrgebots. Der Fahrzeugführer hat bei unübersichtlichen Stellen mit
dem Erscheinen anderer Strassenbenützer (Fahrzeuge, Fussgänger) zu rechnen
und seine Fahrweise darauf einzurichten; insbesondere muss er sich an das
Rechtsfahrgebot halten und seine Geschwindigkeit anpassen. Die Verurteilung
der Beschwerdeführerin wegen ungenügenden Rechtsfahrens verletzt somit kein
Bundesrecht. Im Übrigen hätte die Beschwerdeführerin entgegen ihrer
Auffassung selbst dann gebüsst werden müssen, wenn sich kein Unfall ereignet
hätte. Sie hat sich unabhängig vom Fahrverhalten der Kollisionsgegnerin
verkehrsregelwidrig verhalten.

2.
Die Nichtigkeitsbeschwerde ist abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens
sind der Beschwerdeführerin die Kosten zu überbinden (Art. 278 Abs. 1 BStP).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, dem Generalprokurator des Kantons
Bern und dem Obergericht des Kantons Bern, 2. Strafkammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 3. Oktober 2002

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: