Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6A.68/2002
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6A.68/2002/bie

Urteil vom 26. Mai 2003
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Karlen, Ersatzrichterin Pont Veuthey,
Gerichtsschreiberin Arquint.

E. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch
Dr. iur. Michael E. Dreher, Bahnhofstrasse 29,
Postfach, 8702 Zollikon, und Rechtsanwalt Bruno Baer,
Seestrasse 221, Postfach, 8700 Küsnacht ZH,

gegen

Rekurskommission für Strassenverkehrssachen des Kantons Thurgau, Postfach
319, 8570 Weinfelden.

Entzug des Führerausweises,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid der Rekurskommission für
Strassenverkehrssachen des Kantons Thurgau vom 17. Dezember 2001.

Sachverhalt:

A.
E. ________ geriet am frühen Morgen des 8. Januar 1998 auf der Hauptstrasse
H1 zwischen Hefenhausen und Müllheim in eine Geschwindigkeitskontrolle. Nach
den vorgenommenen Messungen überschritt er die zulässige
Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h um 39 km/h (nach Abzug einer
Sicherheitsmarge von 4 km/h).

Das Bezirksgericht Weinfelden bestrafte E.________ am 27. Februar 1999 wegen
grober Verletzung der Verkehrsregeln mit einer Busse von Fr. 3'000.--. Die
Rekurskommission des Obergerichts des Kantons Thurgau bestätigte am 2. August
1999 dieses Urteil. Das von E.________ darauf angerufene Bundesgericht wies
am 29. Juni 2000 eine staatsrechtliche Beschwerde sowie eine ebenfalls
erhobene eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde ab, soweit es auf diese
Rechtsmittel eintrat (Verfahren 6P.50/2000 und 6S.234/2000). Ein später
eingereichtes Revisionsgesuch wurde vom Bundesgericht am 21. Februar 2001
ebenfalls abgewiesen (Verfahren 6P.138/2000).

Das Strassenverkehrsamt des Kantons Thurgau entzog E.________ wegen der
erwähnten Geschwindigkeitsüberschreitung am 29. Juni 2001 den Führerausweis
für sechs Monate. Es berücksichtigte dabei, dass es sich um den zweiten
Entzug innerhalb von zwei Jahren handelte. Der gegen diese Verfügung
ergriffene Rekurs wurde von der Rekurskommission für Strassenverkehrssachen
des Kantons Thurgau am 17. Dezember 2001 abgewiesen.

B.
E.________ erhebt gegen den zuletzt genannten Entscheid
Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht und beantragt, es sei der
angefochtene Entscheid aufzuheben und von einem Führerausweisentzug
abzusehen. Eventualiter sei die Angelegenheit zur Erstellung des Sachverhalts
und zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Die Rekurskommission für Strassenverkehrssachen ersucht um Abweisung der
Beschwerde.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Nach Art. 24 Abs. 2 SVG können letztinstanzliche kantonale Entscheide über
Führerausweisentzüge mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht
angefochten werden. Die Voraussetzungen für die Ergreifung dieses
Rechtsmittels sind erfüllt. Auf die Beschwerde ist daher einzutreten.

Die vom Beschwerdeführer beiläufig geltend gemachte Verletzung des
rechtlichen Gehörs fällt mit seiner hauptsächlich vorgebrachten - nachstehend
zu prüfenden (vgl. E. 2) - Rüge zusammen. Es ist deshalb nicht weiter darauf
einzugehen.

2.
Der Beschwerdeführer wendet sich in erster Linie gegen die
Sachverhaltsfeststellung im angefochtenen Entscheid. Er wirft der
Rekurskommission vor, zu Unrecht von einer bindenden Wirkung des Strafurteils
ausgegangen zu sein und die von ihm neu angeführten Tatsachen nicht
berücksichtigt zu haben.

2.1 Die Behörden, die über den Entzug des Führerausweises entscheiden, sind
grundsätzlich an die Sachverhaltsfeststellungen im Strafurteil, das zum
fraglichen Vorfall ergangen ist, gebunden. Sie dürfen davon nur unter
bestimmten, in der Rechtsprechung näher bezeichneten Umständen abweichen.
Dies ist unter anderem dann der Fall, wenn sie selber Tatsachen feststellen,
die dem Strafrichter unbekannt waren oder die er nicht beachtet hat (BGE 121
II 214 E. 3a S. 217; 119 Ib 158 E. 3c/aa S. 163 f.).

Der grundsätzlichen Bindung an das Strafurteil entspricht es, dass die
Entzugsbehörden in der Regel keine eigenen Sachverhaltserhebungen vorzunehmen
haben. Zu solchen sind sie nur verpflichtet, wenn klare Anhaltspunkte dafür
bestehen, dass die Sachverhaltsfeststellungen im Strafurteil unrichtig sind.
In diesem Fall müssen die Entzugsbehörden soweit nötig selbständige
Beweiserhebungen durchführen (BGE 119 Ib 158 E. 3c/aa S. 164; 103 Ib 101 E.
2b S. 105 f.).
2.2 Die Geschwindigkeitsüberschreitung, die dem Beschwerdeführer vorgeworfen
wird, wurde mit einem Lasergerät ermittelt. Dabei dienten mehrere Videobilder
zusammen mit den Leuchtpfosten am Strassenrand als Grundlage für die
Berechnung der gefahrenen Geschwindigkeit. Wie aus dem Gutachten des
Eidgenössischen Amts für Messwesen vom 1. Mai 1998 hervorgeht, erfolgte
ausserdem eine davon unabhängige Ermittlung der Geschwindigkeit anhand der
Leuchtpunktabstände der beiden Scheinwerfer des Fahrzeugs. Bei der Bestimmung
nach der ersten Methode wurde davon ausgegangen, dass die Distanz zwischen
dem zweiten und dritten Leuchtpfosten im Messbereich 44,8 Meter betragen
habe. Der Beschwerdeführer bestritt diese Berechnung im Strafverfahren. Die
Rekurskommission des Obergerichts wies diese Kritik in ihrem Entscheid vom 2.
August 1999 jedoch als unbegründet zurück und hielt fest, dass die
Berechnungen gestützt auf das bereits erwähnte Gutachten nachvollzogen werden
könnten und sie sich auf eigene Nachmessungen des Experten an Ort und Stelle
stützten (E. 2b). Diese tatsächlichen Feststellungen stellte der
Beschwerdeführer mit der beim Bundesgericht erhobenen staatsrechtlichen
Beschwerde nicht in Frage (vgl. E. 2 des Entscheids 6P.50/2000 vom 29. Juni
2000). Hingegen machte er im anschliessenden Verfahren betreffend
Führerausweisentzug geltend, der Abstand zwischen dem zweiten und dritten
Leuchtpfosten sei in Wirklichkeit kleiner als die vom Experten angenommenen
44,8 Meter. Er verwies dabei auf eine Messung der Firma X.________ AG, die
eine Distanz von lediglich 36,1 Meter ermittelt hatte.

2.3 Die Rekurskommission lehnte es im angefochtenen Entscheid ab, zur Distanz
zwischen dem zweiten und dritten Leuchtpfosten weitere Beweiserhebungen
vorzunehmen. Sie erklärte sich an die Feststellungen des Strafurteils
gebunden. Denn im Administrativverfahren könne nicht nachgeholt werden, was
der Beschwerdeführer im Strafverfahren vorzubringen versäumt habe.

Diese Auffassung steht mit der dargestellten Rechtsprechung (E. 2.1) nicht im
Einklang. Danach haben die Verwaltungsbehörden stets eigene
Sachverhaltserhebungen zu unternehmen, wenn klare Anhaltspunkte vorliegen,
dass die Feststellungen im Strafurteil nicht zutreffen. Dabei ist nicht
ausschlaggebend, ob diese ihre Ursache in prozessualen Versäumnissen des
Rechtssuchenden haben. Die grundsätzliche Bindung der Verwaltungsbehörden an
Strafurteile bezweckt, voneinander abweichende Würdigungen des gleichen
Beweismaterials durch Straf- und Verwaltungsinstanzen zu vermeiden (vgl. BGE
119 Ib 158 E. 2c/bb S. 161 f.). Diese Zielsetzung bedingt nicht, den
Rechtssuchenden im Verwaltungsverfahren mit neuen tatsächlichen Einwendungen
gänzlich auszuschliessen. Allerdings sind die Entzugsbehörden wie erwähnt zu
zusätzlichen Beweiserhebungen nur verpflichtet, soweit hinreichende
Anhaltspunkte für einen Fehler bei den Sachverhaltsfeststellungen des
Strafurteils bestehen. Im Regelfall müssen die Administrativbehörden daher
nicht auf Punkte zurückkommen, über die im Strafverfahren Beweise abgenommen
wurden.

2.4 Im vorliegenden Fall fragt sich daher einzig, ob die Rekurskommission auf
Grund des neuen Einwands des Beschwerdeführers gehalten war, über die Distanz
zwischen dem zweiten und dritten Leuchtpfosten weitere Beweise zu erheben.

Im Strafverfahren wurde über die Zuverlässigkeit der Geschwindigkeitsmessung
ein Gutachten des Eidgenössischen Amts für Messwesen eingeholt. Darin steht
unter anderem, dass die fraglichen Streckenabschnitte nach der Messphase am
Standort ausgemessen wurden bzw. dass die notwendigen Distanzen der
Leuchtpfosten vor Ort ermittelt wurden. Der Beschwerdeführer zieht zwar in
Zweifel, dass der Experte die Abstände zwischen den Pfosten selber
nachgemessen habe. Er vermag aber nicht näher aufzuzeigen, warum die
wiederholte und völlig klare gegenteilige Aussage im Gutachten unzutreffend
sein sollte. Im Übrigen stellte der Beschwerdeführer den Abstand zwischen dem
zweiten und dritten Leuchtpfahl bereits im Strafverfahren in Frage. Er berief
sich in diesem Zusammenhang aber nicht auf eine eigene abweichende Messung,
obwohl er allen Anlass hatte, mit einer solchen seinen Standpunkt zu
untermauern. Die Rekurskommission des Obergerichts sah denn auch keinen
Grund, die Messungen des Gutachters für fehlerhaft zu halten. In der
staatsrechtlichen Beschwerde an das Bundesgericht stellte der
Beschwerdeführer die Distanz nicht mehr in Frage.

Bei dieser Sachlage kommt der neuen Messung der Firma X.________ AG, die der
Beschwerdeführer im Administrativverfahren eingereicht hat, kein erhebliches
Gewicht zu. Denn sie wurde erst nach mehr als drei Jahren seit dem Vorfall
vorgenommen, und ein Vergleich der neuerlichen Messung mit der seinerzeitigen
Messanordnung ist nicht mehr ohne weiteres möglich. Jedenfalls vermag die
allein eingereichte Grundbuchkopie mit der eingezeichneten gemessenen Distanz
die Ermittlungen des Strafverfahrens nicht ernsthaft in Frage zu stellen. Es
kommt hinzu, dass der Gutachter die Geschwindigkeit nicht einzig auf Grund
der fraglichen Distanzvermessung ermittelte. Die Messung der Firma X.________
AG liefert daher keinen klaren Anhaltspunkt, dass die seinerzeitige
Geschwindigkeitsermittlung fehlerhaft gewesen ist. Unter diesen Umständen
waren die Entzugsbehörden nicht verpflichtet, zu diesem Punkt neue Erhebungen
zu tätigen.
Die Rüge der offensichtlich unrichtigen und unvollständigen
Sachverhaltsfeststellung erweist sich daher als unbegründet.

3.
Der Beschwerdeführer macht weiter geltend, das kantonale Verfahren habe
übermässig lange gedauert. Dies hätte mit einer erheblichen Reduktion der
Entzugsdauer berücksichtigt werden müssen.

Die kantonalen Instanzen setzen die Entzugsdauer auf das gesetzliche Minimum
von sechs Monaten fest, da der Beschwerdeführer die hier zu beurteilende
massive Geschwindigkeitsüberschreitung innert zwei Jahren seit Ablauf des
letzten Entzugs begangen hat (Art. 17 Abs. 1 lit. c SVG). Nach der
Rechtsprechung kann freilich auch die gesetzliche Mindestdauer ausnahmsweise
unterschritten werden, wenn seit der Widerhandlung verhältnismässig viel Zeit
verstrichen ist, sich der Betroffene während dieser Zeit wohl verhalten hat
und ihn an der langen Verfahrensdauer keine Schuld trifft (BGE 127 II 297 E.
3d; 120 Ib 504 E. 4). Ob ein Verfahren übermässig lange gedauert hat,
beurteilt sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls. In der
bisherigen Praxis erachtete das Bundesgericht eine Dauer von fünfeinhalb
Jahren bei einer groben Verkehrsregelverletzung als zu lange und reduzierte
daher die Entzugsdauer unter das gesetzlich vorgesehene Minimum von sechs
Monaten (BGE 120 Ib 504 E. 5).

Wie im zuletzt genannten Fall ist vorliegend ebenfalls ein Warnungsentzug
wegen einer groben Verkehrsregelverletzung zu beurteilen. Das kantonale
Verfahren dauerte bis zum begründeten Entscheid der Rekurskommission rund
viereinhalb Jahre, und die Widerhandlung liegt heute über fünf Jahre zurück.
Eine so lange Verfahrensdauer erscheint grundsätzlich als problematisch. Sie
ist allerdings hauptsächlich durch die vom Beschwerdeführer ergriffenen
zahlreichen Rechtsmittel verursacht worden. So hat er im Strafverfahren den
Instanzenzug bis zum Bundesgericht ausgeschöpft. Anschliessend hat er um
Revision des bundesgerichtlichen Urteils ersucht und die Entzugsbehörden
gebeten, den Ausgang dieses Verfahrens abzuwarten. Auch im Entzugsverfahren
hat der Beschwerdeführer alle Rechtsmittel ausgeschöpft. Vor der
Rekurskommission verlangte er auch die Durchführung einer mündlichen
Verhandlung. Insbesondere fällt in Betracht, dass der Beschwerdeführer den
Einwand der fehlerhaften Streckenabschnittsmessung erst nach Abschluss des
Strafverfahrens mit einer neuen Messung in Frage stellte und dadurch das
Verfahren erheblich verzögerte. Werden diese besonderen Umstände
berücksichtigt, erscheint sein Vorwurf einer übermässigen Verfahrensdauer
nicht gerechtfertigt. Die Beschwerde ist daher auch in diesem Punkt
unbegründet.

4.
Aus diesen Erwägungen ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde vollumfänglich
abzuweisen.

Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die bundesgerichtlichen Kosten dem
Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer und der Rekurskommission für
Strassenverkehrssachen des Kantons Thurgau sowie dem Strassenverkehrsamt des
Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Strassen schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 26. Mai 2003

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: