Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6A.67/2002
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6A.67/2002 /pai

Urteil vom 25. September 2002
Kassationshof

Bundesrichter Schubarth, Präsident,
Bundesrichter Kolly, Karlen,
Gerichtsschreiberin Krauskopf.

X. ________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Victor Benovici,
Goldgasse 11, 7002 Chur,

gegen

Kantonsgericht von Graubünden, Kantonsgerichtsausschuss, Poststrasse 14, 7002
Chur.

Entzug des Führerausweises,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts von
Graubünden, Kantonsgerichtsausschuss, vom 10. Juli 2002.

Sachverhalt:

A.
Am 16. Oktober 2001 um 14.35 Uhr fuhr X.________ als Lenkerin ihres
Personenwagens der Marke Porsche auf dem Gemeindegebiet von Castione auf
einer Innerortsstrecke (gesetzliche Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h) mit
einer Geschwindigkeit von 73 km/h (nach Abzug der Sicherheitsmarge). Deswegen
wurde ihr vom Strassenverkehrsamt des Kantons Graubünden der Führerausweis
für die Dauer von einem Monat entzogen.

B.
Dagegen erhobene Rechtsmittel wurden zunächst vom zuständigen Departement und
am 10. Juli 2002 vom Kantonsgericht von Graubünden abgewiesen.

C.
X.________ erhebt staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 8 BV
mit dem Hinweis, dass die Beschwerde gegebenenfalls auch als
Verwaltungsgerichtsbeschwerde behandelt werden könne, und mit dem Antrag, der
Entscheid des Kantonsgerichtes sei aufzuheben.

D.
Das Kantonsgericht beantragt Abweisung der Beschwerde, soweit auf sie
einzutreten ist.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Nach konstanter Rechtsprechung des Bundesgerichtes ist bei einer
Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts von 23 km/h der Führerausweis
zwingend zu entziehen, es sei denn, es lägen besondere Umstände vor (BGE 128
II 86 E. 2b S. 88; 126 II 202 E. 1a S. 204). Die Beschwerdeführerin stellt
dies grundsätzlich nicht in Frage. Sie macht geltend, gemäss konstanter
Praxis im Kanton Tessin würde eine derartige Geschwindigkeitsüberschreitung
nur mit einer Verwarnung sanktioniert. Es stelle eine Verletzung der
Rechtsgleichheit dar, dass sie, weil im Kanton Graubünden wohnhaft, mit einem
Führerausweisentzug von einem Monat belegt werde, während im Tatortkanton in
derartigen Fällen bloss eine Verwarnung ausgesprochen würde.

2.
Letztinstanzliche kantonale Entscheide über den Führerausweisentzug
unterliegen der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht (Art. 24
Abs. 2 SVG). Die staatsrechtliche Beschwerde ist subsidiär und erweist sich
daher als unzulässig (Art. 84 Abs. 2 OG). Sie kann aber im vorliegenden Fall
als Verwaltungsgerichtsbeschwerde entgegengenommen werden, da sie den
Formvorschriften von Art. 106 und 108 OG genügt und mit ihr die Verletzung
eines verfassungsmässigen Rechts geltend gemacht wird (Art. 104 Abs. 1 lit. a
OG).

3.
Nach der gesetzlichen Regelung ist für den Entzug des Führerausweises nicht
der Tatort-, sondern der Wohnortkanton zuständig (Art. 22 Abs. 1 SVG). Der
Wohnortkanton hat dabei das Bundesrecht und die in Konkretisierung von
Bundesrecht ergangene bundesgerichtliche Rechtsprechung zu beachten. Die
Vorinstanz hat offensichtlich kein Bundesrecht verletzt, wenn sie in
Beachtung der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtes einen
Führerausweisentzug ausgesprochen hat (vgl. E. 1).

3.1 Die Vorinstanz geht - gestützt auf Abklärungen im kantonalen Verfahren -
davon aus, dass im vorliegenden Fall im Kanton Tessin nur eine Verwarnung
ausgesprochen worden wäre. So befindet sich in den kantonalen Akten eine
Aktennotiz über ein Telefongespräch vom 21. Februar 2002 zwischen dem
Strassenverkehrsamt des Kantons Graubünden und einer juristischen
Mitarbeiterin der Amministrazione Cantonale, Dipartimento delle Istituzioni
(act. 10a). Danach wird im Kanton Tessin innerorts bei einer
Geschwindigkeitsüberschreitung von 20 - 30 km/h grundsätzlich eine Verwarnung
ausgesprochen.

3.2 Sollte dies zutreffen, würde diese Praxis eine Begünstigung von
Fahrzeuglenkern mit Wohnsitz im Kanton Tessin darstellen. Daraus könnten
jedoch Fahrzeuglenker mit Wohnsitz in einem anderen Kanton nichts für sich
herleiten. Nach ständiger Rechtsprechung geht nämlich der Grundsatz der
Gesetzmässigkeit dem Prinzip der Rechtsgleichheit in der Regel vor. Diese
Regel kann durchbrochen werden, wenn eine Behörde nicht gewillt ist, eine
rechtswidrige Praxis aufzugeben (BGE 122 II 446 E. 4a S. 451 mit Hinweisen).
Das Kantonsgericht von Graubünden hat jedoch weder eine rechtswidrige Praxis
angenommen noch ist es an die Entscheide der Behörden des Kantons Tessin
gebunden. Auch das Bundesgericht ist nicht an eine allfällige
bundesrechtswidrige Praxis der Kantone gebunden, denn im Interesse der
Durchsetzbarkeit des Bundesrechts muss es Ansprüche auf gesetzwidrige
Begünstigung verweigern und der gesetzeskonformen Rechtsanwendung zum
Durchbruch verhelfen (BGE 122 II 446 E. 4a S. 451 mit Hinweisen). Gerade der
vorliegende Fall zeigt, wie stossend es wäre, wenn die Praxis eines Kantons
von der einheitlichen Rechtsprechung des Bundesgerichts abweichen würde.
Fahrzeuglenker mit Wohnsitz im Kanton Tessin würden bei
Geschwindigkeitsüberschreitungen innerorts milder behandelt als
Fahrzeuglenker mit Wohnsitz in Kantonen, die sich an die bundesgerichtliche
Rechtsprechung halten. Insofern lässt sich ein gewisses Verständnis für die
Argumentation der Beschwerdeführerin aufbringen. Auf der anderen Seite ist zu
berücksichtigen, dass die Beschwerdeführerin nicht strenger behandelt wird
als Fahrzeuglenker mit Wohnsitz in Kantonen, welche die bundesgerichtliche
Rechtsprechung grundsätzlich beachten. Hierzu dürfte nach Kenntnis des
Bundesgerichtes die grosse Mehrheit der schweizerischen Kantone gehören.
Jedenfalls ist dem Bundesgericht abgesehen von der von den graubündnerischen
Behörden festgestellten Praxis des Kantons Tessin nicht bekannt, dass andere
kantonale Behörden der bundesgerichtlichen Rechtsprechung regelmässig die
Gefolgschaft verweigern würden.

Im Interesse einer rechtsgleichen Anwendung der eidgenössischen Vorschriften
sind die Behörden des Kantons Tessin daher gehalten, den Führerausweisentzug
stets anzuordnen, wenn dies nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung
geboten ist, und zwar sowohl für Geschwindigkeitsüberschreitungen, die
Fahrzeuglenker mit Wohnsitz im Kanton Tessin in anderen Kantonen begangen
haben, als auch für solche, die sie im Kanton Tessin verübt haben. Es wird
gegebenenfalls Sache des Bundesamtes für Strassen sein, in geeigneter Weise
auf die bundesrechtskonforme Anwendung der Vorschriften betreffend
Führerausweisentzug hinzuwirken, sofern es zutreffen sollte, dass im Kanton
Tessin in dieser Hinsicht eine abweichende Praxis besteht.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.- wird der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin und dem Kantonsgericht von
Graubünden, Kantonsgerichtsausschuss, sowie dem Justiz-, Polizei- und
Sanitätsdepartement Graubünden und dem Bundesamt für Strassen schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 25. September 2002

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: