Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6A.57/2002
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6A.57/2002 /kra

Urteil vom 23. August 2002
Kassationshof

Bundesrichter Schubarth, Präsident,
Bundesrichter Schneider, Kolly,
Gerichtsschreiber Borner.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Franz P. Boutellier,
Bahnhofstrasse 8, Postfach, 5080 Laufenburg,

gegen

Verwaltungsgericht des Kantons Aargau, 1. Kammer,
Obere Vorstadt 40, 5001 Aarau.

Entzug des Führerausweises; Dauer des Entzugs,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des
Kantons Aargau, 1. Kammer, vom 27. März 2002.

Sachverhalt:

A.
X. ________ fuhr am 22. November 1998 um 16.34 Uhr in Brunegg auf der
Autobahn A1 bei dichtem Personenwagenverkehr auf dem Überholstreifen in
Richtung Zürich. Nach dem Anschluss Mägenwil schwenkte er nach rechts auf den
Normalstreifen aus, überholte rechts ein neutrales Polizeifahrzeug der
Autobahnpatrouille und begab sich wieder auf den Überholstreifen. Auf diesem
folgte er mit einer Geschwindigkeit von 120 km/h und einem Abstand von ca. 3
bis 5 m dem voranfahrenden Personenwagen. Diesen geringen Abstand hielt er
über eine Distanz von ca. 1,5 km ein. Anschliessend überholte er wiederum auf
dem Normalstreifen zwei Fahrzeuge und schwenkte vor ihnen erneut nach links
auf den Überholstreifen ein.

B.
Das Bezirksamt Lenzburg verurteilte X.________ am 8. April 1999 wegen
ungenügenden Abstandes beim Hintereinanderfahren und Rechtsüberholens durch
Ausschwenken und Wiedereinbiegen in Anwendung von Art. 90 Ziff. 2 SVG zu
einer Busse von Fr. 2'000.--. Dieser Strafbefehl erwuchs in Rechtskraft.

C.
Das Strassenverkehrsamt des Kantons Aargau entzog X.________ am 22. Juni 2000
den Führerausweis für die Dauer von drei Monaten.

Das Departement des Innern des Kantons Aargau und das Aargauische
Verwaltungsgericht wiesen den Antrag von X.________, die Entzugsdauer auf
einen Monat festzusetzen, am 7. September 2001 beziehungsweise am 27. März
2002 ab.

D.
X.________ führt eidgenössische Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit den
Rechtsbegehren, es sei der Entscheid des Verwaltungsgerichtes aufzuheben und
der Führerausweis für die Dauer von einem Monat zu entziehen; eventuell sei
die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Das Verwaltungsgericht schliesst auf Abweisung der Beschwerde (act. 6).

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Die Vorinstanz wirft dem Beschwerdeführer vor, er habe auf der Autobahn
zweimal rechts überholt. Ferner habe er zum voranfahrenden Fahrzeug einen
Abstand von lediglich 3 bis 5 m eingehalten (Urteil Verwaltungsgericht, S.
4-7 Ziff. 1 und 2). Damit habe er sich einer schweren Verkehrsgefährdung
sowie bezüglich des Rechtsüberholens eines schweren Verschuldens schuldig
gemacht. Das Verschulden hinsichtlich des Einhaltens eines ungenügenden
Abstandes sei als sehr schwer zu qualifizieren. Der Führerausweis sei deshalb
in Anwendung von Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG obligatorisch zu entziehen (S.
7-11, Ziff. 3).

1.2 Bei der Festsetzung der Massnahmedauer geht die Vorinstanz von mehreren
groben Verkehrsregelverletzungen aus. In Anwendung von Art. 68 StGB und in
Abwägung der Zumessungskriterien gemäss Art. 33 Abs. 2 VZV bezeichnet sie den
von den kantonalen Behörden ausgesprochenen Warnungsentzug von drei Monaten
als angemessen, wenn nicht sogar als eher mild. Ausgangspunkt sei eine
Entzugsdauer von mindestens vier Monaten. Diese sei wegen des ungetrübten
Leumundes und der ausgewiesenen langjährigen sowie grossen Fahrpraxis des
Beschwerdeführers und auf Grund einer leicht erhöhten
Massnahmeempfindlichkeit um einen Monat zu reduzieren (Urteil
Verwaltungsgericht, S. 12-17, Ziff. 4).

2.
Der Beschwerdeführer rügt eine mehrfache Ermessensüberschreitung durch die
Vorinstanz bei der Festsetzung der Entzugsdauer. Die Praxis des
Verwaltungsgerichtes, wonach bei einem obligatorischen Führerausweisentzug
gestützt auf Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG von einer Entzugsdauer von drei
Monaten auszugehen sei, sei zu schematisch und widerspreche der
Verkehrsregelnverordnung (Beschwerde, S. 5 Ziff. 3). Bezüglich des
Verschuldens sei auf BGE 126 II 358 hinzuweisen. In diesem Entscheid habe das
Bundesgericht lediglich einen mindestens mittelschweren Fall angenommen. Die
Vorinstanz gehe demgegenüber von einem sehr schweren Verschulden aus. Beim
automobilistischen Leumund berücksichtige sie seine ausgewiesene langjährige
und grosse Fahrpraxis nicht in genügendem Ausmass (S. 6 f. Ziff. 4).
Schliesslich sei bei der Massnahmedauer eine zumindest mittelgradig erhöhte
Massnahmeempfindlichkeit zu berücksichtigen. Auch in diesem Punkt habe die
Vorinstanz ihr Ermessen überschritten (S. 7 f. Ziff. 5).

3.
In der Vernehmlassung weist die Vorinstanz darauf hin, angesichts der
Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG (dazu BGE 123
II 37 E. 1b) rechtfertige das Tatverschulden - für sich allein betrachtet -
regelmässig eine schärfere Massnahme als die minimale einmonatige
Entzugsdauer, dies gerade unter dem vom Bundesgericht betonten erzieherischen
Gesichtspunkt des Warnungsentzuges. Entscheidend sei, dass die weiteren
Kriterien für die Bemessung der Entzugsdauer zur Reduktion der Entzugsdauer
bis auf das gesetzliche Minimum führen könnten. Dies sei nach der kantonalen
Rechtsprechung der Fall, allerdings nur, wenn diese weiteren Kriterien stark
zu Gunsten des Motorfahrzeuglenkers sprächen. Beim Beschwerdeführer treffe
diese Voraussetzung klarerweise nicht zu (act. 6).

4.
4.1 Gemäss Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG muss der Führerausweis entzogen werden,
wenn der Führer den Verkehr in schwerer Weise gefährdet hat. Dabei beträgt
die Dauer des Entzugs nach Art. 17 Abs. 1 lit. a SVG mindestens einen Monat.
Das Bundesgericht hat entschieden, dass die Mindestdauer des
Führerausweisentzuges auch für jenen Fahrzeugführer, der den Verkehr in
schwerer Weise gefährdet hat, einen Monat beträgt. Eine kantonale Praxis,
wonach in solchen Fällen der Führerausweis in der Regel mindestens drei
Monate zu entziehen ist, verstösst daher gegen Bundesrecht (BGE 123 II 63 E.
3c/aa).

An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten. Standardisierte "Tarife" verletzen
Bundesrecht, wenn sie zu schematisch angewendet und die Umstände des
Einzelfalls nicht mehr genügend berücksichtigt werden (Urteil 6A.23/2002 vom
30. April 2002 mit Hinweis auf Urteil 6A.49/2001 vom 30. Oktober 2001, BGE
124 II 44 E. 1 und 123 II 63 E. 3c/aa).

4.2 Das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau verwendet in seinen Entscheiden
regelmässig folgende Formulierung:
"In konstanter Rechtsprechung geht das Verwaltungsgericht bei einem
obligatorischen Führerausweisentzug gestützt auf Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG
von einer Entzugsdauer von drei Monaten aus. Dabei handelt es sich jedoch um
einen Richtwert zur Umsetzung der obligatorischen Entzugsgründe (grobe
Verkehrsregelverletzung), und es ist in jedem Einzelfall konkret zu prüfen,
welche Entzugsdauer unter Würdigung sämtlicher Umstände und unter Beachtung
der Bemessungsregeln als angemessen erscheint (AGVE 1989, S. 150 f; BGE 105
Ib 208). Es ist jedoch festzuhalten, dass auch bei der Anwendung von Art. 16
Abs. 3 SVG die Mindestentzugsdauer einen Monat beträgt; für die Festlegung
einer anderen Mindestentzugsdauer besteht gesetzlich kein Raum (BGE 123 II
63)."
Diese Formulierung gibt immer wieder Anlass zu Verwaltungsgerichtsbeschwerden
ans Bundesgericht. Es wird daher empfohlen, in Zukunft darauf zu verzichten.
Die Aussage ist in der Tat zumindest missverständlich, wenn nicht gar
widersprüchlich. Der erste Satz ist - wie das Bundesgericht verschiedentlich
festgehalten hat - bundesrechtswidrig. Daran ändert auch der Umstand nichts,
dass er in der Folge abgeschwächt wird.

Auszugehen ist gemäss Art. 17 Abs. 1 lit. a SVG bei der Festsetzung der
Entzugsdauer von einem Monat. Anschliessend sind die Kriterien von Art. 33
Abs. 2 VZV anzuwenden. Schweres Verschulden wird dabei zu einer längeren
Entzugsdauer führen. Die Erhöhung ist individuell zu bestimmen. Es darf nicht
auf ein Richtmass von drei Monaten abgestellt werden. Die Erhöhung der
Mindestentzugsdauer kann vielmehr einen bis mehrere Monate betragen. Gestützt
auf die weiteren Kriterien ist dann das erhaltene Resultat gegebenenfalls
wiederum zu reduzieren.

5.
5.1 Erstes Zumessungskriterium bei der Festsetzung der Entzugsdauer gemäss
Art. 33 Abs. 2 VZV ist die Schwere des Verschuldens. Das Verschulden des
Beschwerdeführers ist sehr gravierend. Dieser ist dem vorausfahrenden
Automobilisten über eine Distanz von rund 1,5 km bei einer Geschwindigkeit
von 120 km/h mit einem Abstand von ca. 3 bis 5 m gefolgt. Mit dieser
Fahrweise hat er die Vorschrift von Art. 34 Abs. 4 SVG, wonach gegenüber
allen Strassenbenützern ein ausreichender Abstand zu wahren ist, aufs Gröbste
verletzt. Sein Verhalten ist verantwortungslos und unentschuldbar. Es wiegt
viel schwerer als jenes, das BGE 126 II 358 zu Grunde lag. Von einem bloss
mittelschweren Fall kann keine Rede sein.

Der Beschwerdeführer hat sich weitere schwere Verkehrsregelverletzungen zu
Schulden kommen lassen. Innerhalb weniger Minuten hat er zweimal auf der
Autobahn rechts überholt. Das Bundesgericht hat sich im Entscheid 126 IV 192
eingehend zum Problem des Rechtsüberholens geäussert. Es hielt unter anderem
fest, das betreffende Verbot sei eine für die Verkehrssicherheit objektiv
wichtige Vorschrift, deren Missachtung eine erhebliche Gefährdung der
Verkehrssicherheit mit beträchtlicher Unfallgefahr nach sich ziehe und daher
objektiv schwer wiege (a.a.O., E. 3).

Gesamthaft gesehen wiegt das vom Beschwerdeführer am 22. November 1998 an den
Tag gelegte Fahrverhalten auf der Autobahn ausserordentlich schwer. Es
rechtfertigt für sich allein genommen einen mehrmonatigen
Führerausweisentzug. Hinter die Aussage in der Beschwerdeschrift, es handle
sich beim Beschwerdeführer um einen verantwortungsbewussten Fahrzeuglenker,
der in der Lage und gewillt sei, die Verkehrsvorschriften einzuhalten
(Beschwerde, S. 7), ist ein grosses Fragezeichen zu setzen.

5.2 Die Dauer des Warnungsentzuges richtet sich gemäss Art. 33 Abs. 2 VZV
auch nach dem Leumund als Motorfahrzeugführer sowie nach der beruflichen
Notwendigkeit, ein Motorfahrzeug zu führen.

Die Vorinstanz würdigt die beiden Kriterien separat (Urteil
Verwaltungsgericht, S. 13 lit. c und S. 14 ff. lit. d). Bei der Festsetzung
der Massnahmedauer trifft sie indessen keine Unterscheidung mehr, sondern
reduziert die Einsatzmassnahme von vier Monaten insgesamt um einen Monat (S.
16 f. lit. e).
Nach Auffassung des Beschwerdeführers hat die Vorinstanz ihr Ermessen in
zweifacher Weise überschritten. Einerseits habe seine unbestritten
langjährige und grosse Fahrpraxis zu einer Reduktion von weniger als einem
Monat geführt, was nicht zu rechtfertigen sei (Beschwerde, S. 6 f. Ziff. 4).
Andererseits habe sie die Voraussetzungen für eine hochgradig oder zumindest
mittelgradig erhöhte Massnahmeempfindlichkeit verneint. Der Entzug des
Führerausweises habe indessen für ihn verglichen mit dem "normalen"
Autobenutzer weit gravierendere Konsequenzen (S. 7 f. Ziff. 5).

5.3 Der gute automobilistische Leumund des Beschwerdeführers wird von der
Vorinstanz anerkannt. Bezüglich der Massnahmeempfindlichkeit hält sie fest,
es sei weder ersichtlich noch werde vom Beschwerdeführer dargelegt, dass er
seinen Arbeitsweg nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen könne.
Auch die behaupteten Auswirkungen eines länger dauernden Entzugs auf das
Arbeitsverhältnis seien nicht substanziiert worden. Es sei daher davon
auszugehen, dass der Beschwerdeführer als senior consultant im technischen
Softwareumfeld der Firma ... seine berufliche Tätigkeit mit öffentlichen
Verkehrsmitteln, je nach Einsatzzeiten unter Inanspruchnahme von Fahrdiensten
durch Hilfspersonen oder notfalls auch mittels Taxis, vornehmen könne. Damit
liege bloss eine leicht erhöhte Massnahmeempfindlichkeit vor (Urteil
Verwaltungsgericht, S. 14 ff. lit. d).

Diese Erwägungen sind nicht zu beanstanden. Gemäss Praxis des Bundesgerichtes
ist nicht schon bei der Beurteilung des Grades der Massnahmeempfindlichkeit
endgültig festzulegen, ob dieses Element für sich allein zu einer
Herabsetzung der Entzugsdauer führt. Erst bei der Gesamtbeurteilung aller
wesentlichen Elemente ist zu prüfen, ob die berufliche Angewiesenheit auf den
Führerausweis für sich allein oder allenfalls zusammen mit anderen
Beurteilungsmerkmalen eine Herabsetzung der Einsatzmassnahme rechtfertigt.
Nur ein solches Vorgehen garantiert eine pflichtgemässe Ermessensausübung und
vermag auch dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu genügen (BGE 123 II 572
E. 2c, S. 575 mit Hinweis). Diesen Anforderungen wird der angefochtene
Entscheid gerecht. Die Vorinstanz hat die Massnahmeempfindlichkeit zusammen
mit dem automobilistischen Leumund gewichtet und für beide Kriterien
insgesamt eine Reduktion von einem Monat gewährt.

5.4 Es bleibt zu prüfen, ob die Vorinstanz den Führerausweisentzug von
letztlich drei Monaten in Überschreitung ihres Ermessens verfügt hat. Die
Frage ist zu verneinen. Das Verschulden des Beschwerdeführers ist derart
gravierend, dass eine Dauer von drei Monaten allen Umständen gerecht wird,
selbst wenn man die beiden Kriterien des automobilistischen Leumundes sowie
der Massnahmeempfindlichkeit separat bewerten und überdies von einer
mittelgradig erhöhten Massnahmeempfindlichkeit ausgehen wollte.

6.
Damit erweist sich die Beschwerde als unbegründet. Bei diesem Ausgang des
Verfahrens hat der Beschwerdeführer die Kosten zu tragen (Art. 156 Abs. 1
OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer und dem Verwaltungsgericht des
Kantons Aargau, 1. Kammer, sowie dem Strassenverkehrsamt des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Strassen schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 23. August 2002

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: