Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilabteilung 5P.464/2002
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5P.464/2002 /min

Urteil vom 24. März 2003
II. Zivilabteilung

Bundesrichterin Nordmann, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichterinnen Escher, Hohl,
Gerichtsschreiberin Scholl.

F. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. iur. Mark A. Schwitter,
Bahnhofstrasse 3, Postfach 15, 8965 Berikon 1,

gegen

Versicherung X.________,
Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Walter Studer,
Badstrasse 17, Postfach 947, 5401 Baden,
Handelsgericht des Kantons Aargau, Obere Vorstadt 37, 5000 Aarau.

Art. 9 und 29 BV (Versicherungsvertrag),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Handelsgerichts des Kantons
Aargau vom 9. Oktober 2002.

Sachverhalt:

A.
F. ________ war tätig als selbstständig erwerbender Maler mit eigenem
Geschäft. Er hatte bei der Versicherung X.________ vier Lebensversicherungen
abgeschlossen; davon beinhalten drei neben einem Todesfallkapital jeweils
eine Erwerbsausfallrente, während die vierte eine reine Sparversicherung
darstellt. Bei allen vier Policen ist jeweils auch die Prämienbefreiung im
Falle einer Erwerbsunfähigkeit versichert. Auf Grund eines schweren
Rückenleidens ist F.________ seit dem 7. Oktober 1991 ganz bzw. teilweise
arbeitsunfähig. In der Folge gewährte die Versicherung X.________ F.________
nur eine Teilerwerbsausfallrente und eine partielle Prämienbefreiung.

B.
Mit Eingabe vom 23. November 1999 erhob F.________ beim Handelsgericht des
Kantons Aargau Klage gegen die Versicherung X.________ und beantragte im
Wesentlichen die Ausrichtung einer vollen Erwerbsausfallrente sowie die
Gewährung der vollständigen Prämienbefreiung. Mit Urteil vom 9. Oktober 2002
hiess das Handelsgericht die Klage teilweise gut.

C.
F.________ gelangt mit staatsrechtlicher Beschwerde an das Bundesgericht. Er
beantragt, das Urteil des Handelsgerichts des Kantons Aargau vom 9. Oktober
2002 sei aufzuheben. Strittig ist die Berechnung des
Erwerbsunfähigkeitsgrades sowie die geschuldete Rente und Prämienbefreiung
für den Zeitraum vom 1. Januar 1996 bis zum 7. Januar 1999.

Die Versicherung X.________ und das Handelsgericht des Kantons Aargau
schliessen in ihren Vernehmlassungen auf Abweisung der Beschwerde.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob und in
welchem Umfang auf eine staatsrechtliche Beschwerde einzutreten ist (BGE 128
I 177 E. 1 S. 179).

Nach Art. 86 Abs. 1 OG ist eine staatsrechtliche Beschwerde nur gegen
letztinstanzliche kantonale Entscheide zulässig. Das Urteil des
Handelsgerichts stellt einen solchen dar. Soweit der Beschwerdeführer die
Verletzung von verfassungsmässigen Rechten rügt, ist die Berufung ans
Bundesgericht nicht gegeben (Art. 43 Abs. 1 OG) und somit nur die
staatsrechtliche Beschwerde möglich (Art. 84 Abs. 2 OG).

2.
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Auf Grund
der formellen Natur dieses Anspruchs (BGE 119 Ia 136 E. 2b S. 138; 126 I 19
E. 2d/bb S. 24) ist dieser Beschwerdegrund vorab zu behandeln.

2.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe sich im Jahr 1990 um die
Betreuung seines Sohnes gekümmert und deshalb nur zu 50 % gearbeitet. Ohne
auf dieses Vorbringen einzugehen und die dazu offerierten Beweise abzunehmen,
habe das Handelsgericht diesen Umstand bei der Festsetzung des
Jahreseinkommens 1990 nicht berücksichtigt.

Der Beschwerdeführer verkennt das Vorgehen des Handelsgerichts: Dieses ist
gestützt auf die im vorliegenden Fall anwendbaren allgemeinen
Versicherungsbedingungen zum Schluss gekommen, der Erwerbsunfähigkeitsgrad
bemesse sich durch Vergleich des effektiven, vor Eintritt der
Erwerbsunfähigkeit erzielten, Einkommens mit dem Erwerbseinkommen, das die
versicherte Person danach aus zumutbarer Erwerbstätigkeit noch erziele oder
erzielen könnte. Ausgangspunkt sei also das effektiv erzielte
Valideneinkommen. Ob diese Betrachtungsweise des Handelsgerichts zutreffend
ist, stellt eine Rechtsfrage dar, die vom Bundesgericht im Verfahren der
staatsrechtlichen Beschwerde nicht überprüft werden kann (BGE 125 III 435 E.
2a/aa S. 437). Gestützt auf die rechtliche Argumentation des Handelsgerichts
hat jedenfalls keine Veranlassung zur Berücksichtigung der
Betreuungspflichten des Beschwerdeführers und der damit verbundenen Annahme
eines (höheren) hypothetischen Valideneinkommens bestanden. Das
Handelsgericht hat folglich auch keinen Grund gehabt, auf die Vorbringen des
Beschwerdeführers näher einzugehen oder Beweise abzunehmen. Eine Verletzung
des Anspruchs auf rechtliches Gehör liegt somit nicht vor.

Soweit der Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang noch eine Verletzung des
Beweisantretungsanspruchs gemäss der Zivilprozessordnung des Kantons Aargau
geltend macht, ist auf die Beschwerde nicht einzutreten, da das Vorbringen
den Anforderungen an die Begründung einer staatsrechtlichen Beschwerde nicht
genügt (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; BGE 125 I 492 E. 1b S. 495; 127 III 279 E.
1c S. 282).

2.2 Die Beschwerdegegnerin beanstandet ebenfalls die Berechnung des
Valideneinkommens und bringt vor, das Handelsgericht hätte die
Mehraufwendungen auf Grund des Fussbruchs des Beschwerdeführers nicht
berücksichtigen dürfen. Auch hier stellen die Kriterien, nach welchen das
Handelsgericht das Valideneinkommen berechnet, eine Rechtsfrage dar und
können daher im vorliegenden Verfahren nicht überprüft werden. Damit kann
offen bleiben, ob dieses Vorbringen der Beschwerdegegnerin nicht ohnehin ein
unzulässiges Nova darstellt (BGE 118 III 37 E. 2a S. 39).

3.
Der Beschwerdeführer rügt in verschiedener Hinsicht eine Verletzung des
Willkürverbotes (Art. 9 BV).

Willkür liegt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts nicht schon
dann vor, wenn eine andere Lösung ebenfalls vertretbar erscheint oder gar
vorzuziehen wäre. Das Bundesgericht hebt einen kantonalen Entscheid nur auf,
wenn er offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in
klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz
krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken
zuwiderläuft (BGE 125 II 129 E. 5b S. 134; 127 I 60 E. 5a S. 70). Willkür ist
sodann nur gegeben, wenn nicht bloss die Begründung, sondern auch das
Ergebnis unhaltbar ist (BGE 122 I 61 E. 3a S. 67; 128 I 81 E. 2 S. 86).

3.1 Nicht eingetreten werden kann auf die Beschwerde, soweit der
Beschwerdeführer dem Handelsgericht ein willkürliches und ohne sachliche
Gründe gerechtfertigtes Abweichen vom Gutachten einer Treuhand-Gesellschaft
über die Einzelfirma des Beschwerdeführers vorwirft. Die Begründung genügt in
diesem Punkt den Anforderungen gemäss Art. 90 Abs. 1 lit. b OG nicht. Es wird
in keiner Weise nachvollziehbar dargelegt, warum das Handelsgericht
Aufwendungen hätte berücksichtigen sollen, die erst nach Eintritt der
Invalidität und damit ausserhalb der für die Berechnung des Valideneinkommens
massgebenden Zeitperiode entstanden sind.

3.2 Der Beschwerdeführer bringt weiter vor, das Handelsgericht habe bei der
Berechnung des massgeblichen Erwerbsunfähigkeitsgrades das
Netto-Erwerbseinkommen vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit in Relation
gesetzt mit dem Brutto-Invalideneinkommen. Dieses Vorgehen sei willkürlich.
Stattdessen müsse bei der Festlegung des Erwerbseinkommens vor Eintritt der
Erwerbsunfähigkeit die Hälfte der persönlichen AHV/IV/EO-Beiträge
(Arbeitnehmeranteil) aufgerechnet werden.

3.2.1 Dass es sich beim Valideneinkommen, welches das Handelsgericht gestützt
auf das erwähnte Gutachten ermittelt hat, um einen Netto-Betrag handelt, ist
unbestritten und geht auch eindeutig aus der Erfolgsrechnung der Einzelfirma
des Beschwerdeführers hervor. Aus dieser Aufstellung ergibt sich, dass vom
Betriebsertrag der Jahre 1990 und 1991 persönliche AHV-Beiträge im Umfang von
Fr. 9'382.-- bzw. Fr. 17'679.-- abgezogen wurden. Für die Festsetzung des
Invalideneinkommens stellt das Handelsgericht auf eine Verfügung der
Eidgenössischen Invalidenversicherung ab, welche im hier strittigen Zeitraum
von einem zumutbaren Invalideneinkommen von Fr. 56'053.-- ausgeht. Die Höhe
dieses Betrages ist nicht umstritten. Dagegen bestreitet die
Beschwerdegegnerin, dass es sich dabei um ein Brutto-Einkommen handle.

Der Beschwerdeführer hat in seinen Ausführungen vor kantonaler Instanz den
Betrag von Fr. 56'053.-- explizit als Brutto-Einkommen bezeichnet. Das
Handelsgericht stellt bei der Festlegung des Invalideneinkommens in seinem
Entscheid ausdrücklich auf dieses Vorbringen des Beschwerdeführers ab, ohne
anzuzweifeln, dass es sich dabei um einen Brutto-Betrag handle. Es ist im
Übrigen gerichtsnotorisch, dass es sich bei zumutbaren Invalideneinkommen,
die von der Eidgenössischen Invalidenversicherung festgesetzt werden, jeweils
um Brutto-Beträge handelt.

3.2.2 Das Abstellen einerseits auf ein Brutto-Einkommen und auf ein
Netto-Einkommen andererseits, ergibt ein verzerrtes Bild der
Einkommenseinbusse, die der Beschwerdeführer durch seine Erwerbsunfähigkeit
erlitten hat, und verfälscht dadurch den tatsächlichen
Erwerbsunfähigkeitsgrad. Dieses Vorgehen lässt sich nicht durch sachliche
Gründe rechtfertigen. Der Entscheid des Handelsgerichts erweist sich in
diesem Punkt als unhaltbar.

3.2.3 Das Handelsgericht wendet in seiner Vernehmlassung ein, dass es nicht
die Aufgabe des Gerichts sei, aus den Beilagen ein allfälliges
Netto-Erwerbseinkommen in ein Brutto-Valideneinkommen auf- bzw.
hochzurechnen. Der Beschwerdeführer habe es unterlassen, dem Gericht die
massgeblichen Zahlen vorzuweisen. Sofern das Gericht bei der Ermittlung des
Erwerbsunfähigkeitsgrades tatsächlich zu Unrecht ein Netto-Valideneinkommen
mit einem Brutto-Invalideneinkommen verglichen habe, so habe sich dies der
Beschwerdeführer selber zuzuschreiben.

Das Handelsgericht übersieht vorliegend, dass der Beschwerdeführer in seinen
Ausführungen vor der kantonalen Instanz ausdrücklich darauf hingewiesen hat,
dass bei der Berechnung des Erwerbsunfähigkeitsgrades zwingend darauf
geachtet werden müsse, dass es sich sowohl beim massgeblichen
Valideneinkommen als auch beim Invalideneinkommen jeweils um Brutto-Einkünfte
handle. Wie bereits erwähnt, hat der Beschwerdeführer das Invalideneinkommen
als Brutto-Betrag bezeichnet. Aus dem Gutachten, auf welches das
Handelsgericht zur Ermittlung des Valideneinkommens abgestellt hat, ergibt
sich ohne weiteres dessen Netto-Charakter sowie die Höhe der in Frage
stehenden AHV-Beiträge.

3.3 Der Beschwerdeführer rügt schliesslich, das Obergericht hätte bei der
Dauer der Periode der letzten 12 Monate vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit
keine Rundungen vornehmen dürfen. Indem es den massgebenden Zeitraum vom 1.
Oktober 1990 bis 30. September 1991 festgelegt habe, anstatt vom 7. Oktober
1990 bis 6. Oktober 1991 habe es den Sachverhalt in willkürlicher und
aktenwidriger Weise festgestellt sowie die Verhandlungsmaxime gemäss §§ 75
und 198 der Aargauischen Zivilprozessordnung verletzt.

Grundsätzlich steht einer gewissen Schematisierung bei der Berechnung des
Valideneinkommens nichts entgegen. Eine Verschiebung der massgeblichen
Zeitperiode um sechs Tage auf einen Monatsanfang ist für sich alleine noch
nicht unhaltbar. Eine Verletzung der Verhandlungsmaxime liegt jedenfalls
nicht vor. Indes muss beachtet werden, dass das Handelsgericht selbst mit
seiner willkürlichen Berechnungsmethode (Vergleich von Brutto- mit
Netto-Einkommen) bereits einen Erwerbsunfähigkeitsgrad von 65 % errechnet
hat, also nur 1 2/3 % unter der Grenze von 66 2/3 %, die zu einer vollen
Rente berechtigen würde. Stellt man zudem zur Berechnung korrekterweise
jeweils auf Brutto-Einkünfte ab, ergibt sich ein Erwerbsunfähigkeitsgrad von
66,5 %. Angesichts dieser knappen Verhältnisse erscheint im vorliegenden Fall
die Pauschalierung bei der Bemessungsperiode als willkürlich.

3.4 Auf Grund der Kombination dieser beiden unhaltbaren Vorgehen des
Handelsgerichts ist auch das Ergebnis willkürlich. Legt man den Berechnungen
sowohl beim Validen- wie beim Invalideneinkommen Brutto-Einkünfte zu Grunde
und setzt die Bemessungsperiode vom 7. Oktober 1990 bis zum 6. Oktober 1991
fest, ergibt sich ein Erwerbsunfähigkeitsgrad von 66,8 %. Damit hätte der
Beschwerdeführer Anspruch auf eine volle Rente und volle Prämienbefreiung und
nicht nur auf je 65 %.

4.
Damit ist die staatsrechtliche Beschwerde gutzuheissen und der angefochtene
Entscheid aufzuheben. Bei diesem Ausgang des Verfahrens ist die
Gerichtsgebühr der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 OG).
Diese ist ausserdem zu verpflichten, den Beschwerdeführer für seine Umtriebe
im bundesgerichtlichen Verfahren zu entschädigen (Art. 159 Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten
ist, und das Urteil des Handelsgerichts des Kantons Aargau vom 9. Oktober
2002 wird aufgehoben.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 4'000.-- wird der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 8'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Handelsgericht des Kantons Aargau
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 24. März 2003

Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied: Die Gerichtsschreiberin: