Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilabteilung 5P.445/2002
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5P.445/2002 /min

Urteil vom 23. Dezember 2002
II. Zivilabteilung

Bundesrichter Bianchi, Präsident,
Bundesrichter Raselli, Bundesrichter Meyer,
Gerichtsschreiber Gysel.

D. ________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Ivo Doswald,
Möhrlistrasse 97, 8006 Zürich,

gegen

E.________,
Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Dominik Frey, Stadtturmstrasse
10, Postfach 1644, 5401 Baden,
Obergericht (5. Zivilkammer) des Kantons Aargau,
Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau.

Rückführung von Kindern,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts (5.
Zivilkammer) des Kantons Aargau vom 21. Oktober 2002.

Das Bundesgericht stellt fest und zieht in Erwägung:

1.
E. ________ und D.________ heirateten am 7. Januar 1994 und lebten in
Australien. Ihrer Ehe entsprossen die Tochter T.________, geboren am ...
1996, und der Sohn S.________, geboren am ... 1998. Seit April 2000 leben die
Eheleute E.________ und D.________ getrennt. Am 14. Juni 2001 verliess
D.________ mit den Kindern Australien; die drei halten sich seither in der
Schweiz auf.

Mit Eingabe vom 19. Dezember 2001 erhob E.________ beim Gerichtspräsidium von
Baden gestützt auf das Haager Übereinkommen vom 25. Oktober 1980 über die
zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HEntfÜ; SR
0.211.230.02) Klage mit dem Hauptantrag, die Rückführung der Kinder
T.________ und S.________ nach Australien anzuordnen und D.________ zu
verpflichten, die beiden sofort in seine Obhut zurückzubringen. Die
Gerichtspräsidentin 4 wies die Klage am 10. Juli 2002 ab.

E. ________ zog dieses Urteil an das Obergericht (5. Zivilkammer) des Kantons
Aargau weiter, das am 21. Oktober 2002 die Beschwerde guthiess und D.________
unter Androhung des polizeilichen Vollzugs und der Ungehorsamsstrafe gemäss
Art. 292 StGB verpflichtete, in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Justiz
die Kinder T.________ und S.________ innert zehn Tagen ab Zustellung des
Entscheids nach Australien zurückzuführen.

D. ________ verlangt mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 21. November 2002,
das obergerichtliche Urteil aufzuheben. Zur Sache sind keine Vernehmlassungen
eingeholt worden.

Durch Präsidialverfügung vom 2. Dezember 2002 ist der Beschwerde
aufschiebende Wirkung zuerkannt worden.

2.
Das Obergericht geht davon aus, dass die Beschwerdeführerin die beiden Kinder
unter Verletzung des ihr und dem Beschwerdegegner gemeinsam zustehenden
Sorgerechts und in Widerhandlung zu einem richterlichen Befehl vom 16. Juni
2000 - und damit widerrechtlich im Sinne von Art. 1 lit. a HEntfÜ - von
Australien in die Schweiz verbracht habe. Sodann setzt es sich eingehend mit
dem Verweigerungsgrund von Art. 13 Abs. 1 lit. b HEntfÜ auseinander, wonach
keine Rückführungsverpflichtung besteht, wenn die Rückgabe mit der
schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das
Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage
bringt. Die kantonale Beschwerdeinstanz weist darauf hin, dass vor dem
zuständigen Familiengericht in Australien das Verfahren, in welchem die seit
22. April 2000 getrennt lebenden Parteien beide die Zuweisung der Obhut über
die Kinder beantragt hätten, noch hängig sei. In einem Zwischenentscheid vom
1. Juli 2002 sei die australische Familienrichterin zum Schluss gelangt, der
gegenüber dem Beschwerdegegner erhobene Vorwurf, die Tochter sexuell
missbraucht zu haben, habe sich nicht erhärten lassen. Für eine abweichende
Beurteilung durch den Rückführungsrichter bestehe kein Raum. Daran ändere
nichts, dass die Psychologin, die T.________ betreue, bei einem
Telefongespräch mit der Gerichtspräsidentin 4 von Baden einen sexuellen
Missbrauch auf Grund der Angstbekundungen und des sexualisierten Verhaltens
des Mädchens als möglich bezeichnet habe. Die bei der genannten Fachperson
bloss telefonisch eingeholte Einschätzung habe aus formeller Sicht ohnehin
keine Beweiskraft. Für das Einholen einer Sachverständigenmeinung habe in
Anbetracht des in Australien hängigen Verfahrens vor dem Familiengericht
zudem kein Anlass bestanden. Ebenso wenig bedürften die Folgen einer
allfälligen Trennung von Mutter und Kind der Klärung durch eine Fachperson,
gehe es doch nicht an, dass der entführende Elternteil durch die Ablehnung
einer Rückkehr in den bisherigen Aufenthaltsstaat den Ausnahmetatbestand von
Art. 13 Abs. 1 lit. b HEntfÜ erzwinge. Andere einer Rückführung der Kinder
entgegenstehende Gründe würden nicht geltend gemacht. Abschliessend weist das
Obergericht auf Art. 12 Abs. 1 HEntfÜ hin, wonach bei einem innert
Jahresfrist gestellten Gesuch die Rückführung - unter Vorbehalt der
Verweigerungsgründe von Art. 13 - ohne weiteres anzuordnen sei.

3.
Die Beschwerdeführerin, die Verstösse gegen die Art. 11 und 29 BV sowie gegen
Art. 14 BV bzw. 8 EMRK rügt, setzt sich mit den dargelegten Ausführungen nur
am Rande auseinander. Insbesondere geht sie auf die Erwägungen des
Obergerichts zu Art. 13 HEntfÜ überhaupt nicht ein.

3.1 Was zum Vorwurf der krassen Verletzung des Kindeswohls ausgeführt wird,
beruht samt und sonders auf der Annahme, dass eine Rückführung der Kinder
zwangsläufig mit deren Trennung von der Mutter, der Hauptbezugsperson,
verbunden sei. Die Beschwerdeführerin bringt - im Zusammenhang mit der
Begründung des Begehrens, der Beschwerde aufschiebende Wirkung zuzuerkennen -
vor, dass sie bei einer Rückkehr nach Australien "mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit verhaftet" würde, was eine Trennung von den
Kindern zur Folge hätte. Abgesehen davon, dass diese Behauptung einer näheren
Begründung ermangelt, wird nicht geltend gemacht, sie sei schon vor
Obergericht vorgetragen worden. Auf Grund des Novenverbots (dazu BGE 119 II 6
E. 4a S. 7 mit Hinweis) kann auf sie deshalb von vornherein nicht eingetreten
werden, wodurch der Rüge der Verletzung des Kindeswohls infolge Trennung von
der Mutter der Boden entzogen ist. Auf die in diesem Zusammenhang erhobenen
Verfassungs- und Konventionsrügen ist deshalb nicht einzugehen. Ist eine
Rückführung konventionskonform, kann ihr im Übrigen ohnehin nicht
entgegengehalten werden, sie liege nicht im Interesse des betroffenen Kindes
und verletze das Kindeswohl und damit Art. 11 BV. Die Anordnung von
Massnahmen zum Schutze des Kindes obliegt dem zuständigen (ausländischen)
Sachrichter, und nicht dem Rückführungsrichter. Das Vorbringen, es liege
nahe, dass die Kinder T.________ und S.________ nach einer allfälligen kurzen
Platzierung in einem Heim dem Beschwerdegegner in Obhut gegeben würden, ist
im Rückführungsverfahren nicht zu hören.

3.2 Aus den dargelegten Gründen stösst sodann auch die Kritik der
Beschwerdeführerin ins Leere, das Obergericht hätte zur Frage der
Auswirkungen einer Trennung der Kinder von ihr von Amtes wegen ein Gutachten
einholen müssen. Abgesehen davon, ist an dieser Stelle auf die
Mitwirkungspflicht hinzuweisen, die geboten hätte, einen entsprechenden
Antrag sofort zu stellen, was getan zu haben, nicht behauptet wird. Ausserdem
setzt sich die Beschwerdeführerin nicht rechtsgenügend mit den Erwägungen
auseinander, die das Obergericht dazu geführt haben, das telefonische
Einholen einer Sachverständigenmeinung zu beanstanden, dieser die Beweiskraft
abzusprechen und festzustellen, dass überhaupt kein Anlass bestanden habe,
ein Gutachten in Auftrag zu geben. Insbesondere wird in diesem Zusammenhang
nichts vorgebracht, was geeignet wäre, Willkür darzutun. Die
Beschwerdeführerin beschränkt sich zur Hauptsache darauf, ihre eigene Sicht
der Dinge vorzutragen. Das gilt namentlich für das zu Art. 12 HEntfÜ
Ausgeführte und für die mit der Rüge der Verletzung von Art. 29 Abs. 1 BV
zusammenhängenden Darlegungen, wonach den Kindern ein Beistand hätte bestellt
werden sollen. Im Übrigen macht die durch einen Anwalt vertretene
Beschwerdeführerin selbst nicht geltend, einen entsprechenden Antrag gestellt
zu haben.

3.3 Auf dem hier unbeachtlichen Vorbringen, die Kinder würden bei einer
Rückkehr nach Australien von der Mutter getrennt, beruht schliesslich
ebenfalls die Rüge der Verletzung von Art. 14 BV und Art. 8 EMRK (Recht auf
Achtung des Privat- und Familienlebens). Auch insofern stösst die Beschwerde
mithin ins Leere.

4.
Auf die Beschwerde ist nach dem Gesagten nicht einzutreten. Sie erschien von
vornherein als aussichtslos. Das Armenrechtsgesuch ist deshalb abzuweisen
(vgl. Art. 152 Abs. 1 OG), und es ist der Beschwerdeführerin die
Gerichtsgebühr aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 OG). Ausserdem ist die
Beschwerdeführerin zu verpflichten, den Beschwerdegegner für seine Umtriebe
im bundesgerichtlichen Verfahren zu entschädigen (Art. 159 Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Auf die staatsrechtliche Beschwerde wird nicht eingetreten.

2.
Das Gesuch der Beschwerdeführerin, ihr für das bundesgerichtliche Verfahren
die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren, wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt.

4.
Die Beschwerdeführerin wird verpflichtet, den Beschwerdegegner für seine
Umtriebe im bundesgerichtlichen Verfahren mit Fr. 1'000.-- zu entschädigen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht (5. Zivilkammer) des
Kantons Aargau schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 23. Dezember 2002

Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: