Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilabteilung 5P.332/2002
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5P.332/2002 /bie

Urteil vom 21. November 2002
II. Zivilabteilung

Bundesrichter Bianchi, Präsident,
Bundesrichter Raselli, Bundesrichterin Escher,
Gerichtsschreiber Möckli.

A. H.________, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Fürsprecher Johann Schneider,
Eglispor 56, 3506 Grosshöchstetten,

gegen

B.H.________, Beschwerdegegner,
vertreten durch Fürsprecher Peter Barraud,
Krattigstrasse 2, Postfach 27, 3700 Spiez,
Appellationshof des Kantons Bern, II. Zivilkammer, Hochschulstrasse 17,
Postfach 7475, 3001 Bern.

Art. 9 BV (Eheschutz),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Appellationshofs des
Kantons Bern, II. Zivilkammer,
vom 9. August 2002.

Sachverhalt:

A.
Die Parteien sind verheiratet. Sie haben die vier gemeinsamen Kinder
C.________, geb. 1987, D.________, geb. 1989, E.________,1995 und F.________,
geb. 1999. Seit 15. April 2000 leben sie getrennt. B.H.________ führt einen
Bauernbetrieb und geht einem Nebenerwerb nach. A.H.________ ist Hausfrau.

B.
Mit Eheschutzentscheid vom 27. Juni 2002 verurteilte der Gerichtspräsident 1
des Gerichtskreises XII Frutigen-Niedersimmental B.H.________ zu monatlichen
Unterhaltsbeiträgen von Fr. 490.-- (inkl. Kinderzulage) pro Kind, wobei die
Leistung durch unentgeltliches Zurverfügungstellen des Wohnhauses und
Naturalleistungen (Wert insgesamt Fr. 1'560.--) sowie einer monatlichen
Geldleistung von Fr. 100.-- pro Kind erbracht werde.

Auf Appellation beider Parteien hin verurteilte der Appellationshof des
Kantons Bern, II. Zivilkammer, B.H.________ mit Entscheid vom 9. August 2002
zu Kinderunterhaltsbeiträgen von Fr. 1'330.-- (inkl. Kinderzulagen) sowie zu
einem Frauenaliment von Fr. 188.--.

C.
Dagegen hat A.H.________ am 16. September 2002 staatsrechtliche Beschwerde
erhoben mit den Begehren um Aufhebung des angefochtenen Entscheides und um
Erteilung der unentgeltlichen Rechtspflege. Es sind keine Vernehmlassungen
eingeholt worden.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Kantonal letztinstanzliche Eheschutzentscheide stellen keine Endentscheide im
Sinne von Art. 48 Abs. 1 OG dar und können nicht mit Berufung angefochten
werden (BGE 127 III 474 E. 2c S. 480). Auf die form- und fristgerechte
staatsrechtliche Beschwerde ist somit einzutreten.

2.
Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung des Willkürverbotes im
Zusammenhang mit der Berechnung des bäuerlichen Einkommens des
Beschwerdegegners.

2.1 Der erstinstanzliche Richter stellte für die Bemessung des
landwirtschaftlichen Einkommens auf das gerichtlich angeordnete Gutachten und
die Buchhaltungsabschlüsse ab, die einen Gewinn von Fr. 8'767.10 für das Jahr
1998, Fr. 30'032.20 für das Jahr 1999 und Fr. 1'446.66 für das Jahr 2000
auswiesen, befand jedoch die getätigten Abschreibungen als zu hoch und ging
von einem erzielbaren bzw. effektiv erzielten Einkommen von Fr. 2'000.-- pro
Monat aus.

Der Appellationshof hat diese Vorgehensweise gebilligt und das Abstellen auf
die Privatbezüge, die Fr. 64'970.-- für das Jahr 1998, Fr. 67'878.-- für das
Jahr 1999 und Fr. 75'000.-- für das Jahr 2000 betragen hatten,
stillschweigend sowie das Abstellen auf durchschnittliche Hektarerträge (Fr.
3'000.-- pro Hektar für Berggebiete, was Fr. 45'000.-- ausmachen würde)
explizit verworfen.

2.2 Nach der Beschwerdeführerin ist der Appellationshof der Willkür
verfallen, indem er nicht auf den zuletzt in der Ehe gelebten Lebensstandard
und damit auf die vor Auflösung des gemeinsamen Haushaltes getätigten
Privatbezüge abgestellt hat. Für den Fall, dass von der Buchhaltung
ausgegangen würde, macht sie geltend, es seien immer noch zu viele
Abschreibungen berücksichtigt worden; dem Beschwerdegegner sei zumutbar,
während der Dauer der Eheschutzmassnahmen nur relativ geringe Abschreibungen
vorzunehmen, zumal in der Vergangenheit effektiv gar keine Rückstellungen
getroffen, sondern hohe Privatbezüge getätigt worden seien.

2.3 Oft wird bei der Einkommensberechnung selbständig Erwerbender auf die
ausgewiesenen Privatabzüge abgestellt. Diese Praxis beruht zum einen auf dem
Umstand, dass in vielen Fällen keine oder nur unzureichende
Buchhaltungsunterlagen und Rechnungsabschlüsse greifbar sind, zum anderen
bezieht sie sich auf den Grundsatz, dass bei der Unterhaltsberechnung an den
bisherigen Lebenshaltungskosten anzuknüpfen ist.

Indes ist allein mit dem Verweis auf eine Kommentarstelle keine Willkür
dargetan, umso weniger als die verwiesene Stelle (Bräm/Hasenböhler, Zürcher
Kommentar, N. 76 zu Art. 163 ZGB) lediglich festhält, dass die Privatbezüge
bei unschlüssigen Unterlagen oder fehlendem Jahresabschluss ein geeignetes
Indiz für die Bestimmung der früheren Lebenshaltungskosten seien. Im
vorliegenden Fall ist jedoch eine Buchhaltung geführt und überdies eine
gerichtliche Expertise angeordnet worden. Im Übrigen kommt dem Richter bei
vorsorglichen Massnahmen und Eheschutzentscheiden ein weites Ermessen zu (BGE
123 III 1 E. 3a S. 3 f.). Willkür liegt deshalb erst vor, wenn dieses
überschritten oder missbraucht worden ist (BGE 118 Ia 133 E. 2b S. 134).
Davon kann vorliegend keine Rede sein:

Der Appellationshof hat - weitgehend unter ausdrücklichem oder
stillschweigendem Verweis auf das erstinstanzliche Urteil, was grundsätzlich
zulässig ist (BGE 119 II 478 E. 1d S. 480) - auf das eingeholte Gutachten und
die Buchhaltungsabschlüsse abgestellt, ohne diese unbesehen zu übernehmen.
Vielmehr hat er dazu Stellung genommen und unter dem Titel überhöhter
Abschreibungen eine Aufrechnung vorgenommen, soweit dies nötig erschien.
Willkürliche Ermessensausübung ist darin nicht zu erkennen.

3.
Die Beschwerdeführerin sieht das Willkürverbot auch in Bezug auf das Ausmass
des zumutbaren Nebenerwerbes des Beschwerdegegners verletzt.

3.1 Der erstinstanzlichen Richter ist diesbezüglich von den im Gutachten
festgehaltenen 157 Akh (Arbeitskraftstunden) ausgegangen, hat die 310 von den
Eltern auf dem Hof erbrachten Akh hinzugerechnet und befunden, auf der Basis
einer 42-Stunden-Woche entsprächen 467 Akh einer freien Arbeitskapazität von
25 %. Der Appellationshof hat diesen Prozentsatz übernommen.

3.2 Die Beschwerdeführerin macht geltend, es sei willkürlich, bei der
Berechnung der verbleibenden Arbeitskapazität auf eine abstrakte Berechnung
eines Experten abzustellen, vielmehr sei die Aussage des Beschwerdegegners im
Parteiverhör, wonach er mindestens 40 % auswärts arbeiten könne, massgeblich.

3.3 Die Beschwerdeführerin gibt die Parteiaussage verkürzt wieder. Der
Beschwerdegegner hat vor dem Gerichtspräsidenten ausgesagt: "In der besten
Zeit habe ich bei der ARA zu 40 % gearbeitet. Gelebt haben wir eigentlich von
diesen 40 %. Wenn ein Job gut bezahlt ist, könnte ich es vielleicht mit 20 %
auswärts machen und mit 80 % auf dem Landwirtschaftsbetrieb."

Die Aussage bezieht sich folglich auf eine frühere Zeit, die als "beste"
dargestellt wird. Demgegenüber hat der Beschwerdegegner für die Zukunft von
einem Nebenverdienst in der Grössenordnung von 20 % gesprochen. Vor diesem
Hintergrund kann es nicht als willkürlich bezeichnet werden, wenn die
Vorinstanz auf das gerichtliche Gutachten abgestellt und dabei eine freie
Arbeitskapazität von 25 % errechnet hat.

4.
Die Beschwerdeführerin hält schliesslich die Höhe des hypothetischen
Nebenverdienstes für willkürlich.

4.1 Die Vorinstanz hat diesbezüglich erwogen, auf Grund der zusätzlichen
Ausbildung als Office-Supporter SIZ entsprächen die Verdienstmöglichkeiten
nicht mehr denjenigen einer Hilfskraft (wovon der Gerichtspräsident
ausgegangen war). Es dürfte aber erfahrungsgemäss schwierig sein, als
Informatiker im Supportbereich eine Stelle mit einem 25%-Pensum in der Region
zu finden. Einerseits werde das Stellenangebot in dieser Branche eher dürftig
sein und andererseits werde von Supportern in der Regel eine Präsenzzeit von
100 % verlangt. Die Annahme der ersten Instanz, wonach der Beschwerdegegner
ein hochgerechnetes Einkommen von Fr. 4'500.-- erzielen könne, dürfte deshalb
weiterhin Gültigkeit haben. Dies entspreche bei einem möglichen Pensum von 25
% einem hypothetischen Einkommen von Fr. 1'125.--.
4.2 Die Beschwerdeführerin hält fest, dass sie im Appellationsverfahren die
Ausbildung zum Office-Supporter nachweisen konnte, und erblickt Willkür im
Umstand, dass der Appellationshof dennoch weiterhin von einem Einkommen eines
Hilfsarbeiters ausging. Die Haltlosigkeit des Argumentes, es sei schwierig in
der Region eine (Teilzeit-)stelle als Supporter zu finden, zeige sich bereits
in der rhetorischen Frage, wieso denn der Beschwerdegegner die kostspielige
Ausbildung auf sich genommen hätte, wenn er damit nicht sein Einkommen
erhöhen wollte.

4.3 Auf Grund des weiten Ermessens, das dem Richter bei Eheschutzentscheiden
zukommt, erweist sich sein Entscheid erst dann als willkürlich, wenn das
Ermessen überschritten bzw. missbraucht ist, d.h. wenn der angefochtene
Entscheid auf einer unhaltbaren Würdigung der Umstände beruht oder wenn sich
das Gericht von Erwägungen hat leiten lassen, die offensichtlich keine Rolle
hätten spielen dürfen (BGE 127 III 153 E. 1a S. 155).

Es mag widersprüchlich erscheinen, dass der Appellationshof trotz seiner
klaren Feststellung, angesichts der zusätzlichen Ausbildung entsprächen die
Einkunftsmöglichkeiten des Beschwerdegegners nicht mehr denjenigen eines
Hilfsarbeiters, an dem von der ersten Instanz angenommenen hypothetischen
Einkommen festgehalten hat. Es ist jedoch nicht aktenkundig, dass der
Beschwerdegegner bereits auf dem neuen Gebiet arbeiten würde, und das
Argument, die Supportertätigkeit erfordere 100%-ige Verfügbarkeit, ist an
sich nicht sachfremd. Die dagegen erhobene Kritik, gerade Supporter würden
von Firmen zu tiefen Prozentzahlen angestellt, um Computerprobleme auf Abruf
zu lösen, und der Beschwerdegegner könnte auch Privatpersonen beim Einrichten
von Hard- und Software sowie bei der Problembehebung zur Verfügung stehen,
ist weitgehend appellatorischer Natur und damit im Verfahren der
staatsrechtlichen Beschwerde nicht zu hören (BGE 125 I 492 E. 1b S. 495). Vor
diesem Hintergrund lässt sich nicht sagen, der angefochtene Entscheid beruhe
geradezu auf einer unhaltbaren Würdigung der Umstände oder das Gericht habe
sich von Erwägungen leiten lassen, die offensichtlich keine Rolle spielen
dürfen. Die Annahme eines hypothetischen Einkommens aus Nebenerwerb von Fr.
4'500.-- bzw. 1'125.-- ist in diesem Sinn haltbar.

5.
Zusammenfassend ergibt sich, dass die staatsrechtliche Beschwerde abzuweisen
ist, soweit auf sie eingetreten werden kann. Bei diesem Verfahrensausgang ist
die Gerichtsgebühr der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 OG).
Da sich die staatsrechtliche Beschwerde nicht als von vornherein aussichtslos
bezeichnen lässt und die Bedürftigkeit der Beschwerdeführerin offensichtlich
ist, wird ihr die unentgeltliche Rechtspflege erteilt und die Gerichtsgebühr
einstweilig auf die Gerichtskasse genommen (Art. 152 Abs. 1 OG). Im Übrigen
wird ihr Fürsprecher Johann Schneider als amtlicher Anwalt beigeordnet (Art.
152 Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt, und es
wird ihr Fürsprecher Johann Schneider, Eglispor 56, 3506 Grosshöchstetten,
als amtlicher Vertreter beigeordnet.

3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt,
einstweilen aber auf die Bundesgerichtskasse genommen.

4.
Fürsprecher Johann Schneider, Eglispor 56, 3506 Grosshöchstetten, wird aus
der Bundesgerichtskasse ein Honorar von Fr. 3'000.-- ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Appellationshof des Kantons Bern, II.
Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 21. November 2002

Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: