II. Zivilabteilung 5P.30/2002
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5P.30/2002/min II. Z I V I L A B T E I L U N G ******************************** 21. März 2002 Es wirken mit: Bundesrichter Bianchi, Präsident der II. Zi- vilabteilung, Bundesrichterin Nordmann, Ersatzrichter Zünd und Gerichtsschreiber Schneeberger. --------- In Sachen A.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Wilfried Caviezel, Masanserstrasse 35, Postfach 414, 7001 Chur, gegen B.________, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechts- anwalt Dr. Markus Neff, Poststrasse 17, Postfach 841, 9001 St. Gallen, Bezirksgerichtsausschuss P l e s s u r, betreffend Art. 9 und 29 Abs. 2 BV (vorsorgliche Massnahmen im Scheidungsprozess), wird festgestellt und in Erwägung gezogen: 1.- Mit Verfügung vom 30. April 2001 stellte der Be- zirksgerichtsvizepräsident Plessur die beiden Kinder von B.________ und A.________ für die Dauer des hängigen Schei- dungsverfahrens unter die Obhut der Mutter und verpflichtete den Vater ab 1. September 2000 zur Leistung eines monatlichen im Voraus zahlbaren Unterhaltsbeitrages an Frau und Kinder von insgesamt Fr. 1'300.--. Auf Beschwerde beider Parteien hin legte der Bezirksgerichtsausschuss Plessur mit Beiurteil vom 7. September 2001 den genannten Unterhaltsbeitrag auf Fr. 3'003.-- fest. Hiergegen hat der Ehemann am 23. Januar 2002 staats- rechtliche Beschwerde an das Bundesgericht erhoben mit dem Antrag, das angefochtene Beiurteil aufzuheben. In ihrer Ver- nehmlassung vom 11. Februar 2002 beantragt die Beschwerde- gegnerin, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, eventuell sei sie abzuweisen. Beide Parteien beantragen für das bundes- gerichtliche Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. Das Bezirksgericht Plessur hat auf Vernehm- lassung verzichtet. Mit Verfügung vom 13. Februar 2002 hat der Präsident der II. Zivilabteilung der Beschwerde für die bis und mit Dezember 2001 geschuldeten Unterhaltsbeiträge die aufschie- bende Wirkung gewährt, das Gesuch im Übrigen aber abgewiesen. 2.- Der Beschwerdeführer macht zunächst geltend, der Bezirksgerichtsausschuss hätte in zweiter Instanz neue Tat- sachen und Beweismittel nach kantonalem Prozessrecht nicht berücksichtigen dürfen, woran auch die neue bundesrechtliche Bestimmung von Art. 138 ZGB nichts ändere, die sich nur auf das Hauptverfahren beziehe. Zu Recht hält die Beschwerde- gegnerin dieser Rüge entgegen, dass der Beschwerdeführer im kantonalen Verfahren noch die gegenteilige Auffassung ver- treten hat (Beschwerde vom 25. Mai 2001 an den Bezirksge- richtsausschuss Plessur, S. 3 oben). Demnach vertritt dieser den geschilderten Standpunkt vor Bundesgericht erstmalig und damit erfolglos, weil neue rechtliche Vorbringen bei Willkür- beschwerden grundsätzlich ausgeschlossen sind (BGE 118 Ia 20 E. 5a S. 26). Darüber hinaus ist dem Beschwerdeführer hier widersprüchliches Verhalten (venire contra factum proprium) anzulasten, das auch aus diesem Grund keinen Rechtsschutz verdienen kann. Die Beschwerdegegnerin meint, auf die staatsrecht- liche Beschwerde sei auch im Übrigen nicht einzutreten, weil sie ungenügend substantiiert sei. Gemäss Art. 90 Abs. 1 lit. b OG muss der Beschwerdeführer nicht nur darlegen, welche verfassungsmässigen Rechte bzw. welche Rechtssätze missachtet, sondern auch inwiefern sie verletzt worden sind; dies schliesst appellatorische Kritik aus, wie sie allenfalls im Rahmen eines Berufungsverfahrens vorgebracht werden kann (BGE 125 I 492 E. 1b S. 495; 117 Ia 10 E. 4b S. 11 f.). Der Vorwurf der ungenügenden Substantiierung der staatsrechtli- chen Beschwerde mag in einzelnen Punkten zutreffen, nicht aber im hier ausschlaggebenden Bereich. 3.- Hauptsächlich rügt der Beschwerdeführer, der Be- zirksgerichtsausschuss habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) verletzt, indem dieser von sich aus beim Bündner Bauernverband Abklärungen über die Lohnverhält- nisse in der Landwirtschaft getroffen habe. Zu den gewonnenen Erkenntnissen und der darauf basierenden Ermittlung des ihm angerechneten hypothetischen Einkommens habe er sich nicht äussern können. Diese Rügen sind hinreichend begründet, und es ist auf die Beschwerde insoweit einzutreten. a) Der verfassungsrechtliche Anspruch auf rechtli- ches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) umfasst die Rechte der Par- teien auf Teilnahme am Verfahren und auf Einflussnahme auf den Prozess der Entscheidfindung. Dazu gehört insbesondere das Recht des Betroffenen, sich vor Erlass eines in seine Rechtsstellung eingreifenden Entscheids zur Sache zu äussern und an der Erhebung wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn die- ses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen (BGE 127 I 54 E. 2b; 122 I 53 E. 4a; 120 Ib 379 E. 3b; je mit Hinweisen). b) Der Bezirksgerichtsausschuss hält fest, der Vizepräsident sei gestützt auf einen Lohnausweis von einem Monatseinkommen von Fr. 3'310.-- (zuzüglich Kinderzulagen) ausgegangen, das der Beschwerdeführer auf dem Bauernhof seiner Eltern erziele. Nach den Richtlöhnen des Bündner Bauernverbandes betrage der Bruttolohn (inkl. Verpflegung und Unterkunft) von Betriebsangestellten mit abgeschlossener Meisterprüfung je nach Verantwortung und Berufserfahrung zwischen Fr. 3'500.-- und Fr. 4'000.--. Beim Beschwerdeführer sei unter Berücksichtigung seiner langjährigen Berufserfah- rung und seiner grossen Verantwortung von Fr. 4'000.-- brutto (inkl. Verpflegung und Unterkunft) auszugehen. Es sei ihm deshalb ein hypothetisches Bruttoeinkommen in dieser Höhe anzurechnen, was nach Abzug der Sozialbeiträge Fr. 3'738.-- im Monat ergebe; hinzu kämen Naturalleistungen in Form von freier Unterkunft und Verpflegung. c) Die Richtlöhne des Bündner Bauernverbandes, auf die sich der Bezirksgerichtsausschuss bezieht, sind nicht aktenkundig. In der staatsrechtlichen Beschwerde wird dazu ausgeführt, eine Rückfrage des Anwalts des Beschwerdeführers beim Aktuar des Bezirksgerichtsausschusses habe ergeben, dass es sich diesbezüglich um eine mündlich eingeholte Information handle; publiziert seien diese Richtlöhne aber nicht. Da der Bezirksgerichtsausschuss sich im bundesge- richtlichen Verfahren nicht äussert und die Beschwerdegeg- nerin nur einwendet, solche Erkundigungen seien nicht als Be- weiserhebung zu werten, ist anzunehmen, dass der Bezirksge- richtsausschuss tatsächlich mündlich Auskünfte beim Bündner Bauernverband eingeholt hat, ohne den Parteien davon Kenntnis gegeben zu haben. Darin liegt eine Verletzung des verfas- sungsrechtlichen Gehörsanspruchs, haben die Parteien doch das Recht, sich zum Beweisergebnis zu äussern, sofern dieses für den Entscheid bedeutsam ist, was hier zutrifft. Denn der Be- zirksgerichtsausschuss hat ausschliesslich auf der Basis der erhaltenen Auskünfte die Höhe des Einkommens bestimmt, das der Beschwerdeführer erzielen müsste. Dass es sich bei den Richtlöhnen des Bündner Bauern- verbandes um allgemein bekannte oder gerichtsnotorische Tat- sachen handelt, wie die Beschwerdegegnerin meint, trifft nicht zu. Als notorisch können allgemein zugängliche Tatsa- chen zwar auch dann gelten, wenn das Gericht sie ermitteln muss (BGE 128 III 4 E. 4c/bb S. 7 f.). Doch handelt es sich hier um mündliche Auskünfte, welche mangels Publikation nicht frei zugänglich sind. Hinzu kommt, dass unklar bleibt, welche Auskunft der Bündner Bauernverband überhaupt gegeben hat. Denn einmal soll nach den Ausführungen im Beiurteil der Bruttolohn von Fr. 3'500.-- bis Fr. 4'000.-- inkl. Verpfle- gung und Unterkunft zu verstehen sein, ein andermal zuzüglich Verpflegung und Unterkunft (E. 4f S. 10 ab Mitte). Welche Auskunft dem Aktuar des Bezirksgerichtsausschusses tatsäch- lich gegeben worden ist, bleibt deshalb unklar. d) Da demnach das angefochtene Beiurteil wegen Ge- hörsverweigerung aufgehoben werden muss, sind die weiteren Rügen des Beschwerdeführers nicht mehr zu prüfen. 4.- Beide Parteien haben für das Verfahren vor Bundes- gericht um unentgeltliche Rechtspflege nachgesucht. Das Ge- such des Beschwerdeführers ist insoweit gegenstandslos gewor- den, als er obsiegt und somit keine Gerichtsgebühr zu tragen hat (vgl. Art. 156 Abs. 1 OG). Bei beiden Parteien ist die Bedürftigkeit offenkundig und der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege auch sonst zu bejahen (vgl. Art. 152 Abs. 1 OG). Da eine Parteientschädigung, zu deren Leistung die unterlie- gende Beschwerdegegnerin gemäss Art. 159 Abs. 2 OG an sich zu verpflichten wäre, angesichts ihrer prekären wirtschaftlichen Verhältnisse als von vornherein uneinbringlich betrachtet werden muss, ist auch der Anwalt des Beschwerdeführers so- gleich aus der Bundesgerichtskasse zu entschädigen. Die den amtlichen Rechtsvertretern zu entrichtenden Honorare werden entsprechend Art. 9 des Tarifs für die Entschädigung an die Gegenpartei für das Verfahren vor dem Bundesgericht vom 9. November 1978 (SR 173.119.1) gekürzt. Demnach erkennt das Bundesgericht: 1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist, und das Beiurteil des Bezirks- gerichtsausschusses Plessur vom 7. September 2001 wird auf- gehoben. 2.- a) Das Gesuch des Beschwerdeführers um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wird gutgeheissen, und es wird ihm Rechtsanwalt Wilfried Caviezel, Chur, als amtlicher Rechtsbeistand bestellt. b) Das Gesuch der Beschwerdegegnerin um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wird gutgeheissen, und es wird ihr Rechtsanwalt Dr. Markus Neff, St. Gallen, als amtlicher Rechtsbeistand bestellt. 3.- Die Gerichtsgebühr von Fr. 1'000.-- wird der Be- schwerdegegnerin auferlegt, einstweilen jedoch auf die Bun- desgerichtskasse genommen. 4.- Den in Ziff. 2 erwähnten Rechtsvertretern wird aus der Bundesgerichtskasse je ein Honorar von Fr. 1'500.-- aus- gerichtet. 5.- Dieses Urteil wird den Parteien und dem Bezirksge- richtsausschuss Plessur schriftlich mitgeteilt. _____________ Lausanne, 21. März 2002 Im Namen der II. Zivilabteilung des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: