Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilabteilung 5P.280/2002
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5P.280/2002 /bnm

Urteil vom 7. Oktober 2002
II. Zivilabteilung

Bundesrichter Bianchi, Präsident,
Bundesrichterin Nordmann, Bundesrichterin Escher,
Gerichtsschreiber Schett.

A. ________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecher lic. iur. Martin Basler,
Luzernerstrasse 1, Postfach, 4800 Zofingen,

gegen

B.________,
Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Peter Stadelmann, Postfach
4465, 6002 Luzern,
Obergericht des Kantons Aargau, 5. Zivilkammer, Obere Vorstadt 38, 5000
Aarau.

Art. 9 BV (Mündigenunterhalt, vorsorgliche Massnahmen),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons
Aargau, 5. Zivilkammer, vom 10. Juni 2002.

Sachverhalt:

A.
Die Ehe von C.________ und B.________ wurde mit Urteil des Bezirksgerichts
Zofingen vom 6. Juni 1991 geschieden. In Genehmigung der Scheidungskonvention
wurde die elterliche Gewalt über A.________ (geboren am 18. Januar 1978) der
Mutter übertragen und das Besuchsrecht des Vaters festgelegt. B.________
wurde zu einem indexierten Kinderunterhaltsbeitrag von monatlich Fr. 680.--
plus Zulagen an C.________ verpflichtet, welcher auf das Erreichen der
wirtschaftlichen Selbständigkeit, mindestens bis zum 18., längstens bis zum
20. Altersjahr von A.________ befristet wurde; Leistungen nach Art. 277 Abs.
2 ZGB wurden vorbehalten. Er kam dieser Verpflichtung über die Mündigkeit der
Tochter hinaus nach und leistete im November 2000 letztmals den vollen
Unterhaltsbeitrag von Fr. 733.--, für die Monate Dezember 2000 und Januar
2001 jeweils noch Fr. 500.--. Alsdann stellte er seine Unterhaltszahlungen
ein. A.________ begann im Wintersemester 2000/2001 mit dem Studium der
Rechtswissenschaften an der Universität Bern, weshalb sie per 16. September
2001 zusammen mit ihrem Partner in Bern eine Wohnung mietete.

B.
A.________ reichte am 22. Mai 2001 beim Bezirksgericht Zofingen eine
Unterhaltsklage gegen B.________ ein. Der Präsident verpflichtete ihn zu
einem monatlichen Unterhaltsbeitrag von Fr. 285.-- an seine Tochter ab dem am
22. November 2001 gestellten Begehren um Erlass vorsorglicher Massnahmen bis
zum ordentlichen Abschluss des Studiums, unter Anrechnung der Zahlungen vom
November 2000, Dezember 2000 und Januar 2001. Das Obergericht des Kantons
Aargau wies die von A.________ hiergegen erhobene Beschwerde am 10. Juni 2002
ab und trat auf die Anschlussbeschwerde von B.________ nicht ein.

C.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 15. August 2002 beantragt A.________ dem
Bundesgericht, das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau aufzuheben. Sie
stellt das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. Es sind keine
Vernehmlassungen eingeholt worden.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Gegen Entscheide oberer kantonaler Instanzen zum Erlass vorsorglicher
Massnahmen im Ehescheidungsverfahren ist nach ständiger Praxis die
staatsrechtliche Beschwerde gegeben (BGE 126 III 261 E. 1; 100 Ia 12 E. 1).
Es besteht kein Grund, im Rahmen der Unterhaltsklage gestützt auf Art. 281
ZGB getroffene Anordnungen nicht ebenfalls als  nach Art. 86 Abs. 1 OG
anfechtbare Entscheide zu behandeln. Aus dieser Sicht ist auf die
staatsrechtliche Beschwerde einzutreten.

2.
Die Beschwerdeführerin wirft dem Obergericht bei der Berechnung des
Existenzminimums Willkür und Verletzung des rechtlichen Gehörs vor.

2.1 Gemäss dem angefochtenen Entscheid weist der Vater einen
rechtserheblichen Notbedarf von Fr. 4'789.25 auf und erzielt ein monatliches
Einkommen von Fr. 5'077.60. Damit sei er in der Lage, der Tochter einen
monatlichen Unterhaltsbeitrag von Fr. 285.-- zu überweisen. Das Obergericht,
wie schon zuvor der Präsident des Bezirksgerichts, setzten bei der Berechnung
des Existenzminimums des Vaters den Grundbetrag für eine allein stehende
Person von Fr. 1'100.-- und nicht den Ehegattenansatz von Fr. 1'550.-- ein.
Zudem berücksichtigte es die gesamten Wohnkosten von Fr. 1'158.75, da sie
auch für eine allein stehende Person angemessen seien und überdies dem
Vergleich mit der Miete der Mutter von Fr. 1'380.-- standhielten. Die
laufenden Steuern wurden mit Fr. 448.-- berücksichtigt. Der Zuschlag wurde
angesichts der hohen Kosten für den Arbeitsweg von Fr. 1'000.-- auf 15% statt
20% festgesetzt. Im Weitern hielt das Obergericht fest, dass sowohl der
Tochter wie der Stiefmutter aufgrund ihrer gesundheitlichen Verfassung
zumindest vorläufig keine Erwerbstätigkeit zuzumuten sei.

2.2 Dagegen wendet die Beschwerdeführerin ein, dass die elterliche der
ehelichen Unterhaltspflicht vorgehe oder zumindest auf die gleiche Ebene zu
stellen seien. Indem das Obergericht zuerst die Ansprüche der Stiefmutter und
dann erst diejenigen der Tochter berücksichtige, verfalle es in Willkür. Da
dieses Vorgehen nicht begründet werde, sei zugleich ihr rechtliches Gehör
verletzt.

2.3 Der Unterhaltsbeitrag an ein Kind soll seinen Bedürfnissen sowie der
Lebensstellung und der Leistungsfähigkeit der Eltern entsprechen und dessen
eigene Leistungsfähigkeit berücksichtigen (Art. 285 Abs. 1 ZGB). Soweit es
ihnen nach den gesamten Umständen zugemutet werden kann, haben Vater und
Mutter im Verhältnis ihrer Kräfte auch nach Erreichen der Mündigkeit für ihr
Kind aufzukommen (Art. 277 Abs. 2 ZGB). Erst eine Würdigung der gesamten
Umstände erlaubt die Beurteilung des Unterhaltsanspruchs und schliesst auch
eine nur teilweise Unterstützung des mündigen Kindes ein. Dabei steht dem
Sachrichter ein weites Ermessen zu. Das Bundesgericht greift nur ein, wenn
der angefochtene Entscheid auf sachfremden Kriterien beruht oder solche
ausser Acht lässt und wenn der konkrete Unterhaltsbeitrag eindeutig
unangemessen erscheint (BGE 128 III 161 E. 2c/aa). Während die Eltern mit dem
unmündigen Kind all ihre Mittel zu teilen haben, sind sie gegenüber dem
mündigen Kind nur leistungspflichtig, soweit sie dazu in der Lage sind.
Immerhin hat die neuere Rechtsprechung im Anschluss an die Herabsetzung des
Mündigkeitsalters den Ausnahmecharakter des Mündigenunterhalts relativiert
(so im nicht veröffentlichten Entscheid der II. Zivilabteilung vom 2.
November 1998 in Sachen C. mit Hinweis auf die bisherige Praxis in BGE 117 II
127 E. 3b; vgl. auch BGE 118 II 97 E. 4a sowie BGE 127 I 202 E. 3e, der die
neuere Praxis übergeht). Ob sich die geänderte Betrachtungsweise bloss auf
die Pflicht zum Unterhalt bezieht und diese im Ergebnis erweitert oder ob der
Pflichtige seine Lebenshaltung einschränken muss und stärker zum Unterhalt
seines mündigen Kindes beitragen muss, ist damit noch nicht entschieden.

2.4 Strittig ist im vorliegenden Fall die Berechnung des schuldnerischen
Existenzminimums. Die Beschwerdeführerin erblickt im angefochtenen Entscheid
eine unzulässige Bevorzugung ihrer Stiefmutter. Dabei übersieht sie, dass ihr
Vater seiner Ehefrau gegenüber unterhaltspflichtig ist (Art. 163 ZGB). Daraus
folgt, dass das Obergericht den Grundbetrag für Ehegatten von Fr. 1'550.--
statt Fr. 1'100.-- für Alleinstehende hätte einsetzen sollen. Nach
gefestigter Praxis steht dem Unterhaltsschuldner grundsätzlich ein
unangetastetes Existenzminimum zu (BGE 127 III 68 E. 2c), womit der
Ausnahmecharakter des Mündigenunterhalts in dieser Richtung gewiss nicht zu
relativieren ist. Dass die laufende Steuerlast bei knappen finanziellen
Verhältnissen nicht zu berücksichtigen ist (BGE 127 III 68 E. 2b), wurde von
der Beschwerdeführerin so wenig angefochten wie der 15-prozentige Zuschlag
auf den Notbedarf, womit dem Bundesgericht eine entsprechende Prüfung
verwehrt ist.

2.5 Damit erweist sich der angefochtene Entscheid nicht als willkürlich, umso
mehr als er im summarischen Verfahren ergangen ist und nur vorläufige Wirkung
hat. Beizufügen bleibt, dass es der Beschwerdeführerin obliegt, den
Fehlbetrag bei ihrer Mutter einzufordern, zumal diese allein stehend in etwa
das- selbe Einkommen wie der Vater erzielt und bloss in der Höhe der
monatlichen Kinderzulage von Fr. 170.-- an ihren Unterhalt beiträgt.

2.6 Die Rüge der Gehörsverweigerung erweist sich als unberechtigt. Das
Obergericht stellte nämlich fest, dass dem Vater aus der neuen Ehe kein
finanzieller Vorteil erwachse und daher die vollen Wohnkosten anzurechnen
seien. Damit hat es zum Ausdruck gebracht, weshalb zuerst die notwendigen
Bedürfnisse des Unterhaltsschuldners zu decken und alsdann die
Unterhaltsbeiträge festzulegen seien.

3.
Der Beschwerde ist nach dem Gesagten kein Erfolg beschieden. Bei diesem
Ausgang des Verfahrens wird die Beschwerdeführerin kostenpflichtig (Art. 156
Abs. 1 OG). Indes scheinen die Voraussetzungen für die Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege erfüllt (Art. 152 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch der Beschwerdeführerin um Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege wird gutgeheissen, und ihr wird für das bundesgerichtliche
Verfahren Fürsprecher Martin Basler, Zofingen, als unentgeltlicher
Rechtsvertreter beigegeben.

3.
Es werden keine Kosten erhoben.

4.
Fürsprecher Martin Basler, Zofingen, wird aus der Bundesgerichtskasse ein
Honorar von Fr. 1'500.-- ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, 5.
Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 7. Oktober 2002

Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: