Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilabteilung 5P.244/2002
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5P.244/2002 /bnm

Urteil vom 20. September 2002
II. Zivilabteilung

Bundesrichter Bianchi, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Hohl,
Gerichtsschreiber Levante.

1. Vaudoise Allgemeine Versicherungs-Gesellschaft, Postfach 120, 1001
Lausanne,
2.Raiffeisenbank Leuk-Leukerbad, 3952 Susten,
3.Schweizer Verband der Raiffeisenbanken (SVRB), Wassergasse 45, 9001 St.
Gallen,
4.Einwohnergemeinde Rheinfelden, 4310 Rheinfelden,
5.Gemeinde Oftringen, 4665 Oftringen,
Beschwerdeführer, alle vertreten durch Advokat Georges Schmid, Brückenweg 6,
3930 Visp,

gegen

Beiratschaft der Munizipalgemeinde Leukerbad, Walter Lengacher, 3930 Visp,
Beschwerdegegner,
Kantonsgericht Wallis (obere Aufsichtsbehörde in Schuldbetreibungs- und
Konkurssachen),
Justizgebäude, av. Mathieu-Schiner 1, 1950 Sitten.

Art. 9 BV (Inventar und Finanzplan),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil der oberen Aufsichtsbehörde in
Schuldbetreibungs- und Konkurssachen vom 6. Juni 2002.

Sachverhalt:

A.
Das Kantonsgericht Wallis als obere Aufsichtsbehörde in Schuldbetreibungs-
und Konkurssachen stellte die Munizipalgemeinde Leukerbad am 20. Juli 1999
für die Dauer von drei Jahren unter Beiratschaft im Sinne von Art. 28 ff. des
Bundesgesetzes vom 4. Dezember 1947 über die Schuldbetreibung gegen Gemeinden
und andere Körperschaften des kantonalen öffentlichen Rechts (SchGG; SR
282.11); sie ernannte gleichzeitig Andreas Coradi zum Beirat, welcher ein
Inventar und den Finanzplan erarbeitete. Der Beirat legte das in einem
einzigen Papier erstellte Inventar und den Finanzplan am 2. März 2001 während
30 Tagen öffentlich auf und führte unter dem Titel "Rechtsmittel" aus, das
Inventar und der Finanzplan könnten innerhalb von 30 Tagen seit Bekanntgabe
der Auflage von jedem Interessierten schriftlich beim Kantonsgericht Wallis
angefochten werden.

B.
Am 30. März 2001 reichten gegen Inventar und Finanzplan unter anderem die
Vaudoise Allgemeine Versicherungsgesellschaft, die Raiffeisenbank
Leuk-Leukerbad, der Schweizer Verband der Raiffeisenbanken, die
Einwohnergemeinde Rheinfelden sowie die Gemeinde Oftringen Beschwerde beim
Kantonsgericht Wallis ein. Das Kantonsgericht (obere Aufsichtsbehörde in
Schuldbetreibung- und Konkurssachen) trat mit Urteil vom 6. Juni 2002
(Dispositiv-Ziff. 3) auf die Beschwerde nicht ein, soweit sie sich gegen das
Inventar richtete mit der Begründung, dieses hätte innert 10 Tagen
angefochten werden müssen; diese Frist sei verpasst worden.

C.
Gegen diesen Nichteintretensentscheid haben die angeführten Parteien
staatsrechtliche Beschwerde erhoben mit dem Antrag, der Entscheid betreffend
das Inventar sei aufzuheben und das Kantonsgericht sei anzuweisen, auf die
Beschwerde gegen das Inventar einzutreten. Der am 9. Juli 2002 eingesetzte
neue Beirat der Munizipalgemeinde Walter Lengacher und das Kantonsgericht
Wallis haben auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Mit der staatsrechtlichen Beschwerde kann in der Regel nur die Aufhebung des
angefochtenen Entscheids verlangt werden (BGE 124 I 327 E. 4a S. 332). Soweit
die Beschwerdeführer mehr verlangen, ist ihre Beschwerde unzulässig. Im
Übrigen kann auf die form- und fristgerecht eingereichte staatsrechtliche
Beschwerde eingetreten werden.

2.
Das Kantonsgericht hat im angefochtenen Entscheid ausgeführt, beim Inventar
handle es sich um ein detailliertes Verzeichnis, welches nach Art, Menge und
Wert sämtliche Vermögensteile und Schulden festhalte und als Grundlage für
die Bilanz und den Finanzplan diene. Der Beirat habe das Inventar in der Form
der Verfügung erlassen. Dieses sei im Gegensatz zum Finanzplan nicht innert
30 Tagen, sondern innert 10 Tagen anzufechten. Die Beschwerdeführer vertreten
demgegenüber die Meinung, die 30-tägige Frist sei zutreffend; zumindest
hätten sie sich auf die Rechtsmittelbelehrung verlassen dürfen.

2.1 Gemäss einem aus dem Prinzip von Treu und Glauben (Art. 9 BV)
abgeleiteten Grundsatz des Prozessrechts darf den Parteien aus einer
fehlerhaften behördlichen Rechtsmittelbelehrung kein Nachteil erwachsen. Dies
bedeutet, dass sich die Rechtsuchenden grundsätzlich auf die
Rechtsmittelbelehrung verlassen dürfen. Wer allerdings die Unrichtigkeit der
Rechtsmittelbelehrung erkannte oder bei zumutbarer Sorgfalt hätte erkennen
müssen, kann sich nicht auf den genannten Grundsatz berufen. Rechtsuchende
geniessen keinen Vertrauensschutz, wenn sie bzw. ihr Rechtsvertreter den
Mangel allein schon durch Konsultierung der massgeblichen
Verfahrensbestimmung hätten erkennen können. Allerdings vermag nur eine grobe
prozessuale Unsorgfalt der betroffenen Partei oder ihres Anwaltes eine
falsche Rechtsmittelbelehrung aufzuwiegen (BGE 124 I 255 E. 1a/aa S. 258; 121
II 71 E. 2a S. 78; 117 Ia 119 E. 3a S. 125, 421 E. 2a S. 422).

2.2 Die Art. 28 bis 45 SchGG ordnen die Beiratschaft. Gemäss Art. 38 Abs. 1
SchGG hat der Beirat zu Beginn seiner Tätigkeit ein Inventar aufzunehmen, in
welchem die zum Finanzvermögen gehörenden Vermögenswerte gesondert
aufzuführen sind, eine Vermögensbilanz aufzustellen und einen Plan über die
zur Sanierung in Aussicht genommenen Massnahmen auszuarbeiten. Gemäss Art. 38
Abs. 3 SchGG ist der Finanzplan während 30 Tagen öffentlich aufzulegen, wovon
den Gläubigern Kenntnis zu geben ist. Er kann innerhalb dieser Frist von
jedem Interessierten bei der Aufsichtsbehörde angefochten werden. Gemäss Art.
44 SchGG kann zudem jeder Interessierte gegen Verfügungen des Beirats binnen
10 Tagen bei der Aufsichtsbehörde Beschwerde führen.

2.3 Es mag zutreffen, dass nach dieser gesetzlichen Ordnung nur der
Finanzplan während 30 Tagen öffentlich aufzulegen ist, während das Inventar
derselben Massnahme nicht unterliegt. Es ist allerdings fraglich, ob in
diesem Fall das Inventar in Form einer selbstständigen Verfügung erlassen
wird oder lediglich als Grundlage für den in Verfügungsform zu kleidenden
Finanzplan dient. Trifft Ersteres zu, wäre das Inventar in die Form einer
Verfügung zu kleiden und mit einer entsprechenden Rechtsmittelbelehrung von
10 Tagen gemäss Art. 44 SchGG zu versehen. Trifft Letzteres zu, hätten sich
die rechtlichen Konsequenzen (insbesondere die verbindliche Zuordnung der
Liegenschaften zum Verwaltungs- bzw. Finanzvermögen), welche sich aus dem
Inventar ergeben, im Finanzplan niederzuschlagen und wären mit diesem
anzufechten.

Im vorliegenden Fall hat der Beirat entsprechend dem Wortlaut von Art. 38
Abs. 1 SchGG im Inventar die für das weitere Verfahren bedeutsame Aufteilung
in das der Zwangsverwertung entzogene Verwaltungsvermögen und das der
Verwertung zugängliche Finanzvermögen vorgenommen und anschliessend im
Finanzplan die bisher getroffenen und die zur Verbesserung der Finanzlage
vorgesehenen Massnahmen geschildert. Zum Teil hat er im Finanzplan auch die
Aufteilung in Verwaltungs- und Finanzvermögen begründet. Weil sich Inventar
und Finanzplan gemäss der Vorgehensweise des Beirats kaum abschliessend
voneinander trennen lassen, hat er sich dazu entschlossen, beides zusammen in
einem Papier während 30 Tagen öffentlich aufzulegen und eine einheitliche
Beschwerdefrist von 30 Tagen festzulegen (vgl. seine Vernehmlassung an das
Kantonsgericht vom 28. Mai 2001, S. 4). Bei der Rechtsmittelfrist von 30
Tagen handelt es sich demnach nicht um ein Versehen des Beirats. Vielmehr hat
er das Vorgehen gewählt, das nach seiner Überzeugung der gesetzlichen Ordnung
entspricht. Ob dieses Vorgehen zutreffend ist oder nicht, kann letztlich
dahingestellt bleiben. Jedenfalls haben sich die Beschwerdeführer auf die
Rechtsmittelbelehrung verlassen können. Es kann ihnen nachträglich nicht eine
grobe Unsorgfalt vorgeworfen werden, wenn sie angenommen haben, es sei der
vom Beirat angegebene Art. 38 SchGG mit einer 30-tägigen Beschwerdefrist
anwendbar und nicht Art. 44 SchGG, der lediglich eine 10-tägige Frist
enthält. Dies trifft umso mehr zu, als es sich vorliegend um die (soweit
ersichtlich) erste Beiratschaft für eine Gemeinde seit Erlass des Gesetzes
über die Schuldbetreibung gegen Gemeinden handelt, so dass dazu keine
Rechtsprechung besteht, und als in diesem Gesetz bezüglich Massnahmen des
Beirats sowohl die 10- als auch die 30-tägige Beschwerdefrist vorkommt. Die
Beschwerde muss aus diesen Gründen gutgeheissen und der angefochtene
Nichteintretensentscheid aufgehoben werden.

3.
Da der Beirat der Munizipalgemeinde im vorliegenden Verfahren keinen Antrag
gestellt hat und dem Kanton in der Regel keine Gerichtskosten auferlegt
werden können (Art. 156 Abs. 2 OG), ist keine Gerichtsgebühr zu erheben.
Hingegen hat der Kanton Wallis den Beschwerdeführern eine Parteientschädigung
zu bezahlen (Art. 159 Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen, und Ziffer 3 des Urteils
des Kantonsgerichts Wallis (obere Aufsichtsbehörde in Schuldbetreibungs- und
Konkurssachen) vom 6. Juni 2002 wird aufgehoben.

2.
Es wird keine Gerichtsgebühr erhoben.

3.
Der Kanton Wallis wird verpflichtet, den Beschwerdeführern eine
Parteientschädigung von insgesamt Fr. 2'000.-- zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht Wallis (obere
Aufsichtsbehörde in Schuldbetreibungs- und Konkurssachen) schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 20. September 2002

Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: