Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilabteilung 5P.215/2002
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5P.215/2002 /RrF

Urteil vom 24. Juli 2002
II. Zivilabteilung

Bundesrichter Bianchi, Präsident,
Bundesrichterin Hohl, Ersatzrichter Zünd,
Gerichtsschreiber Levante.

A. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Daniel Ehrenzeller, Engelgasse
214, 9053 Teufen AR,

gegen

Amtsvormundschaft der Stadt Rorschach, St. Gallerstrasse 5, Postfach, 9401
Rorschach, Beschwerdegegnerin,
Obergerichtspräsident des Kantons Appenzell A.Rh., Fünfeckpalast, Postfach
161, 9043 Trogen.

Art. 9 BV (Rechtsöffnung),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichtspräsidenten
des Kantons Appenzell A.Rh.
vom 2. Mai 2002.

Sachverhalt:

A.
Der Kantonsgerichts-Präsident von Appenzell A.Rh. erteilte der
Amtsvormundschaft der Stadt Rorschach für bevorschusste und abgetretene
Unterhaltsbeiträge mit Entscheid vom 28. Februar 2002 gegen den Schuldner
A.________ definitive Rechtsöffnung für den Betrag von Fr. 11'624.--. Gegen
diesen Entscheid liess A.________ mit Eingabe seines Anwalts vom 15. April
2002 die Appellation erklären. Am 16. April 2002 wurde er durch das
Obergerichtspräsidium des Kantons Appenzell A.Rh. eingeladen, die gesetzliche
Einschreibgebühr von Fr. 100.-- innert einer Notfrist von 5 Tagen zu
bezahlen, anderenfalls auf die Appellation nicht eingetreten würde.

Mit Entscheid des Obergerichtspräsidenten von Appenzell A.Rh. vom 2. Mai 2002
trat dieser auf die Appellation nicht ein. In der Begründung wurde
ausgeführt, dass A.________ am 15. April 2002 zwar kommentarlos und ohne
jeglichen Vermerk Fr. 100.-- an die Gerichtskasse überwiesen habe, dass diese
Zahlung aber mangels Erklärung des Schuldners, welche Schuld er tilgen will,
in Anwendung der Grundsätze von Art. 86 und 87 OR auf eine bereits in
Betreibung gesetzte Schuld angerechnet worden sei. Mangels Bezahlung der
Einschreibgebühr sei auf die Appellation folglich nicht einzutreten.

B.
Mit Eingabe vom 4. Juni 2002 hat A.________ staatsrechtliche Beschwerde an
das Bundesgericht einreichen lassen. Er beantragt, den angefochtenen
Entscheid aufzuheben und ersucht überdies um Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege. Gerügt wird eine Verletzung des Willkürverbots und des
Grundsatzes von Treu und Glauben (Art. 9 BV).

Mit Einreichung der Akten an das Bundesgericht hat der Obergerichtspräsident
des Kantons Appenzell A.Rh. am 7. Juni 2002 darauf hingewiesen, dass gegen
den angefochtenen Entscheid die Rechtsverweigerungsbeschwerde an die
Justizaufsichtskommission des Obergerichtes möglich gewesen wäre, weshalb der
kantonale Instanzenzug nicht ausgeschöpft sei. Der Beschwerdeführer hat
hierzu am 12. Juli 2002 Stellung genommen. Andere Vernehmlassungen sind nicht
eingeholt worden.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bundesgericht überprüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob auf
die staatsrechtliche Beschwerde eingetreten werden kann (BGE 127 III 41 E. 2a
S. 42, mit Hinweisen).

1.1 Von hier nicht zutreffenden Ausnahmen (Art. 86 Abs. 2 OG) abgesehen, ist
die staatsrechtliche Beschwerde nur gegen letztinstanzliche kantonale
Entscheide zulässig (Art. 86 Abs. 1 OG). Nach Art. 280 Abs. 1 ZPO/AR kann
wegen Rechtsverweigerung und Rechtsverzögerung sowie wegen Willkür bei der
Ausübung der Zivilrechtspflege bei der Justizaufsichtskommission Beschwerde
geführt werden, falls keine Appellation möglich ist oder wenn diese zu spät
käme; gegen das Obergericht und seine Abteilungen ist die Beschwerde nicht
zulässig (Art. 280 Abs. 2 ZPO/AR).

1.2 Im angefochtenen Entscheid hat der Obergerichtspräsident als
Einzelrichter im Sinne von Art. 14 Ziff. 1 ZPO/AR über die Appellation gegen
einen Rechtsöffnungsentscheid des Einzelrichters des Kantonsgerichts (Art. 8
Ziff. 8 ZPO/AR) befunden. Der Einzelrichter des Obergerichts gilt nicht als
Abteilung dieser Instanz, was aus der expliziten Unterscheidung zwischen
"Obergericht und seinen Abteilungen" (Art. 2 Ziff. 5 ZPO/AR) und dem
"Einzelrichter des Obergerichtes" (Art. 2 Ziff. 4 ZPO/AR) hervorgeht. In
Einklang hiermit wird im Kommentar zur Zivilprozessordnung des Kantons
Appenzell A.Rh. festgehalten, die Beschwerde an die Justizaufsichtskommission
sei unter anderem auch gegen Appellationsentscheide des Einzelrichters des
Obergerichts zulässig (Max Ehrenzeller, Zivilprozessordnung des Kantons
Appenzell A.Rh., N. 4 zu Art. 280). Das Bundesgericht hat denn auch
wiederholt die Ergreifung der Justizaufsichtsbeschwerde gegen Entscheide des
Einzelrichters des Obergerichts für die Ausschöpfung des kantonalen
Instanzenzugs für erforderlich gehalten und ist deshalb auf staatsrechtliche
Beschwerden, die unmittelbar gegen den Entscheid des Einzelrichters angehoben
wurden, nicht eingetreten (Urteil 5P.175/2000 vom 9. Juni 2000 und Urteil
5P.368/2000 vom 5. Dezember 2000).

1.3 Die Justizaufsichtsbeschwerde kann wegen Rechtsverweigerung und
Rechtsverzögerung sowie wegen Willkür bei der Ausübung der Zivilrechtspflege
geführt werden. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die
Rechtsverweigerung, welche der Obergerichtspräsident seiner Ansicht nach
dadurch begangen hat, dass er auf die Appellation nicht eingetreten ist. Die
Justizaufsichtsbeschwerde ist demnach zulässig, woran nichts zu ändern
vermag, dass der Beschwerdeführer sich vor allem auf den Grundsatz von Treu
und Glauben beruft, denn unabhängig von der erhobenen Rüge steht die
Nichtbehandlung eines Begehrens und somit eine Rechtsverweigerung im engeren
Sinne in Frage, wogegen die Justizaufsichtsbeschwerde offen steht.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer wendet in seiner Stellungnahme vom 12. Juli 2002
zunächst zu Unrecht ein, beim angefochtenen Entscheid handle es sich um einen
Nichteintretensentscheid und nicht um einen Appellationsentscheid, so dass
die Justizaufsichtsbeschwerde auch nach der Auffassung von Ehrenzeller, der
als Anfechtungsobjekt die Appellationsentscheide des Einzelrichters nennt
(a.a.O.), nicht gegeben wäre. Der Einwand ist unbehelflich, ist doch der
Nichteintretensentscheid auf Appellation hin ergriffen worden und liegt somit
ein Appellationsentscheid vor, woran nichts ändert, dass dieser auf
Nichteintreten lautet. Gerade gegen Rechtsverweigerung durch Nichteintreten
ist die Justizaufsichtsbeschwerde der Rechtsbehelf, den das
appenzell-ausserrhodische Prozessrecht vorsieht.

2.2 Der Beschwerdeführer bringt im Weiteren vor, ein Gesetz müsse aus sich
selbst heraus interpretiert werden können. Die Einzelrichter gehörten der
Zweiten Abteilung des Obergerichts an, wie aus dem Staatskalender hervorgehe,
so dass deren Entscheide als solche der Abteilung zu gelten hätten, womit die
Justizaufsichtsbeschwerde nicht zulässig wäre. Auch dieser Einwand ist nicht
stichhaltig, liegt doch der Zivilprozessordnung, wie schon ausgeführt, die
Unterscheidung zwischen "Einzelrichtern des Obergerichts" und dem
"Obergericht und seinen Abteilungen" zugrunde. Die Zulässigkeit der
Justizaufsichtsbeschwerde stützt sich keineswegs nur auf die Kommentarstelle
von Ehrenzeller, sondern lässt sich unmittelbar aus dem Gesetz ableiten.

2.3 Schliesslich erachtet der Beschwerdeführer die Justizaufsichtskommission
nicht als hinreichend unabhängig, da ihre Mitglieder zugleich Mitglieder des
Obergerichts seien. Indessen gehört zur Ausschöpfung des kantonalen
Instanzenzugs, dass der Beschwerdeführer vor Einreichung einer
staatsrechtlichen Beschwerde jedes Rechtsmittel und jeden Rechtsbehelf
ergreift, der ihm Anspruch auf einen Entscheid der angerufenen Behörde gibt
und geeignet ist, den behaupteten rechtlichen Nachteil zu beseitigen (BGE 120
Ia 61 E. 1a S. 62; 112 Ia 180 E. 1c S. 183; 110 Ia 71 E. 2; 110 Ia 136 E. 2a
S. 137). Dazu zählt unter anderem sogar die kassatorische Revision, aufgrund
welcher Aktenversehen und Verfahrensfehler durch dieselben Richter behoben
werden können, die den Entscheid gefällt haben (BGE 110 Ia 136 E. 2a S. 137;
106 Ia 52 E. 1b S. 54). Umso weniger kann in Betracht fallen, von der
Ergreifung eines Rechtsbehelfs deshalb zu entbinden, weil die angerufene
Spruchbehörde organisatorisch demselben Gericht zugeordnet ist (vgl. BGE 110
Ia 71 E. 2: Obergericht des Kantons Obwalden als Kassationsinstanz für
Beschwerden gegen Urteile des Obergerichts und der Obergerichtskommission).

3.
Auf die staatsrechtliche Beschwerde ist demnach mangels Erschöpfung des
kantonalen Instanzenzugs nicht einzutreten. Entsprechend diesem
Verfahrensausgang hat der Beschwerdeführer die bundesgerichtlichen Kosten zu
tragen (Art. 156 Abs. 1 OG). Er hat zwar ein Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege (Art. 152 OG) gestellt, doch kann dieses nicht gutgeheissen
werden, da die Beschwerdeführung als aussichtslos erscheinen musste; daran
ändert nichts, dass die in der Sache erhobene Rüge der Verletzung von Treu
und Glauben prima facie nicht aussichtslos ist. Bei der Bemessung der
Gerichtsgebühr ist allerdings den finanziellen Verhältnissen des
Beschwerdeführers Rechnung zu tragen (Art. 153a Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Auf die staatsrechtliche Beschwerde wird nicht eingetreten.

2.
Das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege wird
abgewiesen.

3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 400.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergerichtspräsidenten des Kantons
Appenzell A.Rh. schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 24. Juli 2002

Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: