Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilabteilung 5P.204/2002
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5P.204/2002 /mks

Urteil vom 6. August 2002
II. Zivilabteilung

Bundesrichter Bianchi, Präsident,
Bundesrichter Raselli, Bundesrichterin Escher,
Gerichtsschreiber Möckli.

A. X.________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno Häfliger,
Postfach, 6000 Luzern 5,

gegen

B. X.________,
Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Jörg Blum, Metzgerrainle
9, Postfach 5350, 6000 Luzern 5,
Obergericht des Kantons Luzern, II. Kammer, Postfach, 6002 Luzern.

Art. 9 BV (vorsorgliche Massnahmen im Scheidungsprozess)

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons
Luzern, II. Kammer, vom 4. Juni 2002

Sachverhalt:

A.
Mit Eheschutzentscheid vom 25. Mai 2001 hob der Amtsgerichtspräsident von
Entlebuch den gemeinsamen Haushalt der Parteien auf und stellte die Kinder
D.________ (geb. ............ 1988), E.________ (geb. .......... 1990) und
F.________ (geb. ............ 1992) in Genehmigung einer entsprechenden
Teilvereinbarung unter die Obhut der Mutter.

B.
Im Rahmen des am 7. März 2002 auf gemeinsames Begehren angehobenen
Scheidungsprozesses stellte der Amtsgerichtspräsident von Entlebuch mit
Entscheid vom 22. April 2002 die beiden Söhne D.________ und F.________ für
die Dauer des Scheidungsverfahrens unter die Obhut des Vaters und die Tochter
E.________ unter diejenige der Mutter. Mit Bezug auf den Sohn F.________
rekurrierte A. X.________ an das Obergericht des Kantons Luzern und verlangte
die Zuteilung an sich selbst. Mit Entscheid vom 4. Juni 2002 wies das
Obergericht des Kantons Luzern den Rekurs ab.

C.
Dagegen hat A. X.________ am 12. Juni 2002 eine staatsrechtliche Beschwerde
eingereicht mit den Begehren um Aufhebung des angefochtenen Urteils und um
Erteilung der aufschiebenden Wirkung. Mit Vernehmlassung vom 21. Juni 2002
hat das Obergericht des Kantons Luzern auf Abweisung der Beschwerde
geschlossen, soweit darauf einzutreten sei. Der Prozessbeistand der Kinder
hat sich in seiner Vernehmlassung vom 27. Juni 2002 mit dem angefochtenen
Entscheid einverstanden erklärt und verlangt, der Beschwerde sei keine
aufschiebende Wirkung zu erteilen. Mit Vernehmlassung vom 1. Juli 2002
stellte der Beschwerdegegner die Begehren um Abweisung der Beschwerde und des
Gesuches um aufschiebende Wirkung. Mit Präsidialverfügung vom 2. Juli 2002
ist der Beschwerde keine aufschiebende Wirkung erteilt worden. Die
unaufgeforderte Stellungnahme der Beschwerdeführerin vom 3. Juli 2002 zu den
Vernehmlassungen ist mit Präsidialverfügung vom 8. Juli 2002 aus den Akten
gewiesen worden.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde sind neue tatsächliche und
rechtliche Vorbringen grundsätzlich unzulässig (BGE 114 Ia 204 E. 1a S. 205;
118 Ia 20 E. 5a S. 26) und es können auch keine neuen Beweismittel
eingereicht werden (BGE 108 II 69 E. 1 S. 71). Nicht zu hören ist deshalb die
Behauptung der Beschwerdeführerin, F.________ verbringe mehr Zeit bei ihr als
beim Vater, weshalb bisher gar nicht von einer praktizierten faktischen Obhut
durch diesen gesprochen werden könne. Gleiches gilt für das Vorbringen, bei
D.________ sei ein deutlicher Leistungsabfall in der Schule eingetreten und
dies sei auch bei F.________ zu befürchten.

2.
Das Obergericht hat erwogen, die Begutachtung der drei Kinder habe noch nicht
begonnen und vor dem Herbst 2002 könne das Gutachten nicht abgeschlossen
werden; angesichts der summarischen Natur des Präliminarverfahrens sei davon
abzusehen, mit dem Entscheid bis zum Vorliegen des Gutachtens zuzuwarten. Da
F.________ unbestritten den Wunsch habe, beim Vater zu leben, sei von einer
tatsächlichen Veränderung der Verhältnisse auszugehen und die Frage der
Obhutszuteilung, die der Amtsgerichtspräsident im Eheschutzverfahren gestützt
auf die entsprechende Parteivereinbarung nur einer summarischen Prüfung
unterzogen habe, sei nochmals zu überprüfen.

Für eine Zuteilung der Obhut an die Beschwerdeführerin spricht nach dem
Obergericht die Beziehungskontinuität, da die Parteien eine traditionelle
Rollenverteilung gepflegt hätten. In ihrer Bereitschaft, auch weiterhin für
die Kinderbetreuung zu sorgen, habe sie bisher die Aufnahme einer
Erwerbstätigkeit abgelehnt. Ein Störfaktor stelle immerhin ihr Bekannter
G.________ dar. Er soll sich oft bei ihr aufhalten, zu viel trinken und die
Kinder grob behandeln. Dass er sich inzwischen einer Alkoholentziehungskur
unterzogen habe und die Beschwerdeführerin "derzeit" keine Beziehung zu ihm
unterhalte, vermöge daran nichts Wesentliches zu ändern. Positiv sei zu
werten, dass die Beschwerdeführerin nach dem Auszug aus der gemeinsamen
Wohnung in der Gemeinde H._________ geblieben sei und auch bereit wäre, den
Kindern regelmässigen Kontakt mit den Vater zu ermöglichen. Für eine
Zuteilung an die Beschwerdeführerin spreche schliesslich, dass F.________
altersmässig seiner Schwester E.________ nahe stehe, wobei allerdings bei der
Anhörung von F.________ deutlich zum Ausdruck gekommen sei, dass er sich
momentan an seinem älteren Bruder D.________ orientiere, der offenbar trotz
des Altersunterschiedes bereit sei, sich mit ihm häufig abzugeben.

Für eine Zuteilung an den Beschwerdegegner führt das Obergericht die
Kontinuität an, nachdem sich D.________ seit Frühling 2001 und F.________
seit Oktober 2001 bei ihm aufhalten. Unter dem Aspekt der Erlebniskontinuität
falle auch ins Gewicht, dass die Kinder im väterlichen Haus aufgewachsen
seien und dieses als ihr Zuhause betrachteten. Der Beschwerdegegner habe
bewiesen, dass er den Alltag mit den Kindern gut bewältigen könne, und
F.________ habe ausdrücklich erwähnt, dass der Vater immer anwesend sei, wenn
er ihn brauche. Der Beschwerdegegner erfülle die Kriterien dafür, dass
F.________ unter seine Obhut gestellt werden könne. Nachdem dies auch dem
ernst zu nehmenden Wunsch des Kindes entspreche, sei die vom
Amtsgerichtspräsidenten vorgenommene Umteilung der Obhut zu bestätigen.

3.
Die Beschwerdeführerin rügt die Verletzung des Willkürverbotes (Art. 9 BV).

3.1 In verfahrensrechtlicher Hinsicht macht die Beschwerdeführerin geltend,
es sei willkürlich, wenn das Obergericht die veränderten Verhältnisse mit dem
Umstand begründe, dass der Eheschutzrichter seinerzeit die Obhutsfrage nur
summarisch geprüft hätte, weil eine Parteivereinbarung vorgelegen habe. Dies
würde dazu führen, dass in den über 90% der Fälle, in denen sich die Parteien
über die Obhutsfrage einigen können, erleichterte Abänderungsmöglichkeiten
bestünden.

Die Beschwerdeführerin übersieht, dass das Obergericht die veränderten
Verhältnisse in erster Linie damit begründet hat, dass F.________ wiederholt
den Wunsch äusserte, er wolle bei seinem Vater wohnen, und dass der ältere
Sohn D.________, an dem sich F.________ stark orientiert, seit Frühling 2001
ebenfalls beim Beschwerdegegner wohnt. Damit setzt sich die
Beschwerdeführerin nicht auseinander, weshalb die Willkürrüge unsubstanziiert
bleibt und auf sie nicht einzutreten ist (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG).

Nicht einzusehen ist schliesslich, inwiefern es willkürlich sein soll, dass
das Obergericht mit seinem Entscheid nicht bis zum Vorliegen des beim kinder-
und jugendpsychiatrischen Dienstes des Kantons Luzern in Auftrag gegebenen
Gutachtens zugewartet hat: Das Obergericht hat in Erfahrung gebracht, dass
nicht vor Herbst 2002 mit der Begutachtung gerechnet werden kann. Das
Massnahmeverfahren ruft nach einem raschen Entscheid und mit der Begründung
der Beschwerdeführerin, bei sofortigem Entscheid würde F.________ hin- und
hergeschoben, lässt sich von vornherein keine Willkür dartun, wenn sich das
Kind seit Monaten bei demjenigen Elternteil befindet, dem die Obhut mit dem
angefochtenen Entscheid zugeteilt wird.

3.2 Die allgemeinen Ausführungen der Beschwerdeführerin zu ihren eigenen
Erziehungsqualitäten und zu den Nachteilen einer Obhutszuteilung an den Vater
(namentlich: der erwerbstätige Beschwerdegegner könne sich zu wenig um die
Kinder kümmern) sind nicht geeignet, willkürliche Rechtsanwendung zu belegen:

Das Obergericht hat in umfassender Weise die Vor- und Nachteile einer
Obhutszuteilung an die Mutter bzw. den Vater gegeneinander abgewogen und
dabei insbesondere auch die Einwände der Beschwerdeführerin berücksichtigt.
Die nunmehr erhobene Kritik ist appellatorischer Natur, weshalb auf sie im
Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde nicht einzutreten ist (BGE 125 I
492 E. 1b S. 495; 127 III 279 E. 1c S. 282). Wird die Verletzung des
Willkürverbots gerügt, reicht es im Übrigen nicht aus, die Rechtslage aus
eigener Sicht darzulegen und den davon abweichenden angefochtenen Entscheid
als willkürlich zu bezeichnen; vielmehr wäre im Einzelnen darzulegen,
inwiefern das kantonale Gericht willkürlich entschieden haben soll und der
angefochtene Entscheid deshalb an einem qualifizierten und offensichtlichen
Mangel leidet (BGE 117 Ia 10 E. 4b S. 11 f.).
3.3 Die Beschwerdeführerin macht geltend, das Obergericht habe ihre
Zusicherung, zur Zeit keine Beziehung zu G.________ zu unterhalten und ihn
nicht mehr in ihre Wohnung zu nehmen, mit der Begründung, dies vermöge nichts
Wesentliches zu ändern, schlicht übergangen.

Das Obergericht hat die Zusicherung in seinen Erwägungen berücksichtigt,
jedoch andere Schlüsse als die Beschwerdeführerin gezogen und offenbar
befunden, das Beziehungsumfeld als solches könnte einen Störfaktor
darstellen. Die Rüge der Beschwerdeführerin ist appellatorisch, weshalb auf
sie nicht einzutreten ist (BGE 125 I 492 E. 1b S. 495; 127 III 279 E. 1c S.
282). Ohnehin zeigt die Beschwerdeführerin nicht auf, inwiefern ihre
Beziehung zu G.________ für den Zuteilungsentscheid kausal gewesen wäre. Das
Obergericht ist denn auch davon ausgegangen, beide Elternteile seien
erziehungsfähig, weshalb letztlich auf die Meinung von F.________ abzustellen
sei (dazu E. 3.4).
3.4 Die Beschwerdeführerin glaubt, Willkür im Umstand zu erkennen, dass das
Obergericht bei seinem Zuteilungsentscheid im Wesentlichen auf den Wunsch von
F.________ abgestellt hat. Es handle sich um die Äusserung eines 9¼-jährigen
Kindes, auf die nach Literatur und Bundesgerichtspraxis bei allem Respekt vor
dessen Persönlichkeit nicht abgestellt werden könne; der Entscheid über die
Obhutszuteilung dürfe nicht gleichsam dem Kind übertragen werden.

Die Ansichten, ab welchem Alter ein Kind anzuhören sei, gehen weit
auseinander. Mehrere Autoren gehen davon aus, dass Kinder bereits ab einem
Alter von vier bis fünf Jahren anzuhören seien; sie verweisen dabei meist auf
die deutsche Praxis, nach der Kinder ab dem dritten und teils sogar ab dem
zweiten Lebensjahr angehört werden (Peter Breitschmid, Kind und Scheidung der
Elternehe, in: Das neue Scheidungsrecht, 1999, S. 123 f.; Alexandra
Rumo-Jungo, Die Anhörung des Kindes, in: AJP 1999, S. 1582; vgl. auch Thomas
Sutter/Peter Freiburghaus, Kommentar zum neuen Scheidungsrecht, 1999, N. 35
zu Art. 144 ZGB). Demgegenüber vertreten andere die Meinung, die sprachliche
Differenzierungs- und Abstraktionsfähigkeit als grundlegende Voraussetzung
für die Anhörung sei bei Kindern erst ab ungefähr elf Jahren entwickelt (z.B.
Heinrich Nufer, Die Kommunikationssituation bei der Anhörung von Kindern, in:
SJZ 1999, S. 317, sowie in: ZVW 1999, S. 209; Wilhelm Felder/Heinrich Nufer,
Richtlinien für die Anhörung des Kindes aus
kinderpsychologischer/kinderpsychiatrischer Sicht gemäss Art. 12 der
UNO-Konvention über die Rechte des Kindes, in: SJZ 1999, S. 318). Ein Teil
der Lehre plädiert schliesslich für eine Anhörung ab einem Alter von sechs
oder sieben Jahren (z.B. Heinz Hausheer, Die wesentlichen Neuerungen des
neuen Scheidungsrechts, in: ZBJV 135, S. 29; Ruth Reusser, Die Stellung des
Kindes im neuen Scheidungsrecht, in: Vom alten zum neuen Scheidungsrecht,
1999, N. 4.79; Dieter Freiburghaus, Auswirkungen der Scheidungsrechtsrevision
auf die Kinderbelange und die vormundschaftlichen Organe, in: ZVW 1999, S.
142; derselbe, Der Einfluss des Übereinkommens auf die schweizerische
Rechtsordnung, in: Die Rechte des Kindes, 2001, S. 195).

Im Lichte der zitierten Literatur und angesichts des Umstandes, dass das
Gesetz kein Schwellenalter für die Anhörung nennt, ist nicht ersichtlich,
inwiefern die Anhörung eines normal entwickelten 9½-jährigen Kindes, das seit
längerer Zeit bei seinem Vater lebt, sowie die Berücksichtigung seines
mehrmals geäusserten und nach den kantonalen Feststellungen ernst zu
nehmenden Wunsches willkürlich sein soll (siehe dazu namentlich auch BGE 126
III 497 E. 4c S. 499); Art. 12 UNO-Kinderrechtskonvention (SR 0.107; für die
Schweiz in Kraft seit dem 26. März 1997) verlangt im Übrigen ausdrücklich,
dass die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und
seiner Reife berücksichtigt wird.

3.5 Dass die Tochter E.________ vom Alter her näher bei F.________ ist, kann
nicht ausschlaggebend sein, umso weniger als sich F.________ nach den
verbindlichen Sachverhaltsfeststellungen sehr stark an seinem Bruder
D.________ orientiert. Wenn die Beschwerdeführerin schliesslich behauptet,
D.________ werde schon bald aus der Schule entlassen und sich anderen
Interessen zuwenden, als "grosses Vorbild für seinen kleinen Bruder" zu sein,
widerspricht dies der Feststellung im angefochtenen Entscheid, D.________ sei
bereit, sich häufig mit F.________ abzugeben.

3.6 Die Beschwerdeführerin macht schliesslich geltend, das Obergericht habe
in willkürlicher Weise gegen den Grundsatz verstossen, dass der
eigenbetreuende Elternteil Vorrang bei der Kinderzuteilung habe.

Die Beschwerdeführerin verkennt, dass die Eigenbetreuungskapazität nur eines
unter mehreren Zuteilungskriterien (z.B. Erziehungsfähigkeit der Eltern,
Prinzip der Koedukation, Zuteilungswünsche der Kinder; Stabilität der
Verhältnisse; vgl. BGE 114 II 200 E. 3 S. 201 ff.) ist und sich deshalb mit
dem blossen Hinweis auf die Möglichkeit der Eigenbetreuung keine Willkür
dartun lässt; vielmehr müsste die Beschwerdeführerin aufzeigen, inwiefern das
Obergericht bei der Wertung der einzelnen Zuteilungselemente im Ergebnis
willkürlich entschieden hat. Da die Rüge unsubstanziiert bleibt, ist auf sie
nicht einzutreten (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG).

4.
Zusammenfassend ergibt sich, dass die staatsrechtliche Beschwerde abzuweisen
ist, soweit darauf eingetreten werden kann. Bei diesem Verfahrensausgang wird
die Beschwerdeführerin kosten- und entschädigungspflichtig (Art. 156 Abs. 1
und Art. 159 Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2000.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Luzern, II.
Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 6. August 2002

Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: