Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilabteilung 5P.172/2002
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5P.172/2002 /bnm

Urteil vom 6. Juni 2002
II. Zivilabteilung

Bundesrichter Bianchi, Präsident,
Bundesrichter Raselli, Bundesrichterin Escher,
Gerichtsschreiber Zbinden.

A. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Markus Koch, Bahnhofstrasse 6,
5610 Wohlen AG,

gegen

B.________,
Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dominik Frey, Römerstrasse
20, Postfach 1644, 5401 Baden,
Obergericht des Kantons Aargau, 5. Zivilkammer, Obere Vorstadt 38, 5000
Aarau,

Art. 9 u. 12 BV (Eheschutz)

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons
Aargau, 5. Zivilkammer, vom 18. März 2002

Sachverhalt:

A.
Die Gerichtspräsidentin 4 des Bezirksgerichts Baden stellte in dem von
B.________ (Ehefrau) angestrengten Eheschutzverfahren mit Entscheid vom 7.
Mai 2001 fest, dass die Ehegatten A.________ (Ehemann) und B.________ zum
Getrenntleben berechtigt seien, und regelte die Einzelheiten. Insbesondere
verpflichtete sie den Ehemann zur Leistung von monatlichen
Unterhaltsbeiträgen an die beiden in die Obhut der Mutter gestellten Kinder
von insgesamt Fr. 1'060.-- plus Kinderzulagen, ferner zu einem monatlichen
Unterhaltsbeitrag an die Ehefrau von Fr. 1'270.-- für die Zeit vom 1. Oktober
2000 bis März 2001 sowie von Fr. 1'320.-- ab April 2001.

B.
Auf Beschwerde des Ehemannes und Anschlussbeschwerde der Ehefrau setzte das
Obergericht des Kantons Aargau am 18. März 2002 den Unterhaltsbeitrag an die
Ehefrau auf Fr. 1'566.-- für die Zeit von Oktober 2000 bis Januar 2001, auf
Fr. 1'072.-- für die Monate Februar und März 2001, auf Fr. 1'612.-- für die
Zeit von April bis Dezember 2001 und auf Fr. 1'600.-- ab Januar 2002 fest.

C.
Der Ehemann gelangt mit staatsrechtlicher Beschwerde ans Bundesgericht. Er
beantragt, das obergerichtliche Urteil aufzuheben und ihm für das
bundesgerichtliche Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren. Die
Ehefrau schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten
sei, und ersucht ebenfalls um Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege.
Das Obergericht des Kantons Aargau hat auf Vernehmlassung verzichtet.
Das Gesuch des Beschwerdeführers um aufschiebende Wirkung ist am 1. Mai 2002
abgewiesen worden.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bundesgericht prüft die Zulässigkeit einer staatsrechtlichen Beschwerde
von Amtes wegen und mit freier Kognition (BGE 128 I 46 E. l a).

Der im Eheschutzverfahren ergangene Entscheid der obern kantonalen Instanz
gilt nicht als Endentscheid im Sinne von Art. 48 Abs. 1 OG und ist daher
nicht mit Berufung anfechtbar. Hingegen ist die staatsrechtliche Beschwerde
wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte in einem solchen Fall gegeben
(Art. 84 Abs. 1 lit. a OG; BGE 127 III 474 E. 2a).

2.
Der Beschwerdeführer macht die Verletzung des Willkürverbotes (Art. 9 BV) und
des Rechts auf Existenzsicherung (Art. 12 BV) geltend.

2.1 Seiner Ansicht nach hat der Unterhaltsbelastete zwar zur Erfüllung seiner
Pflicht einer vollen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Soweit das Obergericht ihn
jedoch zur Leistung von Überstunden verpflichte, verstosse es in krasser
Weise gegen diesen Grundsatz. Sodann verfalle es in willkürliche
Beweiswürdigung, indem es ihm entgegen den Angaben des Arbeitgebers
Überstunden anrechne. Die monatliche Aufrechnung der in zwei Tranchen
ausbezahlten Überstundenentschädigung ergebe ein hypothetisches Einkommen,
wodurch sein Recht auf Existenzsicherung verletzt werde.

2.1.1 Entgegen seiner Behauptung verpflichtet das Obergericht den
Beschwerdeführer nicht zur Leistung von Überstunden. Mit andern Worten, es
geht vorliegend nicht um die Frage, welches Einkommen er im Rahmen seiner
Möglichkeiten und bei gutem Willen erzielen kann und ob ihm allenfalls ein
hypothetisches Einkommen anzurechnen ist. Der angefochtene Entscheid stützt
sich auf die festgestellte Überstundenabgeltung. Damit berücksichtigt das
Obergericht nichts anderes als die tatsächlichen Verhältnisse, womit es der
geltenden Praxis und Lehre zur Berücksichtigung der Überstunden folgt (zum
Eheschutz: BGE 5P.347/2001 vom 14. Dezember 2001, E. 4a; Schwander Basler
Kommentar, N. 5 zu Art. 176 ZGB, mit Hinweis auf Hasenböhler, Basler
Kommentar, N. 4 zu Art. 173 ZGB, mit Hinweisen; zur Scheidung: BGE 127 III
136 E. 2a S. 139; Sutter/Freiburghaus, Kommentar zum neuen Scheidungsrecht,
1999, N. 40 und 47 zu Art. 125 ZGB; Schwenzer, in: Praxiskommentar
Scheidungsrecht, 2000, N. 14 zu Art. 125 ZGB; Hausheer/Spycher, Unterhalt
nach neuem Scheidungsrecht, Ergänzungsband, 2001, Rz. 05.129). Damit erweist
sich der Willkürvorwurf als unbegründet.

2.1.2 Bei der Berücksichtigung der geleisteten Überstunden stellte das
Obergericht auf die einverlangten Lohnausweise für das Jahr 2001 ab. Daraus
ergibt sich, dass der Beschwerdeführer auch in seiner seit 1. Februar 2001
ausgeführten Funktion als Lagerist Überstunden leistet, was von ihm denn auch
nicht bestritten wird. Hingegen hätte das Gericht seiner Ansicht nach einen
Bericht bei der Arbeitgeberin einverlangen sollen, weshalb dem so sei,
nachdem diese auf telefonische Anfrage der erstinstanzlichen Richterin vom
23. Februar 2001 erklärt habe, dass Überstunden mit Freizeit auszugleichen
und im Lager solche praktisch nicht möglich seien. Inwiefern der angefochtene
Entscheid in diesem Punkt in willkürlicher Würdigung von Beweisen ergangen
sein soll, wird nicht in einer Art. 90 Abs. 1 lit. b OG genügenden Weise
begründet und ist daher schlicht nicht nachvollziehbar. Dies gilt auch für
die allfällige Verletzung kantonalen Prozessrechts bei der Klärung der
Überstundenfrage (BGE 119 Ia 197 E. d S. 201; 120 Ia 369 E. 3a; 123 I 1 E.
4a, mit Hinweisen).

2.1.3 Da die geleisteten Überstunden nachträglich ausbezahlt würden, liegt
nach Ansicht des Beschwerdeführers eine "hypothetischen" Anrechnung vor.
Dessen ungeachtet müsse er jeden Monat laufende Unterhaltsbeiträge leisten,
unter Einbezug von Fr. 257.70 an Entschädigung für Überstunden. Soweit er
sich in diesem Zusammenhang auf das Recht auf Existenzsicherung (Art. 12 BV)
beruft, ist er darauf hinzuweisen, dass sich der aus diesem Menschenrecht
ergebende Leistungsanspruch gegen die öffentliche Hand richtet (BGE 121 I 367
E. 2c; Jörg Paul Müller, Grundrechte in der Schweiz, 3.Aufl. 1999, S. 169).
Damit ist aus verfassungsrechtlicher Sicht auch nicht zu entscheiden, welche
Mittel konkret für ein menschenwürdiges Dasein des Beschwerdeführers
unabdingbar sind und ob bei schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen der
Ehegatten er sich auf das Existenzminimum als Grenze seiner Leistungspflicht
berufen kann.

2.2 Dass der 13. Monatslohn zu seinem Einkommen hinzuzuzählen ist, wird vom
Beschwerdeführer nicht in Frage gestellt. Diese Betrachtungsweise des
Obergerichts geht zu Recht vom tatsächlichen Leistungsvermögen des
Pflichtigen aus (BGE 117 II  16 E. 1b zum Eheschutz; grundsätzlich:
Hausheer/Spycher, [Hrsg.], Handbuch des Unterhaltsrechts, 1997, S. 41 N
01.31; zur Scheidung: Sutter/Freiburghaus, a.a.O., N. 40 zu Art. 125 ZGB).
Indes wehrt er sich gegen eine "schematische Einrechnung" des erst Ende Jahr
zur Auszahlung gelangenden 13. Monatslohnes in sein monatliches Einkommen,
die den tatsächlichen Verhältnissen nicht Rechnung trage, während elf Monaten
in sein Existenzminimum eingreife und daher unhaltbar sei. Er verlangt einen
separaten Entscheid über das Recht der Unterhaltsberechtigten an seinem 13.
Monatslohn.

Dem angefochtenen Entscheid lässt sich eine detaillierte und phasenweise
Feststellung des vom Beschwerdeführer bezogenen Gehaltes mit allen
Bestandteilen entnehmen. Entsprechend dem sich daraus ergebenden Nettogehalt
hat das Obergericht den monatlichen Unterhaltsbeitrag an die Ehefrau von
Oktober 2000 bis Januar 2001, für die Monate Februar und März 2001, für April
bis Dezember 2001 und schliesslich seit Januar 2002 in der jeweiligen Höhe
festgelegt. Dem Einwand des Beschwerdeführers, er müsse sich bis zur
Überweisung des 13. Monatslohnes im November einschränken, um der laufenden
Unterhaltsverpflichtung nachzukommen, hielt es entgegen, dass dies angesichts
des Rentenbeginns im Oktober zumutbar sei. Diese Betrachtungsweise übersieht
indes, dass nicht nur die Unterhaltsverpflichtung dieser zwei Monate, sondern
seither und auf unbeschränkte Zeit in Frage steht. Obwohl die beanstandete
Begründung nicht überzeugt, ist der angefochtene Entscheid im Ergebnis nicht
unhaltbar, worauf es ankommt (BGE 125 I 166 E. 2a). Der Entscheid erweist
sich damit insoweit nicht als willkürlich im Sinne der Rechtsprechung.

Vorliegend wird der 13. Monatslohn einmalig ausbezahlt. Diese Regelung ist,
wenn auch nicht vertragsrechtlich, so doch wirtschaftlich vergleichbar mit
den schwankenden Einkommen von Akkordarbeitern oder Selbstständigerwerbenden.
In diesem Bereich wird regelmässig auf den Durchschnittswert einer als
massgebend erachteten Zeitspanne abgestellt Hausheer/Spycher, a.a.O., S. 86 N
05.130; Sutter/Freiburghaus, a.a.O., N. 42 zu Art. 125 ZGB; Schwenzer,
a.a.O., N. 17 zu Art. 125 ZGB). Ein solches Vorgehen bedeutet nicht nur eine
Annäherung an die tatsächlichen Verhältnisse über einen längeren Zeitraum,
sondern auch eine unter Verfassungsgesichtspunkten durchaus zulässige
Vereinfachung. Dem Umstand, dass der Beschwerdeführer dadurch während elf
Monaten teilweise "auf Kredit" leistet, ist selbst bei knappen finanziellen
Verhältnissen einer 13. Auszahlung der entsprechend separat berechneten
Unterhaltsrente bzw. einer Art Nachzahlung vorzuziehen. Insoweit ist die
Lehrmeinung Bräm, (Zürcher Kommentar, N. 71 zu Art. 163 ZGB) nicht zwingend,
welche die anteilsmässige Hinzurechnung des 13. Monatslohn als unangemessen
erachtet, wenn dadurch beim Unterhaltsverpflichteten ein Eingriff ins
Existenzminimum resultiert, und daher eine Nachforderung des
Unterhaltsberechtigten bei Fälligkeit vorschlägt.

Umgekehrt ist die Rentengläubigerin auch nicht zu einem vorzeitigen Bezug des
monatlichen Unterhalts berechtigt, nur weil der Schuldner von seinem
Arbeitgeber einen Vorschuss bezogen hat.

2.3 Bei der Berechnung des schuldnerischen Existenzminimums setzte die
Gerichtspräsidentin einen Grundbetrag von Fr. 775.-- sowie den effektiven
bzw. halben Mietzins ein, da der Beschwerdeführer mit jemandem zusammenwohne.
Insoweit ist der erstinstanzliche Entscheid im kantonalen Verfahren
unangefochten geblieben. Hingegen war vor zweiter Instanz unter anderem
strittig, ob dem Beschwerdeführer ein Beitrag für die von seiner Partnerin
geleistete Hausarbeit zustehe. Das Obergericht beschränkte sich auf den
Hinweis, ob die Person, welche mit dem Beschwerdeführer zusammenwohne, den
Haushalt führe und ob die vom Sozialdienst hiefür berechnete Entschädigung
von Fr. 450.-- zutreffend sei, bilde nicht Gegenstand des
Eheschutzverfahrens. Aus der Anrechnung des entsprechenden Betrages an die
Partnerin entstehe zudem keine Verpflichtung, ihr etwas zu zahlen.

2.3.1 Dies bestreitet der Beschwerdeführer denn auch nicht. Indes erachtet er
den angefochtenen Entscheid als willkürlich, da er von einem Konkubinat
ausgehe, gleichzeitig die Haushaltführung der Partnerin nicht berücksichtige,
wohl aber die Einsparungen durch das gemeinsame Wohnen. Seiner Ansicht nach
bilden die SKOS-Richtlinien einen unumstrittenen Rechtssatz, dessen
Nichtbeachtung gegen Art. 9 BV verstosse.

2.3.2 Dem angefochtenen Entscheid lassen sich keine Anhaltspunkte entnehmen,
die auf ein Konkubinat des Beschwerdeführers hindeuten. Im Übrigen könnte er
aus der Praxis, wonach bei einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft der
nacheheliche Unterhalt verweigert wird (BGE 124 111 52 E. a), ohnehin keine
Folgerungen ziehen, da sie gerade nicht seine Konstellation betrifft.

2.3.3 Bei der Berechnung des Existenzminimums wird gemäss den Richtlinien der
kantonalen Aufsichtsbehörden für die alleinstehende Person jeweils der volle
monatliche Grundbetrag und für diejenige, die mit jemandem in dauernder
Hausgemeinschaft lebt, ein reduzierter Ansatz berücksichtigt. Ebenso wird bei
der Berechnung der Wohnkosten anteilsmässig vorgegangen (vgl. BGE 7B.1/2002
vom 20. Februar 2002, E. 3). Das Unterhaltsrecht orientiert sich an der
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Pflichtigen, weshalb bei der
Festlegung einer Unterhaltsrente auch die Einsparungen durch gemeinsames
Wohnen in Betracht fallen. Hingegen werden Leistungen des nichtehelichen
Partners aufgrund ihrer Freiwilligkeit auf der Einnahmenseite nicht
berücksichtigt (für die Scheidung: vgl. Schwenzer, a.a.O., N. 18 und 25 zu
Art. 125 ZGB). Dazu gehören nicht nur Geldbeträge, sondern auch geldwerte
Beiträge wie die Besorgung des Haushaltes. Andererseits fällt auch das
Entgelt für Arbeitsleistungen sowie weitere Auslagen des Partners auf der
Ausgabenseite ausser Betracht. Damit erweist sich der Willkürvorwurf in
diesem Punkt als unbegründet.

2.3.4 Mit der Berufung auf die SKOS-Richtlinien übersieht der
Beschwerdeführer überdies, dass sich die Festlegung des Unterhaltsbeitrages
immer nach zivilrechtlichen Grundsätzen richtet. Weitere Rechtsquellen werden
nur hilfsweise, z.B. zur Bewertung, und nach den Kriterien des
Unterhaltsrechts berücksichtigt.

3.
Nach dem Gesagten ist der Beschwerde kein Erfolg beschieden. Angesichts der
aufgeworfenen Fragen und der teilweise knappen Begründung des Obergerichts
erwies sie sich nicht von vornherein als aussichtslos, weshalb das Gesuch des
Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege gutzuheissen ist. Auf Seiten
der Beschwerdegegnerin sind die diesbezüglichen Voraussetzungen für die
Bewilligung ihres Gesuchs ebenfalls erfüllt (Art. 152 Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gesuche der Parteien um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung
werden gutgeheissen. Dem Beschwerdeführer wird Rechtsanwalt Markus Koch,
Bahnhofstrasse 6, 5610 Wohlen, der Beschwerdegegnerin Rechtsanwalt Dominik
Frey, Römerstrasse 20, Postfach 1644, 5401 Baden, als Rechtsbeistand
beigegeben.

3.
Es werden keine Kosten erhoben.

4.
Rechtsanwalt Markus Koch wird ein Honorar von Fr. 1'200.--, Rechtsanwalt
Dominik Frey ein solches von Fr. 1'000.-- aus der Bundesgerichtskasse
entrichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, 5.
Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 6. Juni 2002

Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: