II. Zivilabteilung 5P.139/2002
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5P.139/2002/bnm II. Z I V I L A B T E I L U N G ******************************** 3. Juni 2002 Es wirken mit: Bundesrichter Bianchi, Präsident der II. Zi- vilabteilung, Bundesrichterin Nordmann, Bundesrichterin Escher und Gerichtsschreiber Schett. --------- In Sachen A.________ (Ehefrau), Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Guido Ranzi, Quaderstrasse 5, Postfach 519, 7001 Chur, gegen B.________ (Ehemann), Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwältin Karin Caviezel, Belmontstrasse 1, Post- fach 160, 7006 Chur, Kantonsgericht S t. G a l l e n, Einzelrichter im Fami- lienrecht, betreffend Art. 9 BV (Eheschutzmassnahmen; Kinderzuteilung), hat sich ergeben: A.- A.________ (Ehefrau) trennte sich im Oktober 2000 von ihrem Ehemann B.________ und zog mit den beiden Kindern vom bisherigen ehelichen Wohnort Z.________ in das rund 200 km entfernte Dorf Y.________. Am 15. Januar 2001 ordnete der Präsident des Bezirksgerichts Sargans als Eheschutzrichter das Getrenntleben der Eheleute. Er stellte die Kinder C.________ und D.________ unter die Obhut der Mutter. Zu- gleich regelte er das Recht des Vaters auf persönlichen Um- gang mit den Kindern und seine Unterhaltspflicht. Gegen diesen Entscheid erhob der Ehemann Rekurs beim Kantonsgericht St. Gallen. Dessen Einzelrichter im Familien- recht hiess das Rechtsmittel mit Entscheid vom 26. Februar 2002 teilweise gut und stellte die Kinder C.________ und D.________ ab 6. April 2002 in die Obhut des Vaters. Die Mutter wurde berechtigt, die Kinder an jedem zweiten Wochen- ende von Freitagabend bis Sonntagabend zu sich auf Besuch zu nehmen und mit ihnen sechs Wochen Ferien im Jahr zu verbrin- gen. An den Unterhalt der Kinder hat sie nicht beizutragen. B.- Mit Eingabe vom 5. April 2002 hat die Ehefrau staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht eingereicht und beantragt die Aufhebung des Entscheids des Kantonsge- richts St. Gallen vom 26. Februar 2002. Ferner verlangt sie, der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen und ihr sei die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren. C.- Mit Verfügung des Präsidenten der II. Zivilabteilung ist der staatsrechtlichen Beschwerde am 25. April 2002 die aufschiebende Wirkung zuerkannt worden. Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 1.- Im Eheschutzverfahren ergangene Entscheide der obe- ren kantonalen Instanzen gelten nicht als Endentscheide im Sinne von Art. 48 Abs. 1 OG und können demzufolge nicht mit Berufung angefochten werden. Hingegen ist für die Geltend- machung von verfassungsmässigen Rechten die staatsrechtliche Beschwerde gegeben (Art. 84 Abs. 1 lit. a OG; BGE 127 III 474 E. 2a mit Hinweisen). 2.- Die Beschwerdeführerin rügt, der Einzelrichter habe gegen Art. 9 BV verstossen, weil er versäumt habe, ge- mäss Art. 146 ZGB einen Beistand für die Kinder zu bestellen. Auf den Vorwurf kann nicht eingetreten werden, denn in einer staatsrechtlichen Beschwerde sind neue tatsächliche und rechtliche Vorbringen grundsätzlich unzulässig (BGE 118 Ia 20 E. 5a S. 26). Im Übrigen übersieht die Beschwerdeführerin, dass die Anordnung nur beim Antrag des urteilsfähigen Kindes obligatorisch ist (Art. 146 Abs. 3 ZGB), ansonsten braucht es wichtige Gründe, welche vorliegend nicht ersichtlich sind. Allein der Umstand, dass die Frage der Kinderzuteilung heftig umstritten ist, genügt noch nicht. Jede andere Lösung würde auf das vom Gesetzgeber nicht gewünschte Obligatorium hinaus- laufen. Damit kann vorliegend offen bleiben, ob Art. 146 ZGB auch auf das Eheschutzverfahren Anwendung findet (Sutter/ Freiburghaus, Kommentar zum neuen Scheidungsrecht, N. 10 und 16 zu Art. 146 ZGB). 3.- Die Beschwerdeführerin wirft dem Einzelrichter eine Verweigerung des rechtlichen Gehörs und des Anspruchs auf Beweis vor, weil die von ihr beantragten Zeugen nicht einver- nommen und der Bericht der Fürsorge- und Vormundschaftskom- mission der Gemeinde Y.________ vom 7. Dezember 2000 als nicht massgeblich zurückgewiesen worden seien. a) Der verfassungsrechtliche Anspruch auf rechtli- ches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) umfasst die Rechte der Par- teien auf Teilnahme am Verfahren und auf Einflussnahme auf den Prozess der Entscheidfindung. Dazu gehört insbesondere das Recht des Betroffenen, sich vor Erlass eines in seine Rechtsstellung eingreifenden Entscheids zur Sache zu äussern, erhebliche Beweise beizubringen, das Recht auf deren Abnahme sowie das Recht, an der Erhebung wesentlicher Beweise entwe- der mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu beein- flussen (BGE 127 I 54 E. 2b; 124 I 49 E. 3a S. 51; 122 I 53 E. 4a; 120 Ib 379 E. 3b; je mit Hinweisen). Der Anspruch auf rechtliches Gehör lässt es aber zu, dass der Richter das Be- weisverfahren schliesst, wenn er auf Grund der bereits abge- nommenen Beweise seine Überzeugung gebildet hat und ohne Willkür in vorweggenommener Beweiswürdigung annehmen kann, dass seine Überzeugung durch weitere Beweiserhebungen nicht geändert würde. Das Bundesgericht greift auf staatsrechtliche Beschwerde hin nur ein, wenn die Beweiswürdigung offensicht- lich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, auf einem offensichtlichen Versehen beruht oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwider- läuft (BGE 124 I 208 E. 4a S. 211; 122 II 464 E. 4a S. 469; 120 Ib 379 E. 3b S. 383). b) Vorab ist der Beschwerdeführerin entgegen zu halten, dass ihre Rüge sich nicht auf die Stellungnahme der Gemeinde Y.________ vom 20. März 2002 erstrecken kann, da sie sich in unzulässiger Weise auf eine neue Tatsache beruft (E. 2 hievor). Sodann übersieht die Beschwerdeführerin, dass das Gutachten vom 28. September 2001 datiert und der nicht berücksichtigte Bericht der Gemeinde Y.________ vom 7. De- zember 2000. Mangels hinreichender Begründung kann auch die Rüge nicht entgegen genommen werden, der Einzelrichter habe Art. 111 ZPO/SG missachtet, denn gemäss Leuenberger/Uffer- Tobler (Kommentar zur Zivilprozessordnung des Kantons St. Gallen) käme Amtsberichten ein gutachterlicher Stellen- wert zu. Inwiefern der Amtsbericht das vom Kantonsgericht in Auftrag gegebene Gutachten als nicht schlüssig verdrängen könnte, wird überhaupt nicht erörtert. Dass der Einzelrichter "trotz zahlreicher Hinweise" ein Obergutachten über die Frage der Kinderzuteilung hätte erstellen lassen müssen, wird eben- falls nicht rechtsgenüglich dargetan. Hinsichtlich des Schreibens der Sozialen Dienste der Gemeinde Y.________ vom 12. November 2001 - wie übrigens auch betreffend die bean- tragten Zeugeneinvernahmen - legt die Beschwerdeführerin nicht dar, inwiefern damit die Beweiswürdigung zu einem an- deren Resultat hätte führen müssen. c) Der Einzelrichter hält fest, es gebe keine An- haltspunkte dafür, dass die Gutachter irgendwie voreingenom- men gewesen seien. Es würde nicht weiter helfen, nahestehende Personen als Zeugen zu vernehmen, weil sie jeweils nur eine Seite kennen würden. Ähnliches gelte für den Bericht, den die Mutter bei der Vormundschaftsbehörde ihres Wohnorts eingeholt habe. Er hat somit die angebotenen Beweise antizipiert gewür- digt. Dadurch hat er den Gehörsanspruch nicht verletzt. Die Beschwerdeführerin behauptet, es stimme nicht, dass ihre vor- geschlagenen Zeugen nur eine Seite kennen würden und verweist auf zwei negative Äusserungen ihres Ehemannes, die von der Zeugin E.________ in ihrer schriftlichen Stellungnahme vom 30. Oktober 2001 erwähnt sind. Das genügt nicht, um die vor- weggenommene Beweisführung des Einzelrichters als willkürlich zu qualifizieren. 4.- Mit Bezug auf die Zuteilung der Kinder an den Be- schwerdegegner wirft die Beschwerdeführerin dem Einzelrichter willkürliche Beweiswürdigung vor. In der staatsrechtlichen Beschwerde sind neue Tat- sachen nicht zu berücksichtigen, es sei denn, der Beschwerde- führer zeige mit einer Art. 90 Abs. 1 lit. b OG konformen Rüge auf, dass der Entscheid auf einem willkürlich falschen oder unvollständigen Sachverhalt beruht. Insbesondere die nachstehenden Behauptungen können daher nicht in Betracht ge- zogen werden: Über 50 Personen hätten sich in einer Petition für die Beschwerdeführerin eingesetzt und unterschriftlich bekräftigt, dass sie eine gute Mutter sei. Der Vater verhalte sich - nach der Darstellung der Beschwerdeführerin - gegen- über den Kindern unangemessen und rede herablassend über ihre Mutter. a) Willkürliche Beweiswürdigung im Sinne von Art. 9 BV liegt nur vor, wenn der Richter seinen grossen Ermessens- spielraum bei der Würdigung der Beweise offensichtlich miss- braucht hat, wenn das Beweisergebnis geradezu unhaltbar ist oder wenn es auf einem offenkundigen Versehen beruht. Der Richter muss z.B. die Beweise krass einseitig zu Gunsten einer Partei gewürdigt oder wichtige Beweise völlig ausser Acht gelassen haben (BGE 120 Ia 31 E. 4b S. 60; 118 Ia 28 E. 1b). Willkürlich und damit verfassungswidrig ist ein Ent- scheid nicht schon dann, wenn eine andere Lösung ebenfalls vertretbar erscheint oder gar vorzuziehen wäre, sondern erst, wenn er offensichtlich unhaltbar ist, zur tatsächlichen Si- tuation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen un- umstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossen- der Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft, was in der staatsrechtlichen Beschwerde darzulegen ist (BGE 110 Ia 1 E. 2). Auf ungenügend begründete Rügen und rein appellatori- sche Kritik am angefochtenen Entscheid tritt das Bundesge- richt nicht ein (BGE 125 I 492 E. 1b S. 495 mit Hinweisen). b) Die Beschwerdeführerin erachtet die kantonsge- richtlichen Feststellungen als willkürlich, dass sie den Wohnort Y.________ eher zufällig gewählt und zu diesem Ort keine engere persönliche oder berufliche Beziehung habe. Diese Kritik ist unangebracht. Die Beschwerdeführerin stellt auf die jetzige Situation ab, wo hingegen das Gericht den Zeitpunkt der Wohnsitzwahl im Auge hat. Die Beschwerdefüh- rerin hat zwar Bekannte in Y.________, es ist jedoch nicht willkürlich, daraus keine engere persönliche Beziehung zum Wohnort zu sehen. Eine berufliche Verbindung bestand gemäss dem Gutachten vor dem Wohnortswechsel nicht. Zur Feststel- lung, sie habe mehrmals überstürzt einen Lebensabschnitt unterbrochen, begnügt sich die Beschwerdeführerin mit der eigenen Schilderung der Dinge, womit sie keine rechtsgenüg- lich begründeten Rügen vorbringt. c) Sodann trägt die Beschwerdeführerin vor, die Be- hauptung des Einzelrichters, die Mutter habe sich noch kaum Gedanken über ihre Zukunft gemacht, sei aktenwidrig. Der Vor- wurf grenzt an Mutwilligkeit, denn das Gericht äussert sich (S. 4/5) in allgemeiner Weise über die Kriterien der Kinder- zuteilung, und inwiefern die Ausführungen im angefochtenen Urteil, welche auf den Aussagen der Beschwerdeführerin im Gutachten (Ziff. 2.1.5 "Zukunftsperspektiven") beruhen, will- kürlich sein sollen, wird nicht rechtsgenüglich begründet. d) Schliesslich bringt die Beschwerdeführerin vor, auch das Ergebnis des kantonsgerichtlichen Entscheids sei stossend und unverständlich und damit willkürlich, weil die Kinder nicht der Mutter, sondern dem Vater bzw. der Gross- mutter anvertraut würden. Die Begründung erschöpft sich in der Hauptsache im Vorbringen neuer und damit unzulässiger Tatsachen sowie in bloss appellatorischer Kritik. Das Ober- gericht hat gestützt auf die bundesgerichtliche Rechtspre- chung ausgeführt, der Richter habe sich am Kindeswohl und nicht an den Interessen der Eltern zu orientieren. Die Mutter habe auch bei kleineren Kindern keinen natürlichen Vorrang (BGE 117 II 356). Es komme für die Zuteilung der Obhut na- mentlich auf die innere Bindung zwischen den Eltern und Kin- dern, die Erziehungseignung, die Möglichkeit der persönlichen Betreuung und die Stabilität der Verhältnisse an (BGE 114 II 202; 115 II 319). Brächten beide Eltern etwa gleichwertige Voraussetzungen mit, so sei auf das ganze Beziehungsnetz zu achten, in das die Kinder eingebettet würden. Die Beschwerde- führerin wendet dagegen unter anderem ein, auch im Gutachten würden ihre erzieherischen Fähigkeiten als gut bezeichnet und ihr einziger Fehler sei, dass sie es gewagt habe, ihren Wohn- sitz 220 km nach Westen zu verlegen. Der Beschwerdegegner neige jedoch zu Wutausbrüchen, sei unausgeglichen und gegen- über den Kinderbelangen desinteressiert. Diese wie auch die weiteren Vorbringen, mit denen der Beschwerdegegner in ein schlechtes Licht gestellt werden soll, sind nichts anderes als appellatorische Kritik, die nicht gehört werden kann. Mit diesen Einwänden kann der Entscheid des Einzelrichters, der auf einem ausführlichen Gutachten basiert, in welchem die Erziehungsfähigkeit, das Betreuungspotential und das soziale Umfeld im Gespräch mit den Eltern und ihnen nahestehenden Personen ergründet wurden, nicht infrage gestellt werden. 5.- a) Nach dem Gesagten ist die staatsrechtliche Be- schwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird die Beschwerdeführerin kostenpflichtig (Art. 156 Abs. 1 OG). Mit Rücksicht auf ihre finanzielle Lage ist die Gerichtsgebühr zu ermässigen (Art. 153a OG). Da sich die staatsrechtliche Beschwerde zum vornherein als aussichtslos erwies, ist das Gesuch der Be- schwerdeführerin um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspfle- ge abzuweisen (Art. 152 Abs. 1 OG). b) Der Beschwerdegegner wurde aufgefordert, zum Ge- such um aufschiebende Wirkung Stellung zu nehmen. Er hat das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege gestellt und seine Bedürftigkeit nachgewiesen, weshalb seinem Begehren zu entsprechen ist. Demnach erkennt das Bundesgericht: 1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 2.- a) Das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgelt- liche Rechtspflege wird abgewiesen. b) Das Gesuch des Beschwerdegegners um unentgeltli- che Rechtspflege wird gutgeheissen, und es wird ihm Rechts- anwältin Karin Caviezel, Belmontstrasse 1, 7006 Chur, als Rechtsbeiständin beigegeben. 3.- Die Gerichtsgebühr von Fr. 1'000.-- wird der Be- schwerdeführerin auferlegt. 4.- Rechtsanwältin Karin Caviezel wird aus der Bundesge- richtskasse mit Fr. 500.-- entschädigt. 5.- Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsge- richt St. Gallen, Einzelrichter im Familienrecht, schriftlich mitgeteilt. _______________ Lausanne, 3. Juni 2002 Im Namen der II. Zivilabteilung des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: