Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilabteilung 5C.200/2002
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5C.200/2002 /min

Urteil vom 16. Oktober 2002
II. Zivilabteilung

Bundesrichter Bianchi, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Ersatzrichter Zünd,
Gerichtsschreiber Schett.

N. ________,
Berufungsklägerin, vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Thomas Barth,
Tittwiesenstrasse 29, Postfach 459, 7001 Chur,

gegen

Kantonsgericht von Graubünden, Zivilkammer, Post-
strasse 14, 7002 Chur.

vormundschaftliche Massnahmen,

Berufung gegen das Urteil des Kantonsgerichts von Graubünden, Zivilkammer,
vom 2. Juli 2002.

Sachverhalt:

A.
A.a N.________ wurde im Jahre 1985 auf eigenes Begehren gestützt auf Art. 372
ZGB bevormundet. Mit Beschluss der Vormundschaftsbehörde des Kreises
Oberengadin vom 2. Oktober 1996 wurde die bestehende Vormundschaft in eine
kombinierte Mitwirkungs- und Verwaltungsbeiratschaft nach Art. 395 Abs. 1 und
2 ZGB umgewandelt. Als Beirat wurde lic. iur. L.________, Rechtsanwalt und
Notar in Chur, eingesetzt.

N. ________ ist Eigentümerin mehrerer Grundstücke in Y.________, X.________,
unter anderem der Parzellen Nrn. (...). Rechtsanwalt L.________ ist seit etwa
Mitte der neunziger Jahre bemüht, eine Umzonung der sich im "übrigen
Gemeindegebiet" befindlichen Parzellen Nrn. (...) in die Bauzone zu erwirken.
Im Zuge dieser Bemühungen hat L.________ auch im Auftrag von zwei weiteren
Grundeigentümern (T.________ und R.________) diverse Aufwendungen getätigt.
Seit dem Herbst 2000 ist mit der Bearbeitung des Projektes "X.________" die
S.________ AG befasst, an der L.________ zu einem Sechstel beteiligt ist und
deren Verwaltungsratspräsident er ist.

Mit Beschluss vom 29. Oktober 2001 bestellte die Vormundschaftsbehörde
Oberengadin wegen Interessenkollision des Beirats gestützt auf Art. 392 Ziff.
2 ZGB für die verbeiratete N.________ in der Person von Dr. P.________ einen
Beistand ad hoc für Rechtsgeschäfte aller Art im Zusammenhang mit den
Parzellen Nrn. (...) in Y.________.

A.b Dagegen führte N.________ am 23. November 2001 Beschwerde an den
Bezirksgerichtsausschuss Maloja. Sie verlangte dabei die Aufhebung des
Beschlusses der Vormundschaftsbehörde mit der Begründung, die
Vormundschaftsbehörde sei örtlich aufgrund des nach Ascona verlegten
Wohnsitzes nicht zuständig, und eine Interessenkollision sei nicht gegeben.
Zugleich verlangte sie aber aufgrund der Dringlichkeit der Angelegenheit,
dass Dr. P.________ für zwei Geschäfte als Beistand ad hoc eingesetzt und
angewiesen werde, diese baldmöglichst zum Abschluss zu bringen.

Der Bezirksgerichtsausschuss Maloja wies am 27. März 2002 die Beschwerde ab
und enthob zudem den bisherigen Beirat, L.________, gestützt auf Art. 445
Abs. 1 ZGB seines Amtes.

A.c Auf kantonale Berufung hin bestätigte das Kantonsgericht von Graubünden
mit Entscheid vom 2. Juli 2002 sowohl die Bestellung eines Beistandes ad hoc
wie auch die Amtsenthebung des bisherigen Beirats. Es wies ausserdem die
Vormundschaftsbehörde an, einen neuen Beirat zu bestellen und die Interessen
der verbeirateten N.________ bis dahin wahrzunehmen.

B.
B.aAm 16. September 2002 hat N.________ fristgerecht eidgenössische Berufung
(zudem staatsrechtliche Beschwerde) eingereicht. Sie beantragt, die
Entscheide des Kantonsgerichts von Graubünden, des Bezirksgerichtsausschusses
Maloja und der Vormundschaftsbehörde des Kreises Oberengadin aufzuheben. Für
das bundesgerichtliche Verfahren ersucht sie um Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege und Verbeiständung.

B.b Das Kantonsgericht von Graubünden hat auf Gegenbemerkungen verzichtet.

C.
Das Bundesgericht hat die staatsrechtliche Beschwerde mit Urteil vom heutigen
Tag abgewiesen, soweit darauf einzutreten war.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Art. 44 OG hält fest, dass die Berufung in nicht vermögensrechtlichen
Zivilrechtsstreitigkeiten zulässig ist, sowie in einzeln aufgeführten
Zivilsachen, die nicht zur streitigen Gerichtsbarkeit gehören. Der im Gesetz
aufgeführte Katalog der berufungsfähigen Fälle der nichtstreitigen
Gerichtsbarkeit ist grundsätzlich abschliessend (BGE 118 Ia 473 E. 2a).
Berufungsfähig ist nach Art. 44 lit. e OG die Entmündigung und die Anordnung
einer Beistandschaft sowie die Aufhebung dieser Verfügung.

1.2 Nicht mit Berufung angefochten werden kann demnach zum Vornherein die
Amtsenthebung des bisherigen Beirates (Geiser, Basler Kommentar, N. 31 zu
Art. 446-450 ZGB, vgl. auch N. 44 zu Art. 420 ZGB). Soweit sich die Berufung
hiergegen richtet, ist darauf nicht einzutreten. Die Anordnung einer
Beistandschaft ist demgegenüber grundsätzlich berufungsfähig. Es liesse sich
zwar fragen, ob an der Beurteilung der Berufung in diesem Punkt noch ein
Rechtsschutzinteresse besteht, nachdem mit dem angefochtenen Entscheid auch
die Amtsenthebung des Beirates bestätigt wurde, weshalb es des Beistandes ad
hoc für die Zukunft nicht mehr bedarf. Die Frage kann offen bleiben, denn,
wie nachfolgend zu zeigen ist, liegt eine Verletzung von Bundesrecht
jedenfalls nicht vor.

2.
2.1 Die Berufungsklägerin hat im Jahre 1998, was unstreitig ist, ihren
früheren Wohnsitz im Oberengadin nach Ascona verlegt. Die vormundschaftliche
Massnahme wurde jedoch bisher, übrigens zunächst im Einvernehmen mit der
Berufungsklägerin, durch die Vormundschaftsbehörde des Kreises Oberengadin
weitergeführt. In einem Entscheid, der vorliegend nicht Anfechtungsgegenstand
bildet, hat das Kantonsgericht von Graubünden die Vormundschaftsbehörde des
Kreises Oberengadin angewiesen, zu prüfen, ob die bestehende
vormundschaftliche Massnahme aufrechtzuerhalten ist und bei Nichtaufhebung
die Übertragung der Beiratschaft an die am Wohnsitz zuständige Behörde in die
Wege zu leiten. Die Berufungsklägerin macht geltend, dass örtlich die Bündner
Behörden bereits für die vorliegend getroffenen Massnahmen nicht mehr
zuständig gewesen wären.

2.2 Zuständig zur Anordnung und Führung vormundschaftlicher Massnahmen ist
gemäss dem im Zivilgesetzbuch normierten Wohnsitzprinzip (Art. 376 Abs. 1,
396 Abs. 1 und 315 Abs. 1 ZGB) grundsätzlich die Vormundschaftsbehörde am
gesetzlichen Wohnsitz des Massnahmebedürftigen. Dieser Wohnsitz bestimmt sich
nach den gesetzlichen Wohnsitzvorschriften (Art. 23 ff. ZGB). Massgebend für
die Zuständigkeit ist dabei der Wohnsitz im Zeitpunkt der Einleitung des
vormundschaftlichen Massnahmeverfahrens. Diese Zuständigkeit bleibt, wie die
bei der Verfahrenseinleitung gesetzlich begründete Zuständigkeit einer
Verwaltungs- oder Gerichtsbehörde schlechthin, bis zur rechtskräftigen
Erledigung des eingeleiteten Verfahrens bestehen, womit vermieden wird, dass
dieses durch Wohnsitzwechsel des Schutzbedürftigen unterlaufen, verzögert
oder gar verhindert wird. Die Vormundschaftsbehörde, die eine rechtskräftig
angeordnete vormundschaftliche Massnahme führt, bleibt zu deren Führung auch
nach einem Wohnsitzwechsel des Massnahmebedürftigen bis zu deren Übertragung
bzw. Übernahme durch die infolgedessen neu zuständige Vormundschaftsbehörde
(Art. 377 ZGB) zuständig; sie hat während der Führung der Massnahme bis dahin
alles für den Massnahmebedürftigen Erforderliche vorzunehmen und darf die
Massnahme erst dann, wenn nichts mehr vorzukehren ist und die Massnahme
unverändert weitergeführt werden kann, an die neu zuständige
Vormundschaftsbehörde übertragen. Dabei geht die Massnahme erst mit deren
Übernahme durch die neu zuständige Vormundschaftsbehörde auf diese über.

2.3 Das Bundesgericht hat allerdings in einem neueren Urteil ausgeführt, für
die Errichtung einer Vormundschaft bei einer verbeiständeten Person, welche
ihren Wohnsitz verlegt habe, sei selbst dann nicht mehr die bisherige
Vormundschaftsbehörde zuständig, sondern diejenige am neuen Wohnsitz, wenn
eine Übertragung der vormundschaftlichen Massnahme noch nicht stattgefunden
hat. Begründet wurde der Entscheid damit, dass zwar mangels Übertragung der
vormundschaftlichen Massnahme die Pflicht zur Weiterführung am ursprünglichen
Wohnsitz fortbestehe, aber neue Massnahmen, welche entscheidend in die
Freiheit des Massnahmebedürftigen eingriffen, wie dies bei Errichtung einer
Vormundschaft bei bestehender Beistandschaft der Fall sei, am neuen Wohnsitz
zu erfolgen hätten (BGE 126 III 415). Zu Recht hält das Kantonsgericht hierzu
fest, dass vorliegend lediglich die bisherige Massnahme weitergeführt,
infolge einer Interessenkollision des Beirats eine Beistandschaft ad hoc
errichtet und schliesslich der Beirat des Amtes enthoben wurde, was für die
Schutzbedürftige keine zusätzliche Einschränkung der Handlungsfreiheit
bedeutete. Im Rahmen der gesetzlich vorgeschriebenen Weiterführung der
Massnahme bis zur erfolgten Übertragung an die neu zuständige
Vormundschaftsbehörde lagen diese Anordnungen auch unter Beachtung des vom
Bundesgericht in BGE 126 III 415 getroffenen Entscheids ohne weiteres in der
Kompetenz der bisher zuständigen Bündner Behörden.

3.
Gemäss Art. 392 Ziff. 2 ZGB kann ein Beistand ernannt werden, wenn der
gesetzliche Vertreter einer unmündigen oder entmündigten Person in einer
Angelegenheit Interessen hat, die denen des Vertretenen widersprechen. Die
Bestimmung ist analog auch anwendbar für Interessenkollisionen zwischen der
verbeirateten Person und dem Beirat (Egger, Zürcher Kommentar, N. 24 zu Art.
392 ZGB; Schnyder/Murer, Berner Kommentar, N. 78 zu Art. 392 ZGB). Die
Verbeiständung ist schon bei blosser Möglichkeit der Gefährdung der
Interessen des Vertretenen geboten, ohne dass es darauf ankäme, ob sich der
Vertreter im Einzelfall um objektive Wahrung der Interessen der
schutzbefohlenen Person bemüht (BGE 118 II 101 E. 4; 107 II 105 E. 4; Egger,
a.a.O., N. 26 zu Art. 392 ZGB; Schnyder/Murer, a.a.O., N. 84 zu Art. 392
ZGB).

Nach den Feststellungen des Kantonsgerichts ist der Beirat, L.________,
zugleich Verwaltungsratspräsident der S.________ AG, welche das Projekt
"X.________" führt, und an der er zu einem Sechstel beteiligt ist. Als Beirat
hat L.________ der S.________ AG Aufträge erteilt. Als Anwalt hat er darüber
hinaus auch weitere am Projekt interessierte Grundeigentümer vertreten. Deren
Interessen sind zum Teil anders gelagert, lehnen doch die Erben T.________ in
der Zwischenzeit die bauliche Realisierung in der von der S.________ AG
vorgeschlagenen Form ab und sind sie nicht bereit, die von der S.________ AG
getätigten Planungsarbeiten und Verkaufsbemühungen zu bezahlen, da sie keine
entsprechenden Aufträge erteilt hätten. Streitig unter den Beteiligten ist,
wer für den getätigten Aufwand von rund einer Million Franken (Planungskosten
der S.________ AG und Anwaltskosten) aufzukommen hat. Das Kantonsgericht
weist ferner darauf hin, dass der Beirat im Oktober 2001 der
Vormundschaftsbehörde einen Vorvertrag zum Abschluss eines Kaufvertrages mit
Begründung eines limitierten Vorkaufsrechts zur Genehmigung vorgelegt hat,
wobei zwei der drei potentiellen Käufer zum fraglichen Zeitpunkt dem
Verwaltungsrat der S.________ AG angehörten. Darüber hinaus war vorgesehen,
dass ein Teil der Kaufpreiszahlung in der Höhe von Fr. 300'000.-- nicht an
die Berufungsklägerin, sondern an die S.________ AG geleistet werden sollte,
zur Tilgung angeblicher Honorarguthaben aus den vom Beirat beziehungsweise
der S.________ AG selbst geleisteten Projektierungsarbeiten.

Angesichts der dargestellten vielschichtigen Verquickung der Interessenlagen
mutet es als pure Trölerei an, wenn in der Berufung weiterhin von
gleichgerichteten Interessen gesprochen und eine Interessenkollision des
Beirats, der in dieser Angelegenheit auch eigennützige Ziele verfolgt, in
Abrede gestellt wird.

4.
Die Berufung erweist sich damit als unbegründet und ist abzuweisen, soweit
darauf eingetreten werden kann.

Diesem Verfahrensausgang entsprechend hat die Berufungsklägerin die
bundesgerichtlichen Kosten zu tragen (Art. 156 Abs. 1 OG). Sie stellt zwar
ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung (Art. 152 ZGB).
Dieses kann jedoch nicht gutgeheissen werden, da das Begehren zum Vornherein
als aussichtslos bezeichnet werden muss und im Übrigen auch die Bedürftigkeit
nicht ausgewiesen ist. Unter Berücksichtigung des Grundbetrags für ein
Ehepaar von Fr. 1'550.--, einem zivilprozessualen Zuschlag von 25 % (vgl. BGE
124 I 1 E. 2a), d.h. Fr. 387.50, dem Mietzins von Fr. 1'590.--, den
Heizkosten von Fr. 300.--, den Krankenkassenbeiträgen von Fr. 595.-- sowie
Steuern von Fr. 300.--, ergibt sich ein zivilprozessualer Bedarf von Fr.
4'722.50. Nicht zu berücksichtigen sind die Kosten für einen Personenwagen;
eines solchen bedarf es für Arztbesuche nicht. Bei einem Renteneinkommen von
Fr. 6'000.-- können die Kosten des vorliegenden Verfahrens innert
angemessener Frist abgetragen werden.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Berufung wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden kann, und das
Urteil des Kantonsgerichts von Graubünden vom 2. Juli 2002 wird bestätigt.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird der Berufungsklägerin auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird der Berufungsklägerin und dem Kantonsgericht von
Graubünden, Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 16. Oktober 2002

Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: