Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilabteilung 5C.173/2002
Zurück zum Index II. Zivilabteilung 2002
Retour à l'indice II. Zivilabteilung 2002


5C.173/2002 /mks

Urteil vom 20. Dezember 2002
II. Zivilabteilung

Bundesrichter Bianchi, Präsident,
Bundesrichter Raselli, Bundesrichterin Nordmann,
Bundesrichterin Escher, Bundesrichter Meyer,
Gerichtsschreiber Möckli.

Markus Frei, Mühletobelstrasse 8, 8500 Frauenfeld,
Berufungskläger, vertreten durch Fürsprech Franz Norbert Bommer, Wilerstrasse
21, 8570 Weinfelden,

gegen

Raas AG, Mühletobelstrasse 8a, 8500 Frauenfeld,
Berufungsbeklagte, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Kaspar Schläpfer,
Bahnhofstrasse 49, 8501 Frauenfeld.

Nachbarrecht,

Berufung gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom
22. Mai 2002.

Sachverhalt:

A.
Die Raas AG plant auf den beiden Parzellen Nrn. 327 und 332 an der
Mühletobelstrasse in Frauenfeld einen Um- bzw. Neubau mit insgesamt acht
Wohneinheiten. Die Hausteile sollen die Nummern Mühletobelstrasse 10, 10A,
10B, 10C und 10D erhalten. Auf Grund von Einsprachen während der öffentlichen
Auflage des Baugesuchs wurde der geplante Neubau 10D neu situiert (gedreht)
und die entsprechende Projektänderung vom 12. Juli bis 2. August 2000
aufgelegt.

B.
Markus Frei ist Eigentümer der Parzelle Nr. 336 an der Mühletobelstrasse 8
und direkter Anstösser der Bauparzellen. Mit Entscheid vom 12. September 2000
wies der Stadtrat Frauenfeld seine Einsprache ab. Den dagegen erhobenen
Rekurs wies das Departement für Bau und Umwelt des Kantons Thurgau am 27.
Juni 2001 vollumfänglich ab.

Mit Beschwerde vom 7. September 2001 an das Verwaltungsgericht stellte Markus
Frei die Begehren, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und der Raas AG
sei die Erstellung der auf dem Nachbargrundstück geplanten Wohnhausbaute 10D
unter Aufhebung der diesbezüglichen Baubewilligung zu verbieten, eventuell
sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. Mit Urteil vom 22. Mai 2002
wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau die Beschwerde sowohl
hinsichtlich ihres öffentlich- als auch des privatrechtlichen Charakters ab.

C.
Mit Berufung vom 19. August 2002 stellt Markus Frei die Begehren, der
angefochtene Entscheid des Verwaltungsgerichts sei aufzuheben (Ziff. 1) und
der Berufungsbeklagten sei die Erstellung der Wohnbaute Mühletobelstrasse 10D
zu verbieten, soweit nicht die Streitsache zur ergänzenden
Sachverhaltsfeststellung und Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen
sei (Ziff. 2). Es sind keine Berufungsantworten eingeholt worden.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Baubewilligungsentscheid, in
welchem gestützt auf § 91 des Planungs- und Baugesetzes des Kantons Thurgau
(PBG; RB 700) zugleich auch die privatrechtliche Einsprache des
Berufungsklägers im Sinne von Art. 684 ZGB bzw. sein entsprechendes Begehren,
der Berufungsbeklagten sei die Erstellung der geplanten Baute 10D zu
verbieten, beurteilt worden ist. Die vorliegende Berufung richtet sich gegen
diesen Entscheid, soweit der zivilrechtliche Anspruch betroffen ist. Der
Berufungskläger beziffert den Streitwert auf mindestens Fr. 20'000.--
(Minderwert seines Grundstücks bzw. kapitalisierte Wohnwerteinbusse von Fr.
1'000.-- pro Jahr). Auf die Berufung ist einzutreten.

2.
2.1 Das Verwaltungsgericht hat sich im Wesentlichen zur öffentlich-rechtlichen
Zulässigkeit des Bauvorhabens geäussert und es hat diese bestätigt. Zum
nachbarrechtlichen Aspekt hat es ausgeführt, es liege zwar auf der Hand, dass
sich der Berufungskläger mit einem Gebäudeabstand von nur 8 m durch einen
möglichen Verlust der Intimsphäre und durch die mögliche Verschlechterung der
Besonnung beeinträchtigt fühle. Indes sei in einer Bauzone grundsätzlich
beides hinzunehmen, soweit dies im Rahmen der öffentlich-rechtlichen
Vorschriften geschehe.

2.2 Der Berufungskläger rügt die Verletzung von Art. 8 und 684 ZGB. Obwohl
der öffentlich- und der privatrechtliche Rechtsschutz voneinander unabhängig
und deshalb auch eigenständig zu beurteilen seien, habe das
Verwaltungsgericht für die zivilrechtliche Seite der Streitigkeit weder
Sachverhaltsfeststellungen getroffen noch die geltend gemachten negativen
Immissionen beurteilt, und es habe sich auch nicht mit den unterbreiteten
Beweisofferten befasst.

2.3 Es trifft zu, dass die Vorinstanz hinsichtlich des Zivilpunktes keine
(eigenständigen) Sachverhaltsfeststellungen getroffen, sondern lediglich von
einem möglichen Verlust der Intimsphäre und der möglichen Beeinträchtigung
der Besonnung durch den geplanten Neubau gesprochen und damit einzig die
subjektive Befindlichkeit des Berufungsklägers wiedergegeben hat. Mit der
anschliessenden Erwägung, solche Nachteile seien hinzunehmen, soweit dies im
Rahmen der öffentlich-rechtlichen Vorschriften geschehe, hat die Vorinstanz
die Anwendung von Art. 684 ZGB zwar nicht schlechthin, aber sinngemäss dann
ausgeschlossen, wenn der Kanton über eine einschlägige öffentlich-rechtliche
Regelung verfügt und das Bauvorhaben sich an diese Vorschriften hält. Im
Folgenden ist zu prüfen, ob das Verwaltungsgericht damit Bundesrecht verletzt
hat.

2.4 Die Kantone sind befugt, die Abstände festzusetzen, die bei Grabungen und
Bauten zu beobachten sind (Art. 686 Abs. 1 ZGB). Es bleibt ihnen vorbehalten,
weitere Bauvorschriften aufzustellen (Art. 686 Abs. 2 ZGB).

Bei Art. 686 ZGB handelt es sich um einen echten Vorbehalt (Meier-Hayoz,
Berner Kommentar, N. 81 ff. zu Art. 685/686 ZGB; Rey, Basler Kommentar, N. 3
und 20 zu Art. 685/686 ZGB), der die Kantone - mit Ausnahme der in Art. 685
ZGB geregelten Materie - zur Ordnung des gesamten privaten Baurechts befugt.
Ob damit eine exklusive Rechtsetzungskompetenz der Kantone begründet wird,
ist umstritten; diesbezüglich kann auf die in BGE 126 III 452 im Zusammenhang
mit dem Pflanzenrecht (Art. 688 ZGB) dargestellte Kontroverse verwiesen
werden (E. 3b S. 457 f. ).

Während früher die meisten Kantone von der erwähnten Gesetzgebungskompetenz
Gebrauch gemacht und in ihren Einführungsgesetzen Abstands-, aber auch
weitere Bauvorschriften als kantonales Privatrecht erlassen haben, gelangt
heute fast ausschliesslich (kantonales) öffentliches Recht zur Anwendung
(Bäumlin, Privatrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Immissionsschutz, in:
BTJP 1968, S. 108 f.; Raselli, Berührungspunkte des privaten und öffentlichen
Immissionsschutzes, in: URP 1997, S. 274 f.). Nicht anders verhält es sich im
Kanton Thurgau: Die Regelung im vormaligen Einführungsgesetz (§ 86 ff.
aEGZGB/TG; vgl. Schönenberger, Zürcher Kommentar, Die kantonalen Erlasse,
Band VI, 2. Teil, Zürich 1941, S. 690) ist durch diejenige im PBG und den
kommunalen Baureglementen ersetzt worden (vgl. § 12 Abs. 2 Ziff. 4 und 5
PBG). Dennoch bleibt die Frage bedeutsam, ob Art. 686 ZGB zu Gunsten der
Kantone eine exklusive Rechtsetzungskompetenz begründet: Diesfalls wäre Art.
684 ZGB nämlich im Rahmen des Vorbehaltes von Art. 686 ZGB derogiert und
somit auch dann nicht anwendbar, wenn ein Kanton überhaupt keine oder
jedenfalls keine privatrechtlichen Bestimmungen erlassen hat, so dass sich in
der Konsequenz auch die Frage des Verhältnisses des die Gebäudeabstände
regelnden kantonalen öffentlichen Rechts zum zivilrechtlichen
Immissionsschutz (Art. 684 ZGB) nicht stellte.

2.5 In BGE 126 III 452 hat das Bundesgericht entschieden, dass grundsätzlich
auch so genannte negative Immissionen wie Schattenwurf und Lichtentzug von
Art. 684 ZGB erfasst werden (E. 2c S. 455 ff.) und dass die
Rechtsetzungskompetenz, die den Kantonen gemäss Art. 688 ZGB im Bereich des
Pflanzenrechts zusteht, die Anwendung von Art. 679 und 684 ZGB nicht
ausschliesse (E. 3c S. 458 ff.). Dieser Entscheid ist in der Lehre
mehrheitlich positiv aufgenommen worden (Schnyder, in: Baurecht 2001, S. 82;
Schmid-Tschirren, in: recht 2001, S. 238 ff.; ablehnend hingegen Piotet, in:
AJP 2001, S. 594 ff.). In einem obiter dictum ist allerdings festgehalten
worden, im Unterschied zum Pflanzenrecht stelle heute das kantonale Baurecht
meist ein umfassendes Regelwerk dar und dem berechtigten Immissionsschutz der
Nachbarn werde im Baubewilligungsverfahren Rechnung getragen; es sei kaum
denkbar, dass von einer rechtmässig erstellten Baute derart schwerwiegende
Emissionen ausgingen, dass sich ein bundesrechtlicher Beseitigungsanspruch
rechtfertige (E. 3c/cc S. 460). Dies bedarf freilich der Präzisierung.

2.6 Wie erwähnt, steht dem Bundeszivilrecht heute in den meisten Fällen - so
auch vorliegend - nicht mehr gestützt auf Art. 686 ZGB erlassenes kantonales
Privatrecht, sondern öffentliches Recht gegenüber. Es stellt sich deshalb
primär die Frage des Verhältnisses zwischen Art. 684 ZGB und dem öffentlichen
Baurecht.

Die Kantone werden in ihren öffentlich-rechtlichen Befugnissen durch das
Bundeszivilrecht nicht beschränkt (Art. 6 ZGB). Das kantonale öffentliche
Recht darf zwar nicht Sinn und Zweck des Bundeszivilrechts widersprechen oder
gar dessen Anwendung vereiteln (Huber, Berner Kommentar, N. 213 und 214 zu
Art. 6 ZGB), es verfügt jedoch über "expansive Kraft" (Huber, a.a.O., N. 70
ff. zu Art. 6 ZGB) und bestimmt mittels Bauordnung und Zonenplan mehr und
mehr, was nach Lage und Ortsgebrauch an Einwirkungen zulässig ist. Obwohl die
öffentlichen Interessen an den Grenz- und Gebäudeabständen primär auf den
Gebieten der Feuer- und Gesundheitspolizei, der guten Gestaltung der
Siedlungen und der Ästhetik liegen, sollen diese Vorschriften auch die
mannigfaltigen Einflüsse von Bauten und ihrer Benutzung auf die
Nachbargrundstücke mildern (BGE 119 Ia 113 E. 3b S. 117).

Freilich verhält es sich nicht so, dass Zonenordnungen und Baureglemente die
Lage der Grundstücke und den Ortsgebrauch im Sinne von Art. 684 ZGB geradezu
verbindlich festlegen würden (Meier-Hayoz, a.a.O., N. 112 zu Art. 684 ZGB).
Allerdings bildet das öffentliche Baurecht einerseits ein Indiz für den
Ortsgebrauch (vgl. BGE 126 III 223 E. 3c S. 225; Meier-Hayoz, a.a.O., N. 113;
Auer, Neuere Entwicklungen im privatrechtlichen Immissionsschutz, Diss.
Zürich 1997, S. 15), und andererseits ist es bei der Anwendung von Art. 684
ZGB insofern mitzubedenken, als die Einheit der Rechtsordnung ein
beziehungsloses Nebeneinander von privatem und öffentlichem Recht verbietet
(BGE 126 III 223 E. 3c S. 226; Raselli, a.a.O., S. 284 ff.; Hänni, Planungs-,
Bau- und besonders Umweltschutzrecht, Bern 2002, S. 493). Art. 6 Abs. 1 ZGB
stellt in diesem Sinn nicht nur einen unechten Vorbehalt zu Gunsten der
Kantone dar, sondern verpflichtet auch zur Harmonisierung von Bundeszivil-
und kantonalem öffentlichen Recht (Marti, Zürcher Kommentar, N. 25 und 52 ff.
zu Art. 6 ZGB); darauf hat das Bundesgericht bereits im Zusammenhang mit
Lärmimmissionen hingewiesen (BGE 126 III 223 E. 3c S. 225 ff.). Freilich ist
nicht zu verkennen, dass die Ausweitung des öffentlichen Baurechts
tendenziell auf Kosten des privatrechtlichen Immissionsschutzes gehen kann.
Dies ist jedoch insoweit sachlich gerechtfertigt und hinzunehmen, als man es
mit detaillierten Zonenordnungen und Baureglementen zu tun hat. Nur diese
vermögen der übergeordneten Zielsetzung der Raumplanung (vgl. Art. 1 PRG) und
dabei insbesondere dem Grundsatz der rationalen, das ganze Siedlungsgebiet
umfassenden Planung (vgl. Art. 3 RPG) zu genügen. Wird daher das Vorliegen
einer übermässigen Einwirkung im Sinne von Art. 684 ZGB mit dem Argument
verneint, das Bauvorhaben entspreche den massgebenden öffentlich-rechtlichen
(Bauabstands-) Normen, und handelt es sich dabei um Vorschriften, die im
Rahmen einer detaillierten, den Zielen und Planungsgrundsätzen des
Raumplanungsrechts entsprechenden Bau- und Zonenordnung erlassen worden sind,
bedeutet das in aller Regel keine Vereitelung von Bundesrecht (in diesem Sinn
auch: Meier-Hayoz, a.a.O., N. 311 zu Art. 684 ZGB).

2.7 Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen ist zusammenfassend festzuhalten,
dass das Verwaltungsgericht kein Bundesrecht verletzte, indem es die
übermässige Einwirkung im Sinne von Art. 684 ZGB mit der Begründung verneint
hat, das Bauvorhaben entspreche den massgebenden öffentlich-rechtlichen
Abstandsvorschriften. Ebenso wenig ist Art. 8 ZGB verletzt, weil das
Verwaltungsgericht bei diesem Ergebnis nicht gehalten war, eigene
Sachverhaltsfeststellungen zur privatrechtlichen Einsprache zu treffen und
die diesbezüglich beantragten Beweise abzunehmen. Die Berufung ist
abzuweisen.

3.
Bei diesem Verfahrensausgang ist die Gerichtsgebühr dem Berufungskläger
aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 ZGB).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Berufung wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 3'000.-- wird dem Berufungskläger auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Verwaltungsgericht des Kantons
Thurgau schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 20. Dezember 2002

Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: