Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilabteilung 5C.159/2002
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5C.159/2002 /bmt

Urteil vom 1. Oktober 2002
II. Zivilabteilung

Bundesrichter Bianchi, Präsident,
Bundesrichterin Nordmann, Bundesrichterin Escher,
Gerichtsschreiber Schett.

A. ________,
Klägerin und Berufungsklägerin, vertreten durch Fürsprecherin Dr. Verena
Büchler-Tschudin, Malerweg 2, Postfach 1053,
3601 Thun,

gegen

B.________,
Beklagten und Berufungsbeklagten, vertreten durch Advokat Thomas Brunner,
Tola, 3943 Eischoll.

Ehescheidung,

Berufung gegen das Urteil des Appellationshofs des Kantons Bern, I.
Zivilkammer, vom 27. Mai 2002.

Sachverhalt:

A.
Am 19. Dezember 2001 schied der Gerichtspräsident 2 des Gerichtskreises X
Thun die Ehe von A.________ und B.________, genehmigte die Teilvereinbarung
über die Scheidungsfolgen und hielt fest, dass die Parteien güterrechtlich
auseinandergesetzt sind. Das Begehren von A.________ um Zusprechung einer
Entschädigung nach Art. 124 ZGB wies er ab. Der Appellationshof des Kantons
Bern stellte fest, dass das erstinstanzliche Scheidungsurteil samt
Nebenfolgen in Rechtskraft erwachen sei und wies die von A.________ bezüglich
der Entschädigung nach Art. 124 ZGB erhobene Appellation am 27. Mai 2002 ab.

B.
A.________ führt Berufung gegen das Urteil des Appellationshofs mit dem
Antrag, B.________ zu einer angemessenen Entschädigung nach Art. 124 ZGB zu
verpflichten. B.________ schliesst auf Abweisung der Berufung, soweit darauf
einzutreten sei. Beide Parteien stellen das Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Bei der Entschädigung nach Art. 124 ZGB geht es um eine
Zivilrechtsstreitigkeit mit Vermögenswert. Die Berufung ist damit nur
gegeben, wenn die gesetzliche Streitwertgrenze erreicht ist (Art. 46 OG).
Zwar beantragt die Klägerin bloss eine angemessene Entschädigung. Indes geht
aus der Begründung hervor, dass sie einen monatlichen Betrag von Fr. 400.--
geltend macht. Das Streitwerterfordernis ist damit erfüllt.

1.2 In der Berufungsschrift ist kurz darzulegen, welche Bundesrechtssätze und
inwiefern diese durch den angefochtenen Entscheid verletzt sind. Das
Bundesgericht ist an die tatsächlichen Feststellungen der letzten kantonalen
Instanz gebunden, es sei denn, dass sie unter Verletzung bundesrechtlicher
Beweisvorschriften zustande gekommen sind. Vorbehalten bleibt die
Berichtigung offensichtlich auf Versehen beruhender Feststellungen von Amtes
wegen (Art. 63 Abs. 2 OG). Damit sind Ausführungen gegen die tatsächlichen
Feststellungen unzulässig (Art. 55 Abs. 1 lit. c OG; BGE 126 III 59 E. 2a S.
65, 187 E. 2a). Dies trifft namentlich für die Darlegungen der Klägerin zur
Berechnung des aktuellen Verkehrswertes der Liegenschaft in X.________ und
des Vermögensertrages im Falle einer Veräusserung, wie sie von der Vorinstanz
vorgenommen worden ist, zu. Dass in diesem Punkt auf die Berufung nicht
eingetreten werden kann, braucht im Urteilsspruch nicht zum Ausdruck zu
kommen (Messmer/Imboden, Die eidgenössischen Rechtsmittel in Zivilsachen, Rz
122 S. 165). Ebenso ist auf die sachverhaltlichen Weiterungen des Beklagten
hinsichtlich der aktuellen wirtschaftlichen Verhältnisse der Parteien, der
Scheidungsgeschichte und des Verkehrswertes der Liegenschaft nicht
einzugehen.

2.
Gemäss Art. 122 Abs. 1 ZGB hat jeder Ehegatte Anspruch auf die Hälfte der für
die Ehedauer zu ermittelnden Austrittsleistung aus beruflicher Vorsorge des
andern Ehegatten, sofern kein Vorsorgefall eingetreten ist. Hat ein
erwerbstätiger Ehegatte bereits einen Vorsorgefall erlebt oder können aus
andern Gründen Ansprüche aus der beruflichen Vorsorge, die während der Ehe
erworben worden sind, nicht geteilt werden, so spricht das Gesetz dem
anspruchsberechtigten Ehegatten eine angemessene Entschädigung zu (Art. 124
Abs. 1 ZGB). Die Festsetzung derselben hat dem Ergebnis der güterrechtlichen
Auseinandersetzung sowie den wirtschaftlichen Verhältnissen überhaupt
Rechnung zu tragen. Es handelt sich hierbei nicht um eine abstrakte hälftige
Teilung der Austrittsleistung nach Art. 122 Abs. 1 ZGB, sondern um eine
Entschädigung nach Recht und Billigkeit, d.h. unter Gewichtung sämtlicher
erheblicher Fallumstände (BGE 127 III 433 E. 3 S. 439 mit Hinweisen auf die
Doktrin; unveröffentlichtes Urteil der II. Zivilabteilung vom 1. Mai 2002
[5C.276/2001], E. 3). Dazu gehören auch die Ehedauer und die jeweiligen
Vorsorgebedürfnisse der Ehegatten; hingegen fallen die Umstände, die zur
Scheidung geführt haben, ausser Betracht (Botschaft, BBl 1996 I 106). Auch
wenn es sich bei der Festsetzung der Entschädigung um einen
Ermessensentscheid handelt, heisst das nicht, dass der Richter die
Austrittsleistung völlig ausser Acht lassen darf. Im Gegenteil, zuerst ist
deren Höhe für die während der Ehe erworbenen Ansprüche im Zeitpunkt der
Scheidung bzw. des rentenbegründenden Ereignisses zu berechnen. Alsdann ist
auf das konkrete Vorsorgebedürfnis der Parteien einzugehen. Nur dieses
zweistufige Vorgehen, wie es in der Lehre vorgeschlagen wird, wird dem
Vorsorgecharakter der Ersatzleistung gerecht (Schneider/Bruchez, La
prévoyance professionelle et le divorce, S. 241 und S. 244, in: Le nouveau
droit du divorce [Hrsg.: C. Paquier und J. Jaquier]; Geiser, Berufliche
Vorsorge im neuen Scheidungsrecht, in: Vom alten zum neuen Scheidungsrecht,
Bern 1999, S. 94 [Hrsg.: Heinz Hausheer]; derselbe, Vorsorgeausgleich:
Aufteilung bei Vorbezug für Wohneigentumserwerb und nach Eintritt eines
Vorsorgefalles, in: FamPra.ch 1/2002, S. 97). Zugleich lässt es eine
gesamtheitliche Betrachtung des Einzelfalls zu, ohne in den Schematismus zu
verfallen, wie er von der Lehre teilweise auch gefordert wird (BGE 127 III
433 E. 3, der die Position von Baumann/Lauterburg, Darf's ein bisschen
weniger sein?, in: FamPra.ch 2/2000, S. 208 ff., verwirft).

2.1 Die Vorinstanz nahm keine eigenen Sachverhaltsabklärung vor, sondern
verwies auf den erstinstanzlichen Entscheid, wo festgehalten wird, dass sich
die Austrittsleistung des Beklagten im Zeitpunkt seiner Pensionierung im
Jahre 1988 nachträglich nicht mehr berechnen lasse, da die notwendigen
Unterlagen bei der Y.________-Versicherung fehlten. Sie erwähnt ein Schreiben
der Versicherung, wonach diese im Jahre 1993 seitens der Z.________-Stiftung
die Rentenzahlungen übernommen habe. Da der Beklagte seit 1988 pensioniert
sei, könne sie über die Zahlung weiterer Altersleistungen keine Angaben
machen. Nun geht es in diesem Zusammenhang aber um die Austrittsleistung nach
Art. 122 ZGB und nicht um allfällige über die laufende Rente hinausgehende
Zahlungen. Der erstinstanzliche Richter wäre somit gehalten gewesen, seine
Aufforderung vom 17. Juli 2001 an den Beklagten, die Austrittsleistung
mitzuteilen, zu erneuern, oder direkt bei der Versicherung nachzufragen,
welche Unterlagen denn zur Rentenberechnung noch vorhanden seien. Das Gericht
ist nämlich von Bundesrechts wegen verpflichtet, den zur Festsetzung der
Entschädigung nach Art. 124 ZGB massgeblichen Sachverhalt von Amtes wegen zu
ermitteln (unveröffentlichtes Urteil der II. Zivilabteilung 5C.276/2001 vom
1. Mai 2002, E. 4b mit Hinweis auf Sutter/Freiburghaus, Kommentar zum neuen
Scheidungsrecht, Art. 124 ZGB, N. 17).

Ob die Austrittsleistung allenfalls doch noch festgestellt werden könnte,
liess die Vorinstanz schliesslich offen, da es ihrer Meinung nach darauf
nicht ankomme. Massgebend seien die wirtschaftlichen Verhältnisse der
Parteien. Diesem Standpunkt kann nach dem vorangehend Gesagten (E. 2) aus
grundsätzlichen Überlegungen nicht zugestimmt werden.

2.2 Zu prüfen bleibt, ob der angefochtene Entscheid im Ergebnis gleichwohl
angemessen ist. Die Vorinstanz hat die im Jahre 1992 erfolgte Übertragung der
ehelichen Liegenschaft an die Klägerin zur Beurteilung der wirtschaftlichen
Verhältnisse der Parteien herangezogen. Vorerst hat sie den damaligen und den
aktuellen Wert des Einfamilienhauses in X.________ festgestellt (Fr.
250'000.-- bzw. Fr. 350'000.--). In Berücksichtigung der grundpfändlichen
Belastung des Hauses (Fr. 30'000.--) und der Veräusserung eines weiteren
Bestandteils ehelichen Vermögens durch den Beklagten (Fr. 30'000.--) ist sie
zum Schluss gelangt, dass der Beklagte der Klägerin die Hälfte seines
güterrechtlichen Anspruchs geschenkt hatte (Fr. 100'000.-- bzw. aktuell Fr.
140'000.--). Der Klägerin sei ein Verkauf der Liegenschaft zuzumuten, womit
ihr bei einer Verzinsung zu 4.5 % ein monatlicher Vermögensertrag von Fr.
1'200.-- zufliesse. Obwohl bei einem Auszug aus dem Einfamilienhaus die
Wohnkosten anstiegen, bleibe ihr gleichwohl noch ein Überschuss. Würde die
Klägerin eine Entschädigung in der Höhe der halben BVG-Rente des Beklagten
zugesprochen erhalten, entspräche dies angesichts der statistischen
Lebenserwartung des Beklagten einem Kapitalbetrag von Fr. 53'000.--. Mit der
Schenkung von Fr. 140'000.-- habe der Beklagte der Klägerin bereits Fr.
87'000.-- mehr zukommen lassen, als der Klägerin heute aus einen allfälligen
Vorsorgeausgleich zukommen könnte. Angesichts der güterrechtlichen
Auseinandersetzung erweise sich somit ein Vorsorgeausgleich als unbillig.

2.3 Die Auffassung der Vorinstanz, dass die Vermögensverhältnisse der
Parteien zu berücksichtigen sind, ist zutreffend. Damit hat sie zu Recht das
Ergebnis der güterrechtlichen Auseinandersetzung in die Beurteilung der
wirtschaftlichen Verhältnisse einbezogen. Allerdings hat sie sich auf das
Güterrecht beschränkt und schweigt sich zur aktuellen Vermögenssituation und
sich daraus allenfalls ergebenden Einkünften des Beklagten aus, was nicht
angeht. Immerhin ergibt sich aus den Beilagen zum Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege, dass er am 1. Januar 1999 über ein Vermögen in der Höhe von
rund Fr. 53'000.-- verfügte. Aufgrund seiner bereits  erwähnten
Instruktionspflicht hätte das Gericht diesen Sachverhalt prüfen müssen. Im
Weitern werden bei der Berechnung der Lebenshaltungskosten des Beklagten
Auslagen berücksichtigt, (Fr. 200.-- an Nebenkosten für einen Wohnanteil),
die angesichts der bescheidenen finanziellen Verhältnisse der Parteien
grosszügig erscheinen. Das Existenzminimum der Klägerin weist im jetzigen
Zeitpunkt bereits einen Fehlbetrag von Fr. 250.-- auf, welcher sich durch die
Miete einer Wohnung erhöhen wird. Die neuen Einnahmen in Gestalt des
Vermögensertrages sollen Fr. 1'200.-- betragen. Ohne weitere Begründung wird
der Klägerin zugemutet, daraus ihre künftigen Wohnkosten zu bestreiten und
gleichzeitig noch einen (nicht bezifferten) Überschuss zu erwirtschaften. Aus
diesen Überlegungen ergibt sich, dass die wirtschaftliche Situation der
Parteien zumindest nicht vollständig dargestellt ist. Gerade in bescheidenen
Verhältnissen fallen naturgemäss auch geringere Einnahmen und Ausgaben ins
Gewicht, um eine Gesamtschau der finanziellen Lage der Parteien zu erlangen.
Im Weitern geht aus dem Urteil nicht hervor, welche Bedeutung der doch recht
langen Ehedauer zukommen soll.

2.4 Ob die Zusprechung einer Entschädigung nach Art. 124 ZGB unbillig wäre
und gegebenenfalls in welcher Höhe, kann angesichts der beschränkten
Sachverhaltsfeststellungen im jetzigen Zeitpunkt nicht entschieden werden.
Auf jeden Fall kann aufgrund der aktuellen Aktenlage weder von einem Verzicht
der Klägerin auf eine Entschädigung noch auf eine rechtsmissbräuchliche
Geltendmachung geschlossen werden, wie der Beklagte meint. Der angefochtene
Entscheid ist demnach aufzuheben und die Sache zur Aktenergänzung und neuer
Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 64 Abs. 1 OG).

3.
Die Berufung erweist sich damit als erfolgreich. Bei diesem Ausgang des
Verfahrens wird der Beklagte kostenpflichtig (Art. 156 Abs. 1 OG). Sein
Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann infolge fehlender Bedürftigkeit
nicht gutgeheissen werden. Gemäss Veranlagungsverfügung 2001/2002 erzielte er
im Jahre 1999/2000 ein Einkommen von monatlich Fr. 2'678.-- und weist ein
Vermögen von Fr. 33'538.-- aus. Selbst bei Berücksichtigung seiner eher hohen
Wohn- und Nebenkosten und der (allenfalls staatlich subventionierten)
Krankenversicherung beträgt sein Notbedarf gerundet Fr. 2'000.-- (Fr.
1'100.-- Grundbetrag, Fr. 700.-- Wohnung, Fr. 115.-- Krankenkasse, Fr. 85.--
Selbstbehalte und Diverses). Damit besteht ein Überschuss, der es erlaubt,
ihm die Tragung der Gerichtskosten und die Leistung einer dem Aufwand der
Klägerin entsprechenden Parteientschädigung zuzumuten, ohne dass die
wirtschaftlichen Verhältnisse des im Konkubinat lebenden Beklagten zum
jetzigen Zeitpunkt noch zu prüfen sind.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Berufung wird gutgeheissen, das Urteil des Appellationshofs des Kantons
Bern vom 27. Mai 2002 aufgehoben und die Sache zur Ergänzung des Sachverhalts
im Sinne der Erwägungen und zu neuem Entscheid an die Vorinstanz
zurückgewiesen.

2.
Das Gesuch des Beklagten um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wird
abgewiesen, dasjenige der Klägerin wird gegenstandslos.

3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beklagten auferlegt.

4.
Der Beklagte hat die Klägerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr.
1'500.-- zu entschädigen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Appellationshof des Kantons Bern, I.
Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 1. Oktober 2002

Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: