Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilabteilung 5C.139/2002
Zurück zum Index II. Zivilabteilung 2002
Retour à l'indice II. Zivilabteilung 2002


5C.139/2002 /bmt

Urteil vom 26. September 2002
II. Zivilabteilung

Bundesrichter Bianchi, Präsident,
Bundesrichterin Hohl, Ersatzrichter Riemer,
Gerichtsschreiber Schett.

A.________, in X.________,
Kläger und Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Thomas
Kaiser, Marktgasse 61, 4310 Rheinfelden,

gegen

B.________, in Y.________,
Beklagter und Beschwerdegegner.

Art. 68 Abs. 1 lit. e OG (Unterhaltsbeiträge, vorläufige Massnahmen;
internationale Zuständigkeit),

Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau,
3. Zivilkammer, vom 3. Mai 2002.

Sachverhalt:

A.
Mit Klage vom 24. September 2001 stellte A.________ beim Gerichtspräsidium
Rheinfelden (AG) im Hauptpunkt das Begehren, es sei B.________ vorsorglich zu
verpflichten, A.________ ab 1. August 2001 für die Dauer des Hauptverfahrens
betreffend Unterhaltsbeitrag (Art. 276 ff. ZGB) monatlich im Voraus Fr.
1'800.-- zuzüglich allfällig bezogene Ausbildungszulagen zu bezahlen. Mit
Verfügung vom 19. November 2001 verpflichtete der Gerichtspräsident
B.________, A.________ mit Wirkung ab 1. August 2001 für die Dauer des
Hauptprozesses einen monatlich vorschüssigen Unterhaltsbeitrag von Fr.
1'475.-- zu bezahlen. Eine dagegen von B.________ beim Obergericht des
Kantons Aargau erhobene Beschwerde wurde wegen örtlicher Unzuständigkeit des
erstinstanzlichen Richters mit Urteil vom 3. Mai 2002 gutgeheissen.

B.
A.________ führt gegen den Entscheid des Obergerichts Nichtigkeitsbeschwerde,
mit welcher er Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und Rückweisung der
Sache zu neuer Entscheidung beantragt.

C.
B.________ schliesst in seiner Beschwerdeantwort vom 11. September 2002 auf
Abweisung des Rechtsmittels.

D.
B.________ hat gegen das Urteil des Obergerichts staatsrechtliche Beschwerde
mit Bezug auf Ziff. 3 des Urteilsdispositivs (Parteientschädigung) erhoben.
Mit Beschluss vom heutigen Tag hat das Bundesgericht die staatsrechtliche
Beschwerde als gegenstandslos abgeschrieben.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Vorsorgliche Massnahmen nach Art. 281 ZGB können nicht mit Berufung
angefochten werden (BGE 117 II 127 unveröffentlichte E. 1a;
unveröffentlichtes Urteil 5P.280/2002 des Bundesgerichts vom 7. Oktober 2002,
E. 1). Da es vorliegend um eine Zuständigkeitsfrage geht, ist aufgrund von
Art. 68 Abs. 1 lit. e OG auf die Nichtigkeitsbeschwerde einzutreten
(Messmer/Imboden, Die Eidgenössischen Rechtsmittel in Zivilsachen, Rz. 131 S.
181/182, mit Hinweisen; Hegnauer, Berner Kommentar, Bern 1997, N. 51 zu Art.
281-284 ZGB).

2.
2.1 Das Obergericht ist davon ausgegangen, sowohl der Beschwerdegegner als
auch der Beschwerdeführer lebten grundsätzlich in der Schweiz. Da sich aber
der Beschwerdeführer zu Studienzwecken in Freiburg im Breisgau aufhalte und
dort auch über eine eigene Wohnung verfüge, liege ein Sachverhalt mit
Auslandberührung vor. Aufgrund von Art. 2 Abs. 1 des daher anwendbaren
Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung
gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 16. September
1988 (SR 0.275.11; LugÜ) richte sich die örtliche Zuständigkeit nach Art. 79
Abs. 1 IPRG. Das bedeute, dass für die vorliegende Klage die Schweizerischen
Gerichte am gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes oder am Wohnsitz des beklagten
Elternteils zuständig seien. Aufgrund von Art. 20 Abs. 1 lit. b IPRG habe der
Beschwerdeführer seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Freiburg im Breisgau
(Deutschland); dass er seinem Lebensmittelpunkt und somit seinen Wohnsitz im
Sinne von Art. 24 ff. ZGB allenfalls in X.________ (Bezirk Rheinfelden/AG)
habe, ändere daran nichts. Daraus folge, dass die Klage entweder in Freiburg
im Breisgau oder dann am Wohnsitz des Beschwerdegegners (Y.________/BL) zu
erheben gewesen wäre.

Demgegenüber macht der Beschwerdeführer - dessen Nichtigkeitsbeschwerde sich
auf den erwähnten Art. 68 Abs. 1 lit. e OG stützt - geltend, Art. 2 Abs. 1
LugÜ sei von vornherein nicht anwendbar, da beide Parteien Wohnsitz in der
Schweiz hätten, während es auf den studienbedingten Wochenaufenthalt des
Beschwerdeführers in Deutschland nicht ankomme; anwendbar sei vielmehr Art.
17 lit. a GestG, weshalb das Bezirksgericht Rheinfelden (AG) zuständig sei;
eventualiter seien auch Art. 79 in Verbindung mit Art. 20 IPRG unrichtig
angewendet worden, weil der Beschwerdeführer in X.________ auch gewöhnlichen
Aufenthalt habe.

2.2 Da der hier gegebene Sachverhalt auf alle Fälle eine gewisse
Auslandbeziehung hat, ist vorab die Frage der Anwendbarkeit des LugÜ zu
überprüfen, denn gemäss Art. 1 Abs. 2 IPRG gilt der Vorrang der
Staatsverträge. Ob das LugÜ zur Anwendung gelangt, ergibt sich nicht aus
einer entsprechenden allgemeinen Norm dieses Abkommens, sondern ist anhand
seiner einzelnen Zuständigkeitsbestimmungen zu prüfen (Urteil des
Bundesgerichts vom 6. Mai 1997 in: SemJud 1998 S. 443; Schwander,
Gerichtszuständigkeiten im Lugano-Übereinkommen, in: Das
Lugano-Übereinkommen, St. Gallen 1990, S. 61/62). Dabei fällt vorliegend - im
Sinne eines Vorbehaltes zur allgemeinen Zuständigkeit am Wohnsitz der
beklagten Partei (Art. 2 Abs. 1 LugÜ) - Art. 5 Ziff. 2 Halbsatz 1 LugÜ in
Betracht. Nach dieser Bestimmung kann eine Person, die ihren Wohnsitz im
Hoheitsgebiet eines Vertragsstaates hat, in einem anderen Vertragsstaat
verklagt werden, wenn es sich um eine Unterhaltssache handelt; dabei ist das
Gericht zuständig, an dem der Unterhaltsberechtigte seinen Wohnsitz oder
seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Nur Letzteres ist somit massgeblich und
im Folgenden zu prüfen.

Das Obergericht ist davon ausgegangen, der Beschwerdeführer habe im Frühjahr
2001 in Freiburg im Breisgau ein Studium aufgenommen und halte sich seither
dort während der Woche zu Studienzwecken auf, wohingegen er nach seiner
Darstellung jeweils an den Wochenenden zu seiner Mutter nach X.________
zurückkehre, weil er dort seinen Lebensmittelpunkt habe. Faktisch halte er
sich aber grossmehrheitlich in Freiburg im Breisgau auf, verfüge dort auch
über eine eigene Wohnung und habe mit dem Beginn seines Studiums in
beruflicher und - wenn auch in beschränktem Masse - sozialer Hinsicht einen
gewissen Grad an Bindung erreicht. Es sei deshalb von einem gewöhnlichen
Aufenthalt in Freiburg im Breisgau auszugehen; dass der Beschwerdeführer
seinen Lebensmittelpunkt und somit seinen Wohnsitz im Sinne von Art. 24 ff.
ZGB allenfalls in X.________ habe, ändere daran nichts.

Ob eine Partei Wohnsitz im Hoheitsgebiet des Vertragsstaates hat, dessen
Gerichte angerufen werden, bestimmt sich nach dem Recht des Forums (Art. 52
Abs. 1 LugÜ). Kennt dieses Recht für "internationale" Sachverhalte einen
speziellen Wohnsitzbegriff - wie die Schweiz in Art. 20 Abs. 1 lit. a IPRG -,
ist dieser massgebend (Schwander, a.a.O., S. 66). Letzteres muss auch für den
Begriff des "gewöhnlichen Aufenthaltes" gelten (so auch BGE 117 II 334 E. 4
betreffend das Verhältnis zwischen Art. 1 MSA und Art. 20 Abs. 1 lit. b IPRG;
im Ergebnis gleich Schwander, a.a.O., S. 71/72, welcher in diesem
Zusammenhang betreffend das LugÜ auf die Haager Unterhaltsabkommen verweist).
Dabei ist in vorliegendem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass sowohl beim
Wohnsitz als auch beim gewöhnlichen Aufenthalt massgebend ist, wo sich der
Schwerpunkt der Lebensverhältnisse befindet; indessen wird beim gewöhnlichen
Aufenthalt weniger auf die subjektiven Momente, insbesondere den Willen,
abgestellt als vielmehr stärker auf den äusseren Anschein (BGE 117 II 334 E.
4a S. 337). Das bedeutet, dass der Beschwerdeführer in X.________ nicht nur
seinen Wohnsitz, sondern auch seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, denn die
regelmässige Rückkehr (an den Wochenenden) zu seiner Mutter bewirkt, dass er
dort auch äusserlich den Schwerpunkt seiner Lebensverhältnisse hat und nicht
etwa nur nach Massgabe seines Willens. Dabei darf die Frage des Schwerpunktes
der Lebensverhältnisse auch bei der Auslegung von Art. 20 IPRG nicht gänzlich
losgelöst vom internen Schweizerischen Recht beantwortet werden. Dieses
verneint bei Studierenden, die regelmässig an den Wochenenden zu ihren Eltern
zurückkehren, einen solchen "Schwerpunkt" am Studienort und bejaht ihn für
den Wohnsitz der Eltern (vgl. BGE 82 III 12 ff.; Riemer, Personenrecht des
ZGB, 2. Auflage, Bern 2002, N. 203).

Hat aber der Beschwerdeführer weder Wohnsitz noch gewöhnlichen Aufenthalt im
Ausland, so ist vorliegend das LugÜ von vornherein nicht anwendbar, da eine
Klage des Unterhaltsberechtigten vor einem ausländischen Gericht gegen den in
der Schweiz wohnhaften Beschwerdegegner (Art. 5 Ziff. 2 LugÜ) nicht in
Betracht fällt.

2.3 Das bedeutet, dass - mangels rechtlich relevantem internationalem
Verhältnis (vgl. Art. 1 Abs. 1 IPRG) - auch die Anwendbarkeit des IPRG
ausgeschlossen werden muss (vgl. Art. 79 i.V.m. Art. 20 IPRG).

2.4 Mithin richtet sich vorliegend die örtliche Zuständigkeit nach dem
Gerichtsstandsgesetz (vgl. Art. 1 Abs. 1 GestG). Für Unterhaltsklagen der
Kinder gegen ihre Eltern ist zwingend das Gericht am Wohnsitz der Kinder
zuständig (Art. 17 lit. a GestG; vgl. dazu Fabienne Hohl, in: Das
Gerichtsstandsgesetz/La loi sur les fors [Hrsg.:
Leuenberger/Pfister-Liechti], S. 57). Gemäss Art. 33 GestG ist für den Erlass
vorsorglicher Massnahmen das Gericht am Ort, an dem die Zuständigkeit für die
Hauptsache gegeben ist, zwingend zuständig. Zu den vorsorglichen Massnahmen
nach dieser Norm zählen auch diejenigen nach Art. 285 ff. ZGB
(Kellerhals/Güngerich, in: Kommentar zum Gerichtsstandsgesetz [Hrsg.:
Kellerhals/von Werdt/Güngerich], Bern 2001, N. 2 zu Art. 33), weshalb der
Beschwerdeführer zu Recht an dem für seinen Wohnsitz (X.________) zuständigen
Gericht (Rheinfelden) geklagt hat.

3.
Unter diesen Umständen ist die Nichtigkeitsbeschwerde gutzuheissen und das
angefochtene Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, 3. Zivilkammer, vom
3. Mai 2002 aufzuheben. Da die Sache spruchreif ist, ist über die
Gerichtsstandsfrage zu entscheiden (Art. 73 Abs. 2 OG, Halbsatz 2): In erster
Instanz ist das Bezirksgericht Rheinfelden (AG) zur materiellen Behandlung
des Rechtsstreites örtlich zuständig (die gerichtsinterne Zuständigkeit
richtet sich nach aargauischem Recht).

4.
Ausgangsgemäss wird der Beschwerdegegner für das vorliegende Verfahren
kosten- und entschädigungspflichtig (Art. 156 Abs. 1 und Art. 159 Abs. 2 OG).
Damit wird das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege
(einschliesslich unentgeltlicher Rechtsbeistand) gegenstandslos, ausgenommen
bezüglich allfälliger Uneinbringlichkeit der Parteientschädigung (Art. 152
Abs. 2 OG); in diesem Umfang ist es gutzuheissen. Hinsichtlich der Kosten-
und Entschädigungsfolgen des kantonalen Verfahrens ist die Sache zu neuer
Entscheidung an das Obergericht zurückzuweisen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
1.1 In Gutheissung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das Urteil des
Obergerichts des Kantons Aargau, 3. Zivilkammer, vom 3. Mai 2002 aufgehoben.

1.2 Es wird festgestellt, dass in erster Instanz das Bezirksgericht
Rheinfelden AG zur materiellen Entscheidung des Rechtsstreites örtlich
zuständig ist.

1.3 Im Übrigen wird die Sache zur Neuregelung der Kosten- und
Entschädigungsfolgen des kantonalen Verfahrens an die Vorinstanz
zurückgewiesen.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 1'000.-- wird dem Beschwerdegegner auferlegt.

3.
Der Beschwerdegegner hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1'000.-- zu entschädigen; im Falle der Uneinbringlichkeit
wird diese Parteientschädigung dem unentgeltlichen Rechtsbeistand des
Beschwerdeführers, Rechtsanwalt lic. iur. Thomas Kaiser, Rheinfelden, aus der
Bundesgerichtskasse ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, 3.
Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 26. September 2002

Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: