Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilabteilung 5C.102/2002
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5C.102/2002 /bmt

Urteil vom 31. Mai 2002
II. Zivilabteilung

Bundesrichter Bianchi, Präsident,
Bundesrichterinnen Escher, Hohl,
Gerichtsschreiber Zbinden.

M.S.________,
Berufungsklägerin, vertreten durch Fürsprecher Bruno Habegger, Brauihof 2,
Postfach 530, 4902 Langenthal.

gegen

Kantonale Rekurskommission für fürsorgerische Freiheitsentziehungen des
Kantons Bern, Hochschulstrasse 17, Postfach 7475, 3001 Bern.

Entzug der Obhut

Berufung gegen den Entscheid der kantonalen Rekurskommission für
fürsorgerische Freiheitsentziehungen des Kantons Bern vom 11. März 2002
Sachverhalt:

A.
M.S.________ ist die Mutter von J.S.________ (geb. 1987), die seit Mai 2001
dem Schulunterricht fernblieb und auch sonst negativ auffiel. Am 9. Oktober
2001 hob die Vormundschafts- und Fürsorgekommission von X.________
(nachfolgend Fürsorgekommission) die Obhut der Mutter über ihre Tochter in
Anwendung von Art. 310 Abs. 1 ZGB auf, entzog der Tochter fürsorgerisch die
Freiheit und wies sie in ein geeignetes Schulheim ein.

Da sich die Tochter im Heim nicht integrieren konnte und ein renitentes
Verhalten an den Tag legte, wurde der Heimaufenthalt am 22. November 2001
beendet. Die Tochter kehrte zu ihrer Mutter zurück.

Am 6. Februar 2002 trat die Tochter freiwillig in die Beobachtungsstation der
Viktoria Stiftung in Richigen (nachfolgend Stiftung) ein, die sie jedoch
bereits am 15. Februar 2002 ohne Erlaubnis verliess.

B.
Mit Verfügung vom 19. Februar 2002 bestätigte die Fürsorgekommission die am
9. Oktober 2001 getroffenen Massnahmen (den Entzug der Obhut sowie den
fürsorgerischen Freiheitsentzug; Dispositiv-Ziff. 1 und 2), wies die Tochter
an, in die Stiftung zurückzukehren (Dispositiv-Ziff. 3) und drohte ihr die
polizeiliche Überführung an, falls sie der Aufforderung nicht freiwillig
Folge leiste (Dispositiv-Ziff. 4). Gestützt auf Art. 314 Abs. 2 ZGB entzog
sie einer allfälligen Beschwerde die aufschiebende Wirkung (Dispositiv-Ziff.
5).
Den gegen diesen Entscheid erhobenen Rekurs der Mutter wies die kantonale
Rekurskommission für fürsorgerische Freiheitsentziehungen des Kantons Bern
(nachfolgend Rekurskommission) am 11. März 2002 ab und erkannte die Tochter
werde vom 19. Februar 2002 an für drei Monate zur Abklärung in die Stiftung
eingewiesen.

C.
Die Mutter hat gegen diesen Entscheid eidgenössische Berufung eingereicht;
sie beantragt, der mit Verfügung der Fürsorgekommission vom 19. Februar 2002
angeordnete fürsorgerische Freiheitsentzug sowie der mit Entscheid vom 11.
März 2002 der Rekurskommission vom 19. Februar 2002 an auf drei Monate
befristete fürsorgerische Freiheitsentzug für die Tochter seien aufzuheben;
der Berufung sei aufschiebende Wirkung zu erteilen und der Mutter für das
bundesgerichtliche Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung zu gewähren.

Die Rekurskommission hat keine Gegenbemerkungen angebracht.

Das Gesuch um aufschiebende Wirkung ist am 16. Mai 2002 als gegenstandslos
erklärt worden.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Angefochten ist im vorliegenden Fall der Entzug der Obhut sowie die
Unterbringung der minderjährigen Tochter der Berufungsklägerin in einer
Anstalt (vgl. E. 3 und 3.1), wogegen die Berufung ergriffen werden kann (Art.
314a Abs. 1 i.V.m. Art. 397a ff. ZGB und Art. 44 lit. d OG).

1.2 Die Berufung ist in der Regel erst gegen Endentscheide der oberen
kantonalen Gerichte oder anderer Spruchbehörden zulässig, die nicht durch ein
ordentliches kantonales Rechtsmittel angefochten werden können (Art. 48 Abs.
1 OG). Diese Voraussetzung erfüllt einzig der Entscheid der Rekurskommission,
nicht aber jener der Fürsorgekommission, der im Übrigen, was die Einweisung
in eine Anstalt anbelangt, durch die Anordnungen der Rekurskommission ersetzt
worden ist.

1.3 Als Mutter der von dieser Massnahme Betroffenen war die Berufungsklägerin
Partei im kantonalen Verfahren (Art. 314a Abs. 1 i.V.m. Art. 397 d Abs. 1
ZGB). Damit ist sie zur Berufung legitimiert (Urteil 5C.84/2001 vom 7. Mai
2001, E. 1d).

2.
Unmündigen Personen, die unter elterlicher Gewalt stehen, können nach
Massgabe der Art. 310 Abs. 1 i.V.m. Art. 314a Abs. 1 ZGB in einer Anstalt
untergebracht werden, wenn ihrer Gefährdung nicht anders begegnet werden
kann. Aufgrund des Wortlautes von Art. 310 Abs. 1 ZGB ("nicht anders")
rechtfertigt sich die Aufhebung der Obhut und die Einweisung in eine Anstalt
nur, wenn die Gefährdung des Kindes weder durch geeignete Massnahmen nach
Art. 307 ZGB noch durch eine Beistandschaft nach Art. 308 ZGB allein
abgewendet werden kann (Hegnauer, Grundriss des Kindesrechts, 5. Aufl. 1999,
S. 214 Rz. 27.36; Breitschmid, Basler Kommentar, N. 3 zu Art. 310 und N. 8 zu
Art. 307 ZGB; vgl. auch Urteil C.41/1986 vom 7. Mai 1986, E. 4a).

3.
Die Berufungsklägerin macht zusammengefasst geltend, ihre Tochter sehe ein,
dass sie der Hilfe bedürfe; diese könne ihr allerdings durch eine ambulante
psychologische Betreuung gegeben werden, wozu sich die langjährige
Psychologin der Berufungsklägerin und ein weiterer Arzt denn auch bereit
erklärt hätten. Mit der Unterbringung in einer Anstalt sei der Tochter nicht
geholfen, zumal sie sich vor der Einschliessung fürchte und deshalb eine
erfolgreiche Entwicklung der Situation verhindere. Die Einweisung erübrige
sich überdies, da sie (die Berufungsklägerin) persönlich ein Umfeld bieten
könne, welches für eine gesunde Entwicklung der Tochter Gewähr biete. Die
Vorinstanz habe sodann auch gar nicht geprüft, ob andere Massnahmen in
Betracht kommen könnten.

3.1 Aus den Darlegungen der Berufungsklägerin ergibt sich, dass diese eine
Gefährdung ihrer Tochter nicht bestreitet und sich auch darüber im Klaren
ist, dass Massnahmen zu deren Schutz getroffen werden müssen. Auf die
entsprechenden Ausführungen im angefochtenen Entscheid kann daher verwiesen
werden (zum Verweis: vgl. Art. 36a Abs. 3 OG). Die Berufungsklägerin wendet
sich indes gegen den Entzug der Obhut und die damit verbundene Einweisung in
eine Anstalt und möchte diese Massnahmen durch weniger einschneidende ersetzt
wissen. Die Rekurskommission hat nun allerdings festgestellt, der
Obhutsentzug gemäss Verfügung der Fürsorgekommission vom 9. Oktober  2001 sei
in Rechtskraft erwachsen, weshalb man sich fragen kann, ob eine Überprüfung
der Rechtmässigkeit der Massnahme zum jetzigen Zeitpunkt noch zulässig ist.
Nun sah sich die Vorinstanz trotz der angeblichen Rechtskraft zur
Feststellung veranlasst, dass sich der Entzug der Obhut nach wie vor
rechtfertige, und hat die entsprechenden Gründe ausführlich dargelegt. Aus
den tatsächlichen Feststellungen der Rekurskommission ergibt sich zudem, dass
die Tochter im Anschluss an ihren Austritt aus der Beobachtungsstation der
Stiftung im Einverständnis mit den Behörden zur Berufungsklägerin
zurückgekehrt ist. Es rechtfertigt sich daher die Frage des Obhutsentzugs zu
prüfen.

3.2 Nach den tatsächlichen, für das Bundesgericht verbindlichen
Feststellungen (Art. 63 Abs. 2 OG) ist die Mutter durch das Verhalten ihrer
Tochter überfordert; sie kann ihr keinen Halt oder stützende Strukturen geben
und ist seit langem nicht mehr in der Lage, die mit der Obhut verbundene
Verantwortung zu tragen. Nach den weiteren Ausführungen der Vorinstanz
benötigt die Tochter klare Anweisungen, stützende und übersichtliche
Strukturen, gültige Regeln sowie eine verlässliche  Ordnung, was ihr die
Mutter nicht bieten kann. Angesichts der im vorliegenden Fall nicht
bestrittenen Gefährdung des Wohls der Tochter spricht all dies für den Entzug
der Obhut. Entgegen der Auffassung der Berufungsklägerin hat die
Rekurskommission sehr wohl andere Massnahmen geprüft, diese aber als nicht
erfolgsversprechend verworfen. So wurde insbesondere die von der
Berufungsklägerin angesprochene ambulante Therapie als untaugliches Mittel
betrachtet, da sie die bei der Tochter festgestellte Fehlentwicklung nicht
innert nützlicher Frist aufzufangen vermag und sich abgesehen davon auch als
ungenügend erweist, zumal da die Berufungsklägerin auf Grund ihrer eigenen
Labilität nicht in der Lage ist, verlässlich zu kooperieren und ihrer Tochter
den für eine ambulante Therapie unerlässlichen begleitenden Halt zu geben.
Mit diesen Ausführungen der Vorinstanz setzt sich die Berufungsklägerin nicht
auseinander und sie legt insbesondere auch nicht rechtsgenüglich dar,
inwiefern die Vorinstanz unter den gegebenen tatsächlichen Verhältnissen
Bundesrecht verletzt hat (Art. 55 Abs. 1 lit. c OG; BGE 116 II 745 E. 3 S.
748 f. mit Hinweisen). Sodann bleibt auch unerörtert, wo anders als in einer
Anstalt die Tochter bei den gegebenen tatsächlichen Verhältnissen hätte
untergebracht werden können.

4.
Damit ist die Berufung abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann;
dies führt zur Bestätigung des angefochtenen Urteils. Bei diesem Ausgang des
Verfahrens wird die Berufungsklägerin kostenpflichtig (Art. 156 Abs. 1 OG).

Da sich die Berufung, so wie sie begründet worden ist, von Anfang an als
aussichtslos erwiesen hat, kann dem Gesuch der Berufungsklägerin um
unentgeltliche Rechtspflege nicht entsprochen werden (Art. 152 Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Berufung wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist, und der
Entscheid der kantonalen Rekurskommission für fürsorgerische
Freiheitsentziehungen des Kantons Bern vom 11. März 2002 wird bestätigt.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 1'000.--  wird der Berufungsklägerin auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird der Berufungsklägerin, der Beiständin (Frau L.________)
von J.S.________, und der kantonalen Rekurskommission für fürsorgerische
Freiheitsentziehungen des Kantons Bern schriftlich mitgeteilt

Lausanne, 31. Mai 2002

Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: