Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Zivilabteilung 4P.94/2002
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4P.94/2002 /rnd

Urteil vom 27. Juni 2002

I. Zivilabteilung

Bundesrichterin und Bundesrichter Walter, Präsident,
Klett, Nyffeler,
Gerichtsschreiber Mazan.

X. ________ AG
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Werner Otzenberger,
Bruchstrasse 54, Postfach 7643, 6000 Luzern 7,

gegen

A.________,
Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Hans-Beat Ulmi, Weggisgasse
29, Postfach, 6000 Luzern 5,
Obergericht des Kantons Luzern, I. Kammer,

Art. 9 BV etc. (materielle Rechtskraft)

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons
Luzern, I. Kammer, vom 11. Februar 2002

Sachverhalt:

A.
A. ________ (im Folgenden: Beschwerdegegner) war Arbeitnehmer der X.________
AG (im Folgenden: Beschwerdeführerin). Nach Beendigung des
Arbeitsverhältnisses verlangte der Beschwerdegegner von der
Beschwerdeführerin Fr. 14'412.55 (brutto Fr. 15'431.--, minus 6,6%
Lohnabzug). Diese Forderung setzte sich zusammen aus einem Ferienlohnguthaben
(brutto Fr. 965.75), einem Anteil am 13. Monatslohn (brutto Fr. 3'541.65)
sowie einem Guthaben aus Überstunden (brutto Fr. 10'923.60). An der
Verhandlung vom 23. Mai 1996 vor dem Arbeitsgericht reduzierte der
Beschwerdegegner seine Ferienlohnforderung auf Fr. 381.80. In diesem Umfang
anerkannte die Beschwerdeführerin die Forderung. Den eingeklagten Anspruch
bezüglich der Überstunden liess der Beschwerdegegner fallen. Das
Arbeitsgericht fällte darauf am 19. August 1997 folgendes Urteil:
"1. Die [Beschwerdeführerin] hat dem [Beschwerdegegner] Fr. 381.-- brutto zu
bezahlen.
2. Im übrigen wird die Klage abgewiesen, soweit sie nicht durch Klagerückzug
oder Klageanerkennung erledigt ist. [...]"
Gegen dieses Urteil erhob der Beschwerdegegner Nichtigkeitsbeschwerde beim
Obergericht des Kantons Luzern. Mit Entscheid vom 25. Mai 1998 hiess das
Obergericht die Beschwerde im Sinn der Erwägungen gut, soweit darauf
einzutreten war, und wies die Streitsache zur Neubeurteilung an das
Arbeitsgericht zurück. Soweit sich die Beschwerde gegen Ziff. 2 des
Dispositivs - d.h. die Erledigung zufolge Klagerückzugs - richtete, wurde
darauf nicht eingetreten.

B.
Vor Arbeitsgericht machte der Beschwerdegegner erneut eine
Überstundenforderung im (Brutto)Betrag von Fr. 10'923.60 geltend. Da der
Beschwerdegegner im ersten Verfahren vor Arbeitsgericht diese Forderung
fallen gelassen hatte und die Klage insoweit als durch Rückzug erledigt
abgeschrieben worden war, erhob die Beschwerdeführerin die Einrede der
abgeurteilten Sache. Das Arbeitsgericht hat diese Einrede verworfen und die
Beschwerdeführerin mit Urteil vom 20. Dezember 2000 verpflichtet, dem
Beschwerdegegner Fr. 6'032.25 zu bezahlen. Die von der Beschwerdeführerin
dagegen erhobene Appellation wies das Obergericht des Kantons Luzern mit
Urteil vom 11. Februar 2002 ab und verpflichtete die Beschwerdeführerin zur
Bezahlung von Fr. 6'032.25.

C.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 12. April 2002 beantragt die
Beschwerdeführerin dem Bundesgericht, das Urteil des Obergerichtes des
Kantons Luzern vom 11. Februar 2002 sei aufzuheben.
Das Obergericht beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf
einzutreten sei.
Der Beschwerdegegner schliesst auf Abweisung der Beschwerde.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Vor Obergericht war eine Zivilrechtsstreitigkeit mit einem Streitwert von

Fr. 6'032.25 zu beurteilen. Da der erforderliche Streitwert von Fr. 8'000.--
für eine Berufung nicht erreicht ist (Art. 46 OG), steht nur eine
staatsrechtliche Beschwerde zur Verfügung (Art. 84 Abs. 2 OG).

2.
Im ersten Verfahren vor Arbeitsgericht liess der Beschwerdeführer die
eingeklagte Forderung insoweit fallen, als sie sich auf das behauptete
Überstundenguthaben bezog. Diesbezüglich schrieb das Arbeitsgericht die Klage
mit Urteil vom 19. August 1997 als durch "Rückzug" erledigt ab. Daraus
schliesst die Beschwerdeführerin, dass der im zweiten Verfahren vor
Arbeitsgericht erneut eingeklagte Anspruch auf Überstundenentschädigung
abgeurteilte Sache (res iudicata) sei. Das Obergericht geht demgegenüber
gestützt auf § 113 Abs. 3 ZPO davon aus, dass ein Erledigungsentscheid
zufolge "Klagerückzugs" nicht in materielle Rechtskraft erwachse; nur
Erledigungsentscheide zufolge "Klageverzichts" erlangten Rechtskraftwirkung.
Diese Auffassung hält die Beschwerdeführerin für willkürlich. Im Wesentlichen
wird geltend gemacht, dass sich die materielle Rechtskraft nicht nach
kantonalem Prozessrecht, sondern nach Bundesprozessrecht richte.

3.
3.1 Materielle Rechtskraft bedeutet, dass ein zwischen zwei Parteien
ergangenes Urteil in einem späteren Prozess verbindlich ist. Einer
identischen oder gegenteiligen Klage steht die Bindungswirkung der
abgeurteilten Sache entgegen; gegebenenfalls ist das Ersturteil präjudiziell
für Vorfragen in einem Zweitverfahren. Nach konstanter Rechtsprechung ist die
materielle Rechtskraft eine Frage des Bundesrechts, sofern der zu
beurteilende Anspruch auf Bundesrecht beruht (BGE 121 III 474 E. 2 S. 476 f.,
119 II 89 E. 2a S. 90, je mit Hinweisen). In der Rechtsprechung und Literatur
herrscht Einigkeit darüber, dass nicht nur vollstreckbare gerichtliche
Urteile, sondern auch Erledigungsentscheide aufgrund von Parteierklärungen
(Vergleich, Anerkennung, Rückzug) in materielle Rechtskraft erwachsen.
Namentlich bei Klagerückzug ist von Bundesrechts wegen grundsätzlich von
materieller Rechtskraft auszugehen (BGE 105 II 149 E. 1     S. 150;
Vogel/Spühler, Grundriss des Zivilprozessrechts, 7. Auflage, Bern 2001, 9.
Kapitel, Rz. 67 f.; Max Guldener, Schweizerisches Zivilprozessrecht,

3. Auflage, Zürich 1979, S. 381; Studer/Rüegg/Eiholzer, Der Luzerner
Zivilprozess, Kriens 1994, N. 3 zu § 113; Frank/Sträuli/Messmer, Kommentar
zur zürcherischen Zivilprozessordnung, 3. Auflage, Zürich 1997, N. 16 zu §
191 ZPO). Nur ausnahmsweise erwächst ein Abschreibungsentscheid zufolge
Klagerückzugs nicht in materielle Rechtskraft, z.B. bei Klagerückzug in einem
frühen Prozessstadium oder zur Wiedereinbringung einer verbesserten Klage
(vgl. Vogel/Spühler, a.a.O., 9. Kapitel, Rz. 71 und 8. Kapitel, Rz. 45a).
Demgegenüber erwachsen Erledigungsentscheide aus prozessualen Gründen (z.B.
Unzuständigkeit, Säumnis) nicht in materielle Rechtskraft. Sie führen nur zum
Verlust des entsprechenden Prozesses, nicht jedoch zum Verlust des Anspruchs
aus Zivilrecht (BGE 118 II 479 insbes. E. 2g-j S. 484 ff.;
Studer/Rüegg/Eiholzer, a.a.O., N. 3 zu § 113; Frank/Sträuli/Messmer, a.a.O.,
N. 22 zu § 191 ZPO).

3.2 Das Luzerner Prozessrecht kennt die Besonderheit, dass in Bezug auf
Erledigungsentscheide aufgrund von Parteierklärungen zwischen "Klageverzicht"
und "Klagerückzug" unterschieden wird. § 113 Abs. 3 ZPO/LU lautet wie folgt:
"Materielle Rechtskraft kommt auch formell rechtskräftigen
Erledigungsentscheiden [...] zu, soweit sie auf Klageverzicht,
Klageanerkennung oder Vergleich, nicht aber auf einem Klagerückzug, beruhen."
Von einem "Klageverzicht" ist dann auszugehen, wenn der Kläger auf den im
Prozess erhobenen materiellen Anspruch verzichtet (LGVE 1995 I Nr. 25).
Demgegenüber beinhaltet der "Klagerückzug" keinen Anspruchsverzicht, sondern
bloss einen Verzicht auf das prozessuale Klagerecht (in diesem Sinn LGVE 1998
I Nr. 19).

3.2.1 Im angefochtenen Entscheid führt das Obergericht aus, der
Beschwerdegegner habe im Erstprozess vor Arbeitsgericht einen "Klagerückzug"
erklärt, was sich aus Ziff. 2 des Dispositivs des Urteils vom 19. August 1997
ergebe. Ein "Klageverzicht" sei nicht leichthin anzunehmen. Es sei
unwahrscheinlich, dass der Beschwerdegegner bei entsprechender Kenntnis der
Zivilprozessordnung in Bezug auf Überstundenforderung auf seine materielle
Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis verzichtet hätte. Vielmehr sei davon
auszugehen, dass der Beschwerdegegner seine Klage unter dem Vorbehalt der
Wiedereinbringung zurückgezogen habe.

3.2.2 Nach Bundesprozessrecht, das die Lehre der materiellen Rechtskraft
beherrscht, kommt einem Erledigungsentscheid aufgrund einer Parteierklärung
(z.B. eines Rückzugs) grundsätzlich immer Rechtskraftwirkung zu (vgl. E.
3.1). Für abweichendes kantonales Prozessrecht, das zwischen dem Verzicht auf
den materiellen Anspruch (im Kanton Luzern "Klageverzicht") und auf das
prozessuale Klagerecht (im Kanton Luzern "Klagerückzug") unterscheidet,
besteht kein Raum. Eine solche Unterscheidung wurde vom Bundesgericht schon
vor Jahrzehnten als "doktrinäre Überspannung" bezeichnet, die in der Schweiz,
wo seit jeher eine einfache und praktische Rechtsauffassung vorherrsche,
keine Anerkennung verdiene (BGE 67 II 70 E. 2 S. 74). Diese Begründung wurde
in einem jüngeren Entscheid ausdrücklich bestätigt (BGE 118 II 479 E. 2g S.
484).  Ein Erledigungsentscheid zufolge Klagerückzuges erwächst daher
ungeachtet der Frage, ob mit dem Rückzug auf den materiellen Anspruch
verzichtet oder bloss das prozessuale Klagerecht fallen gelassen wurde, von
Bundesrechts wegen in materielle Rechtskraft.

3.2.3 Damit kann sich nur die Frage stellen, ob der Erledigungsentscheid,
obwohl er auf einer Parteierklärung beruhte, ausnahmsweise nicht in
materielle Rechtskraft erwachsen ist, weil die Klage in einem frühen
Prozessstadium zurückgezogen oder der Rückzug unter Vorbehalt der
Wiedereinbringung einer verbesserten Klage erklärt worden ist (vgl. E. 3.1).
Nicht überzeugend erscheint in diesem Zusammenhang zunächst die Begründung
das Obergerichtes, dass das kantonale Prozessrecht den Zeitpunkt bestimme, in
dem der Kläger über die Klage nicht mehr frei bestimmen könne. Soweit das
Obergericht mit dieser Begründung darauf anspielen sollte, dass eine Klage je
nach kantonalem Prozessrecht in einem frühen Prozessstadium schadlos
zurückgezogen werden könne, ist ihm entgegenzuhalten, dass dem angefochtenen
Urteil keinerlei Feststellungen entnommen werden können, dass die Klage in
der Anfangsphase des Erstprozesses zurückgezogen wurde. Tatsächlich geht aus
dem Urteil vom 19. August 1997 nämlich hervor, dass der Rückzug erst nach
Durchführung des Schriftenwechsels anlässlich der Instruktionsverhandlung vom
23. Mai 1996 erklärt wurde. Von einem Rückzug in einem frühen Prozessstadium
kann unter diesen Umständen keine Rede sein. Bezeichnenderweise hat das
Obergericht denn auch nicht ausgeführt, bis zu welchem exakten Zeitpunkt eine
Klage nach Luzerner Prozessrecht schadlos zurückgezogen werden kann.
Ebenso wenig überzeugt die Meinung des Obergerichtes, der Beschwerdegegner
habe seine Klage unter dem Vorbehalt der Wiedereinbringung zurückgezogen.
Weder dem angefochtenen Entscheid noch den Akten können irgendwelche Hinweise
dafür entnommen werden, dass der Rückzug zwecks Wiedereinbringung einer
verbesserten Klage erklärt worden ist. Tatsächlich scheint das Obergericht
auch vielmehr der Meinung zu sein, dass der Beschwerdegegner in Unkenntniss
der prozessualen Folgen die Klage fälschlicherweise - irrtümlich -
zurückgezogen habe. Wenn aber die zu einem Erledigungsentscheid führende
Parteierklärung an einem Willensmangel leidet - wie dies im vorliegenden Fall
durchaus zutreffen könnte -, steht nach allgemeiner Zivilprozesslehre nur das
Rechtsmittel der Revision zur Verfügung. Auf die materielle Rechtskraft hat
der Willensmangel keinen Einfluss (Frank/Sträuli/Messmer, a.a.O., N. 16 zu §
191 ZPO; Vogel/Spühler, a.a.O., Kapitel 9, Rz. 74). Auch im Kanton Luzern
gilt nichts anderes (Studer/Rüegg/Eiholzer, a.a.O., N. 3 zu § 113).

3.2.4 Schliesslich überzeugt auch der Hinweis des Beschwerdegegners auf BGE
118 II 479 ff. nicht. In diesem Entscheid wurde festgehalten, dass ein
prozessualer Erledigungsentscheid - in casu wegen Säumnis - nicht in
materielle Rechtskraft erwachse, sondern sich die Säumnisfolgen nur auf das
betreffende Verfahren, nicht aber auf das eingeklagte Recht als solches
erstrecke (a.a.O., E. 2 S. 484 ff.). Wie bereits erläutert liegt im
Unterschied zu BGE 118 II 479 ff. im vorliegenden Fall kein prozessualer
Entscheid, sondern ein Erledigungsentscheid aufgrund einer Parteierklärung
vor.

3.3 Zusammenfassend kann somit festgehalten werden, dass sich die materielle
Rechtskraft grundsätzlich nach Bundeszivilprozessrecht richtet. Nebst
Sachurteilen erwachsen auch Erledigungsentscheide zufolge Anerkennung,
Vergleich oder Klagerückzug in materielle Rechtskraft, und zwar unabhängig
davon, ob sich die Parteierklärung auf den materiellen Anspruch oder bloss
auf  das prozessuale Klagerecht bezog. Für eine Unterscheidung zwischen
Klageverzicht (mit Rechtskraftwirkung) und Klagerückzug (ohne
Rechtskraftwirkung), wie sie das Luzerner Prozessrecht in § 113 Abs. 3 ZPO
vorsieht, besteht kein Raum. Das Obergericht hat zu Unrecht kantonales
Prozessrecht anstatt Bundesprozessrecht angewendet. Es hat damit gegen den
unumstrittenen Grundsatz verstossen, dass sich die materielle Rechtskraft
grundsätzlich nach Bundesrecht richtet. Ein solcher Verstoss ist willkürlich
(vgl. BGE 127 I 54 E. 2b     S. 56 m.w.H.), weshalb die staatsrechtliche
Beschwerde gutzuheissen ist.

4.
Aus diesen Gründen ist die staatsrechtliche Beschwerde gutzuheissen und das
angefochtene Urteil aufzuheben. Da arbeitsrechtliche Streitigkeiten bis zu
einem Streitwert von Fr. 30'000.-- kostenlos sind (Art. 343 Abs. 3 OR), ist
keine Gerichtsgebühr zu erheben. Allerdings hat der Beschwerdegegner der
Beschwerdeführerin eine Prozessentschädigung zu bezahlen (Art. 159 Abs. 1
OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen und das Urteil des
Obergerichtes des Kantons Luzern, I. Kammer, vom 11. Februar 2002 aufgehoben.

2.
Es wird keine Gerichtsgebühr erhoben.

3.
Der Beschwerdegegner hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Luzern,
I. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 27. Juni 2002

Im Namen der I. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: