Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Zivilabteilung 4C.301/2002
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4C.301/2002 /rnd

Urteil vom 22. Januar 2003

I. Zivilabteilung

Bundesrichter Corboz, Präsident,
Walter, Nyffeler,
Gerichtsschreiber Mazan.

X. ________ AG,
Beklagte und Berufungsklägerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Markus Möhr,
Spitalgasse 4, 9004 St. Gallen,

gegen

A.________,
Klägerin und Berufungsbeklagte, vertreten durch Rechtsanwalt Otmar Kurath,
Wilerstrasse 21, 8570 Weinfelden.

Werklieferungsvertrag,

Berufung gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 9. Juli
2002.

Sachverhalt:

A.
Die X.________ AG (Beklagte) errichtete in den Jahren 1996 bis 1998 als
Generalunternehmerin eine Überbauung mit drei Mehrfamilienhäusern in
Y.________. A.________ (Klägerin) interessierte sich für den Kauf einer
4½-Zimmer-Wohnung. In der Folge wurde der Klägerin die Möglichkeit gegeben,
in Abweichung von der Standardausführung den Innenausbau der Wohnung selber
zu gestalten. Von dieser Möglichkeit machte die Klägerin laufend Gebrauch.
Insbesondere wurde die offen geplante Küche durch eine Trennwand vom
Wohn-Essbereich abgetrennt. Mit öffentlich beurkundetem Vertrag vom 30.
Oktober 1997 kaufte die Klägerin die zu Stockwerkeigentum ausgeschiedene
4½-Zimmer-Wohnung nebst Disponibelraum sowie einen Miteigentumsanteil von
1/30 an der ebenfalls zu Stockwerkeigentum ausgeschiedenen Tiefgarage zum
Gesamtpreis von Fr. 427'000.--. Am 23. Januar 1998 wurde der
Eigentumsübergang im Grundbuch Affeltrangen eingetragen. Am gleichen Tag
erfolgte im gegenseitigen Einverständnis der Parteien der Antritt des
Kaufsobjektes durch die Klägerin.
In der Folge beanstandete die Klägerin zahlreiche Mängel. Abgesehen von
verschiedenen Bagatellen - Hicke in den Fensterrahmen, Mängel am Pergoboden
und an den Silikonfugen in Küche und Bad etc. - wurden insbesondere Probleme
bei der Temperaturregelung in der Küche und im Bereich Wohnen/Essen
beanstandet, die darauf zurückzuführen waren, dass nach der Abtrennung der
Räume keine separaten Heizkreisläufe installiert wurden. Hinzu kamen
gravierende Wassereinbrüche in der gemeinsamen Tiefgarage. Nach diversen, zum
Teil erfolglosen Mängelrügen setzte die Klägerin der Beklagten mit Schreiben
vom 22. September 1999 für die Behebung aller in einer Liste
zusammengefassten Mängel eine Frist bis am 31. Dezember 1999. Gleichzeitig
behielt sie sich die Ersatzvornahme durch einen Dritten auf Kosten der
Beklagten vor. Mit Schreiben vom 18. November 1999 nahm die Beklagte zu den
gerügten Mängeln Stellung und sicherte die Behebung derjenigen Mängel zu, die
sie zu akzeptieren bereit war. Gleichzeitig lehnte sie aber eine
Ersatzvornahme durch Dritte mit der Feststellung ab, dass sie allein
berechtigt sei, die Mängel beseitigen zu lassen.

B.
Mit Weisung des Friedensrichteramtes Amriswil vom 15. Dezember 2000 machte
die Klägerin eine Klage auf Wandelung des Kaufvertrages und auf Ersatz
weiteren Schadens gegen die Beklagte beim Bezirksgericht Bischofszell hängig.
Mit Urteil vom 2. Juli 2001 schützte das Bezirksgericht Bischofszell die von
der Klägerin erklärte Wandelung und verpflichtete die Beklagte, der Klägerin

Fr. 427'000.-- sowie Fr. 43'520.30 jeweils nebst 5% Zins seit 30. Oktober
1997 zu bezahlen, wobei die Beklagte berechtigt erklärt wurde, mit diesen
Beträgen Fr. 61'200.-- zu verrechnen. Die Klägerin wurde verpflichtet, Zug um
Zug nach Eingang der Zahlung, der Beklagten das pfandfreie Eigentum an der
Stockwerkeigentumseinheit, am Disponibelraum und an 1/30 Miteigentumsanteil
der Tiefgarage zu übertragen. Schliesslich wurde die Beklagte verpflichtet,
der Klägerin als Ersatz weiteren Schadens den Betrag von Fr. 7'734.05 nebst
5% Zins seit 20. September 2000 zu bezahlen. Eine von der Beklagten dagegen
erhobene Berufung wies das Obergericht des Kantons Thurgau mit Urteil vom 9.
Juli 2002 ab und bestätigte das angefochtene Urteil.

C.
Mit Berufung vom 20. September 2002 beantragt die Beklagte dem Bundesgericht,
das Urteil des Obergerichtes des Kantons Thurgau vom 9. Juli 2002 aufzuheben
und die Klage abzuweisen. Eventualiter sei das angefochtene Urteil aufzuheben
und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Berufung abzuweisen, soweit darauf einzutreten
sei. Das Obergericht des Kantons Thurgau schliesst auf Abweisung der
Berufung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Obergericht des Kantons Thurgau hat die von der Klägerin erklärte
Wandelung des Vertrages geschützt, obwohl die beanstandeten Mängel je für
sich allein nur von untergeordneter Bedeutung seien. In ihrer Gesamtheit
seien die Mängel aber doch beachtlich gewesen und für die Klägerin zu einem
ständigen Ärgernis geworden. Weiter sei der Beklagten vorzuwerfen, dass sie
die Klägerin mit den Mängeln teilweise allein gelassen und sich zu wenig um
die Behebung der Mängel bemüht habe. Unter Berücksichtigung der Gesamtheit
der Mängel und des Umstandes, dass die Beklagte weder fähig noch willens
gewesen sei, die Mängel zu beheben, sei das klägerische Begehren auf
Wandelung zu schützen. Dies ergebe sich auch daraus, dass die Klägerin keine
andere Wahl als die Wandelung gehabt habe. Die Möglichkeit der Minderung sei
von den Parteien in Ziff. 8 Abs. 2 der Weiteren Vertragsbestimmungen des
Kaufvertrages vom     30. Oktober 1997 vertraglich ausgeschlossen worden, und
eine Ersatzvornahme hätte auf jeden Fall die Führung eines Prozesses
vorausgesetzt.

2.
Im Folgenden ist zunächst zu klären, auf welcher vertraglichen Grundlage die
Mängelrechte der Klägerin zu beurteilen sind.

2.1 Beim Verkauf eines Grundstückes mit einer Neubaute ist insbesondere
zwischen einem reinen Kaufvertrag (Grundstückkaufvertrag über eine künftige
Sache) und einem gemischten Grundstückkauf-/Werkvertrag (Grundstückkauf mit
Bauleistungspflicht) zu unterscheiden. Entscheidendes Abgrenzungskrite- rium
ist die Herstellungspflicht. Während der Verkäufer nur zur Übereignung der
künftigen Sache verpflichtet ist, ist der Unternehmer zur Herstellung einer
künftigen Neubaute verpflichtet. Ein Kauf über eine künftige Sache ist etwa
dann anzunehmen, wenn der Erwerber keinen Einfluss auf den
Herstellungsprozess ausübt, d.h. der Neubau nicht eigens für ihn hergestellt
wird. Demgegenüber ist von einem gemischten Grundstückkauf mit
Bauleistungspflicht auszugehen, wenn dem Erwerber ein Einfluss auf den
Arbeitsprozess eingeräumt wird, und zwar auch bei einer bloss teilweisen
Herstellung eines Neubaus nach den individuellen Wünschen des Erwerbers
(Schumacher/Rüegg, Die Haftung des Grundstückverkäufers, in: Alfred Koller
(Hrsg.), Der Grundstückkauf, 2. Auflage, Bern 2001, S. 225 ff.; Gauch, Der
Werkvertrag, 4. Auflage, Zürich 1996, S. 37 f.).
2.2 Im vorliegenden Fall hat die Klägerin bereits vor Abschluss des
Kaufvertrages am 30. Oktober 1997 laufend in Abänderung zur
Standardausführung Anweisungen zum Innenausbau gegeben. Insbesondere wurde
die offen geplante Küche auf Anweisung der Klägerin durch eine Trennwand vom
Wohn-/Essbereich abgetrennt. Da also den individuellen Wünschen der Klägerin
Rechnung getragen und ihr insofern Einfluss auf den Arbeitsprozess eingeräumt
wurde, rechtfertigt es sich, von einem gemischten Vertrag, d.h. einem
Grundstückkauf mit Bauleistungspflicht, auszugehen. Wenn wie im vorliegenden
Fall ein gemischter Grundstückkauf-/Werkvertrag vorliegt, untersteht die
Mängelhaftung für das Gebäude - abgesehen von hier nicht zutreffenden
Ausnahmefällen - insgesamt dem Werkvertragsrecht (BGE 118 II 142 E. 1a S.
144).

3.
Nachdem sich ergeben hat, dass sich die Mängelrechte nach Werkvertragsrecht
richten, ist im Folgenden zu prüfen, welche Mängelrechte geltend gemacht
werden können.

3.1 Die werkvertraglichen Mängelrechte sind in den Art. 368 ff. OR geregelt.
Dabei handelt es sich um dispositives Recht, von welchem die Parteien durch
vertragliche Vereinbarung abweichen können (BGE 118 II 142 E. 1a S. 144).

3.2 Unbestritten ist, dass die Parteien den Vertrag gemäss Art. 8 Abs. 1 der
Weiteren Vertragsbestimmungen zum Kaufvertrag vom 30. Oktober 1997 der
SIA-Norm 118 unterstellt haben. Weiter geht die Vorinstanz aufgrund einer
Auslegung nach Vertrauensprinzip zutreffend davon aus, dass die Parteien in
Art. 8 Abs. 2 der Weiteren Vertragsbestimmungen das Minderungsrecht (Art. 169
Abs. 1 Ziff. 2 SIA-Norm 118) vertraglich ausgeschlossen haben. Einerseits
spricht der Wortlaut der Vereinbarung für diese Interpretation. Die
Formulierung, die Käuferin sei nicht zu "einem Abzug am Kaufpreis"
berechtigt, deckt sich mit dem vom Gesetz bzw. der SIA-Norm 118 im
Zusammenhang mit der Minderung verwendeten Begriffen (Art. 368 Abs. 2 OR,
Art. 169 Abs. 1 Ziff. 2 SIA-Norm 118). Andrerseits spricht auch die
Interessenlage der Parteien beim Vertragsabschluss dafür, dass die Minderung
ausgeschlossen wurde. Zu Recht führt die Vorinstanz diesbezüglich aus, dass
die Beklagte ein Interesse daran gehabt haben dürfte, ein allfälliges
Minderungsrecht der Klägerin auszuschliessen, um Kollisionen des
Minderungsanspruchs mit allfälligen Nachbesserungsbegehren anderer Käufer zu
vermeiden. Aus diesen Gründen kann der Vorinstanz beigepflichtet werden, dass
die Parteien in Abweichung vom dispositiven Gesetzesrecht die Anwendbarkeit
der SIA-Norm 118 vereinbart (Art. 8 Ziff. 1) und gleichzeitig das
Minderungsrecht ausgeschlossen haben (Art. 8 Ziff. 2).

3.3 Gemäss Art. 169 Ziff. 1 SIA-Norm 118 hat der Bauherr zunächst einzig das
Recht, vom Unternehmer, die Beseitigung des Mangels innerhalb angemessener
Frist zu verlangen. Nachdem die Klägerin der Beklagten mit Schreiben vom 22.
September 1999 eine angemessene Frist zur Mängelbeseitigung bis am  31.
Dezember 1999 angesetzt hatte und die Mängel innert Frist nicht behoben
worden waren, war die Klägerin berechtigt, die in Art. 169 Abs. 1 SIA-Norm
118 aufgezählten Mängelrechte auszuüben, d.h. auf Nachbesserung zu beharren
(Ziff. 1) oder vom Vertrag zurückzutreten (Ziff. 3); das Minderungsrecht
(Ziff. 2) wurde wie gesagt ausgeschlossen (E. 3.2).
3.4 Da die Klägerin angesichts der Weigerung der Beklagten, die Mängel zu
beheben, die Wandelung erklärt hat, ist lediglich zu prüfen, ob die
Voraussetzungen für dieses Vorgehen erfüllt sind.

3.4.1 Gemäss Art. 169 Abs. 1 Ziff. 3 SIA-Norm 118 ist eine Wandelung nur dann
möglich, wenn die Annahme des Werkes dem Bauherren "nicht zugemutet werden
kann". Unzumutbar ist die Annahme, wenn dem Bauherren unter Berücksichtigung
der gegenseitigen Interessen der Parteien nach Recht und Billigkeit nicht
zumutbar ist, das mangelhafte Werk zu behalten (BGE 98 II 118 E. 3a S. 122
m.w.H.; Gauch, SIA-Norm 118, N. 24 zu Art. 169). Bei der Beurteilung dieser
Frage verfügt der Sachrichter über einen weiten Ermessensspielraum. Das
Bundesgericht greift in einen solchen Ermessensentscheid nur ein, wenn die
Vorinstanz grundlos von in Lehre und Rechtsprechung anerkannten Grundsätzen
abgegangen ist, wenn Tatsachen berücksichtigt werden, die keine Rolle hätten
spielen dürfen, oder wenn umgekehrt Umstände ausser Acht geblieben sind, die
zwingend hätten beachtet werden müssen. Ferner wird in derartige
Ermessentscheide eingegriffen, wenn sie sich als offensichtlich unbillig, als
in stossender Weise ungerecht erweisen (BGE 121 III 64 E. 3c S. 68 f.
m.w.H.).
3.4.2 Im vorliegenden Fall hat die Vorinstanz ihr Ermessen nicht verletzt,
wenn sie der Klägerin aufgrund einer Würdigung der gegenseitigen Interessen
das Recht auf Wandelung des Vertrages zugestand. In erster Linie fällt in
Betracht, dass die Parteien das Minderungsrecht vertraglich ausgeschlossen
und damit die Mängelrechte auf Nachbesserung und Wandelung beschränkt haben
(vgl. E. 3.2). Da die Beklagte trotz ausdrücklicher Aufforderung seitens der
Klägerin von der Möglichkeit der Nachbesserung keinen Gebrauch machte, nahm
sie das Risiko in Kauf, dass sich die Klägerin für die Wandelung entscheiden
würde. Vor diesem Hintergrund ist nicht zu beanstanden, dass die Klägerin
nicht auf die alternativ zur Wandelung allein offen stehenden Varianten, auf
Nachbesserung zu beharren oder diese durch Dritte vornehmen zu lassen,
verwiesen wurde. Hinzu kommt, dass die eingangs genannten Mängel zwar je für
sich allein nur von untergeordneter Bedeutung sind. Zutreffend weist die
Vorinstanz aber darauf hin, dass das Wandelungsrecht bei Vorliegen von
verschiedenen Mängeln zu bejahen ist, wenn die mehreren Mängel zusammen die
Annahme des Werkes unzumutbar machen (Gauch, Werkvertrag, a.a.O., N. 1564).
Unter Berücksichtigung der gegenseitigen Interessen der Parteien ist daher
der Ermessensentscheid des Obergerichtes, die von der Klägerin erklärte
Wandelung zu schützen, nicht zu beanstanden.

4.
Aus diesen Gründen ist die Berufung abzuweisen. Bei diesem Ausgang des
Verfahrens wird die Beklagte kosten- und entschädigungspflichtig (Art. 156
Abs. 1 und Art. 159 Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Berufung wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 7'500.-- wird der Beklagten auferlegt.

3.
Die Beklagte hat die Klägerin für das Verfahren vor Bundesgericht mit

Fr. 8'500.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Thurgau
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 22. Januar 2003

Im Namen der I. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: