Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Zivilabteilung 4C.298/2002
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4C.298/2002 /rnd

Urteil vom 30. April 2003

I. Zivilabteilung

Bundesrichter Corboz, Präsident,
Bundesrichter Walter,
Bundesrichterin Rottenberg Liatowitsch,
Gerichtsschreiberin Charif Feller.

A. ________,
Klägerin und Berufungsklägerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Marco
Cereghetti, Dufourstrasse 56, Postfach, 8034 Zürich,

gegen

Bank X.________ AG,
Beklagte und Berufungsbeklagte, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Mario
Kronauer, Limmatquai 3,
8001 Zürich.

Bankkonto; Wohnsitz; IPRG,

Berufung gegen das Urteil des Handelsgerichts des Kantons Zürich vom 12. Juli
2002.

Sachverhalt:

A.
Die Klägerin ist eine Cousine vierten Grades des in Turin verstorbenen
B.________. Unstreitig existieren weitere Personen in gleicher
verwandtschaftlicher Beziehung zum Verstorbenen. B.________ hatte bei der
Beklagten ein Bankkonto unterhalten. Gestützt auf einen argentinischen
Erbschein, in welchem sie als Alleinerbin bezeichnet wird, beanspruchte die
Klägerin ab diesem Konto eine Rückzahlung von Fr. 50'000.-. Die Beklagte
verweigerte die Auszahlung unter Hinweis auf ihr Doppelzahlungsrisiko
gegenüber möglichen weiteren Erben.

B.
Mit Eingabe vom 21. Februar 2000 belangte die Klägerin die Beklagte vor dem
Handelsgericht des Kantons Zürich auf Bezahlung von         Fr. 50'000.-
nebst Zins.

Mit Urteil vom 12. Juli 2002 wies das Handelsgericht die Klage ab. Es erwog,
die Klägerin leite ihre Gläubigerstellung aus argentinischem Erbrecht ab,
welches internationalprivatrechtlich Anwendung finde, sofern der Erblasser
seinen letzten Wohnsitz in Argentinien hatte, was die Klägerin in
tatsächlicher Hinsicht zu beweisen habe. Ihre diesbezüglichen Vorbringen
reichten indessen substanziell nicht aus, diesen Wohnsitz schlüssig darzutun,
so dass darüber nicht Beweis zu führen, sondern die Klage ohne weiteres
abzuweisen sei.
Eine gegen dieses Urteil eingelegte kantonale Nichtigkeitsbeschwerde wies das
Kassationsgericht des Kantons Zürich am 3. Februar 2003 ab, soweit es darauf
eintrat.

C.
Die Klägerin ficht den Entscheid des Handelsgerichts ebenfalls mit
eidgenössischer Berufung an. Sie beantragt dessen Aufhebung und die
Rückweisung der Streitsache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz.
Die Beklagte schliesst auf Abweisung der Berufung, soweit darauf einzutreten
sei. Das Handelsgericht hat auf Gegenbemerkungen verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Handelsgericht hat sich zum eingeklagten Antrag materiell nicht
geäussert. Demzufolge genügt der Antrag auf Rückweisung der Streitsache an
die Vorinstanz den Vorschriften des Art. 55 Abs. 1 lit. b OG, da das
Bundesgericht, sollte die Rechtsauffassung der Klägerin begründet sein,
mangels der erforderlichen tatsächlichen Feststellungen zum eingeklagten
Anspruch kein Sachurteil fällen könnte (BGE 106 II 201 E. 1; 125 III 412 E.
1b S. 414).

2.
Der in Frage stehende Bankvertrag untersteht kraft parteiautonomer Rechtswahl
schweizerischem Recht (Art. 116 Abs. 1 IPRG).

Die Klägerin leitet ihre Gläubigerstellung aus einer erbrechtlichen
Universalsukzession ab. Da der Erblasser seinen letzten Wohnsitz jedenfalls
im Ausland hatte, untersteht sein Nachlass dem Recht, auf welches das
Kollisionsrecht des Wohnsitzstaates verweist (Art. 91 Abs. 1 IPRG). Der
Wohnsitz im Sinne des IPRG bestimmt sich nach dem Aufenthalt mit der Absicht
dauernden Verbleibens (Art. 20 Abs. 1 lit. a IPRG). Auch
internationalprivatrechtlich gilt dabei der Grundsatz der Einheit oder
Ausschliesslichkeit des Wohnsitzes. Hat eine Person nirgends einen Wohnsitz,
ist an den gewöhnlichen Aufenthalt anzuknüpfen. Dies gilt auch für den Fall,
dass ein Wohnsitz aufgegeben und ein neuer noch nicht begründet wurde; im
internationalen Verhältnis gibt es keinen "fortgesetzten Wohnsitz", wie ihn
Art. 24 ZGB kennt (Art. 20 Abs. 2 IPRG; BGE 119 II 167 E. 2b).

2.1 Der Wohnsitz einer Person befindet sich binnenrechtlich wie
internationalprivatrechtlich dort, wo sie den Mittelpunkt ihrer
Lebensbeziehungen hat. Wohnsitzbestimmend ist damit einerseits ein objektives
Element, die physische Präsenz, anderseits ein subjektives Element die
Absicht dauernden Verbleibens (BGE 119 II 167 E. 2b). Auch diese Absicht
beurteilt sich allerdings nach objektivierten Kriterien: Entscheidend ist, ob
die Person den Ort, an dem sie weilt, in einer für Dritte erkennbaren Weise
zum Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen gemacht hat oder zu machen
beabsichtigt, ein rein innerer, nach aussen nicht kundgegebener Wille zu
dauerndem Verbleiben reicht für die rechtliche Wohnsitzbegründung nicht aus
(BGE 120 III 7 E. 2a; 119 II 64          E. 2b/bb). Abzustellen ist auf die
Gesamtheit der Lebensumstände. Danach befindet der Lebensmittelpunkt einer
Partei sich im internationalen Verhältnis in demjenigen Staat, in welchem die
Schwerpunkte ihrer persönlichen, sozialen und beruflichen Kontakte liegen,
wobei erforderlich ist, dass diese Schwerpunkte vergleichbare Beziehungen zu
anderen Staaten in ihrer Intensität in den Hintergrund drängen (BGE 125 III
100, S. 102).

2.2 Der Aufenthaltsort einer Person und deren innerer Wille, dauernd dort zu
verbleiben, sind Tatfragen, die das Bundesgericht ausserhalb der in Art. 63
f. OG vorgesehenen Ausnahmen im Berufungsverfahren nicht überprüft. Gleiches
gilt für die Kundgaben dieses inneren Willens gegenüber Dritten. Vom
Bundesgericht frei zu prüfende Rechtsfrage ist dagegen, ob aus diesen
Kundgaben objektiv auf die Absicht dauernden Verbleibens zu schliessen ist
oder nicht (BGE 120 III 7 E. 2a).

2.3 Nach den für das Bundesgericht verbindlichen Feststellungen des
Handelsgerichts wurde B.________ 1921 in Turin geboren, wo er im Herbst 1993
auch verstarb. Er war italienischer Staatsangehöriger und von 1949 bis zu
seiner Pensionierung (1985 oder 1986) für die Y.________ in Argentinien
tätig, seit 1965 als Generaldirektor. Er verfügte über Vermögenswerte,
namentlich Grundeigentum (Grundstücke oder Wohnungen), sowohl in Argentinien
wie in Italien. Nach Darstellung der Beklagten sei er nach dem Tode seiner
Ehefrau (Frühling 1993) bis zu seinem Tod in Italien geblieben.
Die Klägerin stellte als Indizien für den letzten Wohnsitz von B.________ in
Argentinien die Behauptungen auf, er habe dort bis zu seinem Tode eine
Eigentumswohnung besessen und eine Privatsekretärin beschäftigt, zu einer
Bank eine Kontenbeziehung unterhalten, diverse Rechnungen für Kreditkarten
und Wohnnebenkosten zugestellt erhalten, sei in Argentinien sozial- und
krankenversichert sowie steuerpflichtig gewesen und in das dortige
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben integriert gewesen, wo er auch
zahlreiche Freundschaften und Bekanntschaften unterhalten habe.
Das Handelsgericht hält diese Tatsachen - ihre Wahrheit unterstellt - nicht
für hinreichend, den letzten Wohnsitz von B.________ in Argentinien schlüssig
zu indizieren. Folgerichtig hat es in dieser Auffassung auf ein
Beweisverfahren verzichtet und die Klage sogleich abgewiesen. Die Klägerin
rügt dieses Vorgehen in verschiedener Hinsicht als bundesrechtswidrig.

2.3.1 Die Klägerin rügt eine Verletzung von Art. 9 ZGB. Sie beruft sich auf
eine Verfügung des Bezirksgerichts Zürich vom 7. August 1998, in welcher der
argentinische Erbschein zu ihren Gunsten anerkannt und ausdrücklich
festgehalten werde, B.________ habe seinen letzten Wohnsitz in Argentinien
gehabt.

Mit der genannten Verfügung wird der von der nationalen Justizbehörde
Argentiniens ausgestellte Erbschein zu Gunsten der Klägerin als alleinige
Universalerbin anerkannt und in der dazu gegebenen Begründung u.a.
ausgeführt, B.________ habe seinen letzten Wohnsitz in Argentinien gehabt.
Daraus vermag die Klägerin zu ihren Gunsten indessen keine Rechtsvermutung
für diesen Wohnsitz abzuleiten. Von der verstärkten Beweiskraft nach Art. 9
ZGB werden einzig bundesprivatrechtlich vorgesehene Urkunden erfasst, die der
Feststellung bundesrechtlich bezeichneter Tatsachen oder Willenserklärungen
durch eine zuständige Urkundsperson dienen (BGE 96 II 161 E. 3; Kummer,
Berner Kommentar, N 12 zu Art. 9 ZGB; Schmid, Basler Kommentar, N 12 zu Art.
9 ZGB). Sodann umfasst die verstärkte Beweiskraft öffentlicher Urkunden nur
das, was die Urkundsperson nach Massgabe der Sachlage kraft eigener Prüfung
als richtig bescheinigt und bescheinigen kann (Kummer, a.a.O., N 43 zu Art. 9
ZGB), wobei sie in der Lage sein muss, Feststellungen dieser Art aus eigener
Wahrnehmung zuverlässig zu treffen (BGE 110 II 1 E. 3). Weder die eine noch
die andere Voraussetzung ist hier erfüllt. Die Erwägungen des Bezirksgerichts
Zürich zu seiner Verfügung vom 7. August 1998 stellen keine
bundesprivatrechtliche Urkunde im Sinne von Art. 9 ZGB dar und beurkunden
zudem keine eigenen Wahrnehmungen des Gerichts über die tatsächlichen
Voraussetzungen des aus einer Dritturkunde übernommenen Wohnsitzes von
B.________ in Argentinien (vgl. BGE 96 II 161 E. 3; Schmid, a.a.O., N 23 f.
zu Art. 9 ZGB). Das Handelsgericht hat demnach kein Bundesrecht verletzt,
wenn es den letzten Wohnsitz von B.________ trotz gerichtlich anerkanntem
Erbschein zu Gunsten der Klägerin nicht in Argentinien vermutete, sondern
unverändert die Beweislastregel von Art. 8 ZGB und die daraus fliessende
Beweisführungslast zur Anwendung brachte.

2.3.2 In einem Eventualstandpunkt rügt die Klägerin eine Verletzung von Art.
8 ZGB, weil das Handelsgericht ihr die Beweislast für eine negative Tatsache
(fehlender Wohnsitz von B.________ in Italien) auferlegt habe, anstatt sie
der Beklagten für deren unsubstanziierte Behauptung eines italienischen
Wohnsitzes zuzuweisen.

Eine bundesrechtliche Regel, wonach negative Tatsachen nicht zu beweisen
sind, besteht nicht (Kummer, a.a.O., N 194 zu Art. 8 ZGB). Zudem geht es im
vorliegenden Fall richtig besehen nicht darum, sondern um den Beweis darüber,
dass die Beziehungen von         B.________ im Zeitpunkt seines Ablebens zu
Argentinien enger waren als zu Italien (BGE 125 III 100, S. 102). Dafür aber
trägt klarerweise die Klägerin die Beweislast, welche aus dem behaupteten
argentinischen letzten Wohnsitz des Erblassers Rechte ableitet. Eine
Verletzung der Beweislastregel ist nicht auszumachen.

Nach der nicht als offensichtlich irrtümlich ausgegebenen und daher für das
Bundesgericht im Berufungsverfahren verbindlichen Feststellung des
Handelsgerichts (BGE 125 III 305 E. 2e) machte die Beklagte im kantonalen
Verfahren geltend, B.________ habe im Zeitpunkt seines Ablebens Wohnsitz in
Italien gehabt. Ob diese Behauptung prozessual verspätet erhoben wurde, wie
die Klägerin geltend zu machen scheint, beschlägt die Anwendung kantonalen
Prozessrechts (Eventual- maxime), welches im Berufungsverfahren nicht
überprüft werden kann (Art. 55 Abs. 1 lit. c OG; BGE 108 II 337 E. 4c;
Poudret, COJ II, N 1.4.2.10 zu Art. 43 OG). Führt eine strenge Handhabung der
Eventualmaxime sodann dazu, dass einer Partei nicht mehr möglich ist, zu den
Vorbringen der Gegenpartei Stellung zu beziehen, ist nicht der
Beweisführungsanspruch nach Art. 8 ZGB, sondern allenfalls der Anspruch auf
rechtliches Gehör verletzt, was mit Berufung nicht geltend gemacht werden
kann (Art. 43 Abs. 1 OG). Damit entfällt auch eine Verletzung des
bundesrechtlichen Beweisführungsanspruchs. Immerhin ist in diesem
Zusammenhang zusätzlich darauf hinzuweisen, dass nach den Feststellungen des
Kassationsgerichts die Beklagte bereits in der Klageantwort geltend gemacht
hatte, die Beziehungen des Erblassers seien im Zeitpunkt dessen Ablebens zu
Argentinien nicht enger gewesen als zu Italien. Damit war der Einwand des
fehlenden Lebensmittelpunkts in Argentinien bereits im Schriftenwechsel
ersichtlich.

2.3.3 In der Sache selbst hielt das Handelsgericht dafür, die von der
Klägerin zum Nachweis des bestrittenen Wohnsitzes in Argentinien behaupteten
Tatsachen vermöchten den erforderlichen Beweis nicht zu erbringen, selbst
wenn sie alle zutreffen würden. Die Klägerin erblickt darin
bundesrechtswidrige Anforderungen an ihre Substanziierungslast.

Nach der Rechtsprechung bestimmt das materielle Bundesrecht, wieweit ein
Sachverhalt zu substanziieren ist, damit er unter die Bestimmungen des
Bundesrechts subsumiert werden kann, d.h. die Beurteilung einer
Rechtsbehauptung zulässt (BGE 108 II 337). Darum geht es im vorliegenden Fall
nicht. Das Handelsgericht hat der Klägerin nicht vorgeworfen, die Behauptung
des ausländischen Wohnsitzes von B.________ ungenügend spezifiziert zu haben,
sondern hat erwogen, die behaupteten Tatsachen seien nicht geeignet, den
erforderlichen Beweis zu erbringen. Dies ist eine Frage der Rechtsanwendung,
der Auslegung des Wohnsitzbegriffs nach Art. 20 IPRG.

Die Auffassung des Handelsgerichts hält vor dem Bundesrecht stand. War
streitig, ob B.________ seinen letzten Wohnsitz in Argentinien oder Italien
hatte, und war geltend gemacht, er habe sich namentlich nach dem Tode seiner
Ehefrau mit der Absicht dauernden Verbleibens in Italien aufgehalten, oblag
der Klägerin, die engere Beziehung zu Argentinien nach diesem Zeitpunkt
substanziiert zu behaupten und zum Beweis zu verstellen. Die allein auf die
Situation in Argentinien beschränkten Behauptungen durften dazu als
ungenügend erachtet werden, zumal Liegenschaftsbesitz und Steuerpflicht nicht
ohne weiteres ausreichen, den privatrechtlichen Wohnsitz zu beweisen
(Grossen, Das Recht der Einzelpersonen, in: Schweizerisches Privatrecht II,
S. 283 ff., 351; Bucher, Berner Kommentar, N 36 f. zu Art. 23 ZGB, je mit
Hinweisen). Sie und die übrigen von der Klägerin angeführten Indizien durften
bundesrechtskonform jedenfalls dann als nicht hinreichend erachtet werden,
wenn konkret ein anderer Lebensmittelpunkt in Frage stand und geltend gemacht
war, ein neuer Wohnsitz sei relativ kurze Zeit vor dem Ableben, d.h. nach dem
Tode der Ehefrau begründet worden. Diese Behauptung zu entkräften, was nach
der allgemeinen Beweislastregel der Klägerin oblag, vermochten die
angeführten allgemeinen und zeitlich nicht näher spezifizierten Indizien
nicht. Dem Handelsgericht ist daher keine Bundesrechtsverletzung vorzuwerfen,
wenn es gestützt darauf die behaupteten Tatsachen als nicht hinreichend
schlüssig erachtete.

3.
Die Berufung ist folglich abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird
die Klägerin kosten- und entschädigungspflichtig (Art. 156 Abs. 1 und 159
Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Berufung wird abgeweisen.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.- wird der Klägerin auferlegt.

3.
Die Klägerin hat die Beklagte für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr.
2'500.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Handelsgericht des Kantons Zürich
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 30. April 2003

Im Namen der I. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: