Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Zivilabteilung 4C.219/2002
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4C.219/2002 /rnd

Urteil vom 4. September 2002

I. Zivilabteilung

Bundesrichterinnen und Bundesrichter Walter, Präsident,
Klett, Rottenberg Liatowitsch, Nyffeler, Favre,
Gerichtsschreiberin Boutellier.

A. ________,
Beklagter und Berufungskläger, vertreten durch Rechtsanwalt Stefan Lechmann,
Gäuggelistrasse 16, Postfach 545, 7002 Chur,

gegen

B.________,
Klägerin und Berufungsbeklagte, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Silvio C.
Bianchi, Martinsplatz 8, Postfach 42, 7002 Chur.

Arbeitsvertrag; örtliche Zuständigkeit,

Berufung gegen das Urteil des Kantonsgerichts von Graubünden,
Kantonsgerichtsausschuss, vom 13. März 2002.

Sachverhalt:

A.
B. ________ (Klägerin) arbeitete als Verkäuferin im Sportgeschäft in
X.________, das zu der Einzelfirma Ski-Shop A.________ gehört, die ihren Sitz
gemäss Handelsregisterauszug in Y.________, hat.

B.
Am 16. Februar 2001 reichte die Klägerin bei dem für Y.________ zuständigen
Kreisamt gegen A.________ (Beklagten) ein Sühnebegehren ein. Mit
Prozesseingabe an das Bezirksgericht Inn vom 18. Mai 2001 forderte die
Klägerin vom Beklagten aus Arbeitsvertrag Fr. 18'402.40 zuzüglich Zins. Für
die örtliche Zuständigkeit berief sie sich auf den Wohnsitz des Beklagten in
Y.________. Am 18. September 2001 erhob der Beklagte die Einrede der
Unzuständigkeit mit der Begründung, dass er seinen Wohnsitz seit dem 24. Juni
1953 ununterbrochen in Z.________ habe. Die Unzuständigkeitseinrede wurde vom
Bezirksgericht Inn mit Entscheid vom 6. November 2001 abgewiesen. Es erwog,
die Klägerin habe ihren Arbeitsvertrag mit der Einzelfirma Ski-Shop
A.________ abgeschlossen, da diese ihren Sitz gemäss Handelsregisterauszug in
Y.________ habe, sei das Bezirksgericht Inn zuständig.

C.
Eine gegen diesen Entscheid erhobene Beschwerde hat das Kantonsgericht von
Graubünden, Kantonsgerichtsausschuss, mit Urteil vom 13. März 2002
abgewiesen. Es kam zum Schluss, das Bezirksgericht Inn sei zuständig, da der
Beklagte in Y.________ eine im Handelsregister eingetragene
Geschäftsniederlassung habe, und es sich bei der Klage um einen Anspruch aus
dem Betrieb dieser Niederlassung handle.

D.
Gegen dieses Urteil führt der Beklagte Berufung mit dem Begehren, das Urteil
des Kantonsgerichts Graubünden sei aufzuheben und die Angelegenheit an die
Vorinstanz zurückzuweisen. Die Klägerin beantragt Abweisung der Berufung,
soweit darauf einzutreten ist.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Berufungsschrift muss die genaue Angabe enthalten, welche Punkte des
Entscheides angefochten und welche Abänderungen beantragt werden (Art. 55
Abs. 1 lit. b OG). Anträge auf Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zu
neuer Entscheidung oder blosse Aufhebungsanträge genügen grundsätzlich nicht
und machen die Berufung unzulässig. Ein blosser Rückweisungsantrag reicht
indessen nach ständiger Praxis aus, wenn das Bundesgericht, falls es die
Rechtsauffassung der Berufungskläger für begründet erachtet, kein Endurteil
fällen kann, sondern die Sache zu weiteren Abklärungen an die Vorinstanz
zurückweisen muss (BGE 125 III 412 E. 1b mit Hinweisen). Diese Voraussetzung
ist hier gegeben, denn im Falle einer Gutheissung wäre die Rückweisung der
Streitsache unvermeidlich, da abgeklärt werden müsste, ob der Beklagte im
Bezirk Inn Wohnsitz hat.

2.
Streitig ist vorliegend lediglich die örtliche Zuständigkeit des
Bezirksgerichtes Inn für eine Klage aus Arbeitsvertrag.

Art. 24 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 24. März 2000 über den Gerichtsstand in
Zivilsachen (GestG; SR 272) sieht für arbeitsrechtliche Klagen eine
Zuständigkeit der Gerichte am Wohnsitz oder Sitz der beklagten Partei oder am
gewöhnlichen Arbeitsort vor. Da die Klägerin in einem Geschäft des Beklagten
in X.________ tätig war, ihre Klage jedoch am Bezirksgericht Inn erhoben hat,
kann sie sich nicht auf die Zuständigkeit am gewöhnlichen Arbeitsort berufen.
Da der Beklagte bestritt, dass sich sein Wohnsitz in Y.________ befinde, hat
die Vorinstanz die Zuständigkeit auch nicht mit dem Wohnsitz begründet.
Ausser Betracht fällt aufgrund der zutreffenden Erwägungen der Vorinstanz
ferner die Zuständigkeit der Einlassung gemäss Art. 10 GestG.

3.
Die Vorinstanz kam zum Schluss, dass eine Zuständigkeit der Niederlassung
nach Art. 5 GestG gegeben sei, da der Beklagte in Y.________ eine im
Handelsregister eingetragene Geschäftsniederlassung habe. Der Beklagte macht
geltend, in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten sei der Gerichtsstand der
Niederlassung nicht gegeben.

3.1 Art. 5 GestG sieht für Klagen aus dem Betrieb einer geschäftlichen oder
beruflichen Niederlassung oder Zweigniederlassung eine Zuständigkeit der
Gerichte am Wohnsitz oder Sitz der beklagten Partei sowie am Ort der
Niederlassung vor. Der Begriff der Niederlassung umfasst die
Zweigniederlassung einer Handelsgesellschaft oder Genossenschaft, aber auch
die berufliche oder geschäftliche Niederlassung einer natürlichen Person
(Arzt, Anwalt), einer Einzelfirma oder einer Personengesellschaft (Botschaft
des Bundesrates zum Bundesgesetz über den Gerichtsstand in Zivilsachen vom
18. November 1998, Botschaft, BBl 1999 S. 2846; Vogel/Spühler, Grundriss des
Zivilprozessrechts, 7. Auflage, Zürich 2001, 4. Kapitel, Rz. 50). Die
bundesgerichtliche Rechtsprechung zum Begriff der Zweigniederlassung, welche
eine gewisse wirtschaftliche und geschäftliche Unabhängigkeit verlangt (BGE
120 III 11 E. 1a; 117 II 85 E. 3; 101 Ia 39 E. 3, je mit Hinweisen), kann
beibehalten werden (Valloni/Barthold, Das Schweizerische
Gerichtsstandsgesetz, Zürich 2002, S. 25 f. Ziff. 5.4).

Unbestritten ist, dass die im Handelsregister eingetragene Einzelfirma des
Beklagten eine Niederlassung im Sinne von Art. 5 GestG ist. Der Beklagte
macht weder geltend, die Vorinstanz habe ihrem Urteil einen falschen Begriff
der Niederlassung zugrunde gelegt, noch bringt er vor, dass es sich bei der
Filiale in X.________ um eine Zweigniederlassung handle, die einen eigenen
Gerichtsstand begründen würde. Wie die Vorinstanz für das Bundesgericht
verbindlich festgestellt hat, sind die Filialen der Einzelfirma des Beklagten
vielmehr Verkaufsläden, die gegen Aussen als wirtschaftliche Einheit
auftreten; in allen Läden werden unter der Einzelfirma "Skishop A.________"
Sportartikel verkauft. Weiter hat sie festgestellt, dass der Beklagte seine
Filialen von Y.________ aus leitete, woraus sie zu Recht auf eine dortige
Niederlassung schloss. Unbestritten ist, dass die Klage am dortigen Sitz
erhoben wurde, und dass der von Art. 5 GestG geforderte Zusammenhang zwischen
den geltend gemachten Ansprüchen und der Niederlassung besteht.

3.2 Somit bleibt lediglich zu prüfen, ob der Gerichtsstand der Niederlassung
(Art. 5 GestG) neben dem Gerichtsstand für arbeitsrechtliche Klagen gemäss
Art. 24 Abs. 1 GestG angerufen werden kann.

Aus der Botschaft (BBl 1999 S. 2846) geht hervor, dass Art. 5 GestG dem
Kläger neben dem allgemeinen Gerichtsstand am Sitz oder Wohnsitz der
beklagten Partei sowie neben allfälligen besondern Gerichtsständen gemäss dem
3. Kapitel des Gerichtsstandsgesetzes ein weiteres Forum am Ort der
Niederlassung oder Zweigniederlassung der beklagten Partei zur Verfügung
stellen soll. Auch der überwiegende Teil der Lehre geht davon aus, dass Art.
5 GestG neben dem allgemeinen Gerichtsstand (Art. 3 GestG) sowie neben
allfälligen besonderen Zuständigkeiten gemäss dem 3. Kapitel des
Gerichtsstandgesetzes ein Forum am Ort der Niederlassung einräumt, falls die
besonderen Gerichtsstände eine Zuständigkeit am Sitz des Beklagten vorsehen
(Müller/Wirth, Gerichtsstandsgesetz, Zürich 2001, Art. 5 N. 23, Art. 24 N.
72; Donzallas, Commentaire de la loi fédérale sur les fors en matière civile,
Bern 2001, Art. 5 N. 4, Art. 24 N. 27; Kellerhals/von Werdt/Güngerich,
Gerichtsstandsgesetz, Bern 2001, Art. 5 N. 1, Art. 24 N. 9; Valloni/Barthold,
a.a.O., S. 25 f. Ziff. 5.4). Hingegen geht Infanger
(Spühler/Tenchio/Infanger, Gerichtsstandsgesetz, Basel 2001, Art. 5 N. 4)
davon aus, dass der Gerichtsstand der Niederlassung nur gewählt werden kann,
wenn im 3. Kapitel des GestG kein besonderer Gerichtsstand vorgesehen ist.

Der Beklagte stützt seine Rüge auf die Lehrmeinung von Infanger, welche den
Materialien und dem überwiegenden Teil der Lehre entgegensteht. Seinen
Standpunkt begründet der Beklagte zudem mit dem Umkehrschluss, dass in Art.
24 Abs. 2 GestG für stellensuchende Personen der Niederlassungsort als
Gerichtsstand ausdrücklich erwähnt werde, und deshalb mangels Erwähnung in
Art. 24 Abs. 1 GestG für arbeitsrechtliche Klagen nicht in Frage komme. Damit
verkennt er jedoch, dass die Sonderregelung für Personalverleih und
Arbeitsvermittlung in Art. 24 Abs. 2 GestG erfordert, den Gerichtsstand des
Niederlassungsortes genauer und in Abweichung von Art. 5 GestG zu
umschreiben. Dem Willen des Gesetzgebers entsprechend, der vom überwiegenden
Teil der Lehre gestützt wird, rechtfertigt es sich, für Klagen aus dem
Betrieb einer Niederlassung oder Zweigniederlassung immer auch den
Gerichtsstand an deren Ort zur Verfügung zu stellen. Dies ergibt sich im
Falle arbeitsrechtlicher Klagen insbesondere auch daraus, dass der
Gesetzgeber mit der Anknüpfung an den gewöhnlichen Arbeitsort gemäss Art. 24
Abs. 1 GestG eine Konkordanz mit den Fassungen von Art. 5 Nr. 1 LugÜ und Art.
115 Abs. 1 IPRG herstellen wollte, welche dieselbe Anknüpfung kennen
(Botschaft; BBl 1999, S. 2862). Sowohl Art. 5 Nr. 1 LugÜ in Verbindung mit
Art. 5 Nr. 5 LugÜ, wie auch Art. 115 Abs. 1 IPRG in Verbindung mit Art. 112
Abs. 2 IPRG sehen für arbeitsrechtliche Klagen den Niederlassungsort als
alternativen Gerichtsstand neben dem gewöhnlichen Arbeitsort vor.

3.3 Da bei arbeitsrechtlichen Streitigkeiten die Gerichte am Ort der
Niederlassung neben den Gerichten am Wohnsitz oder Sitz der beklagten Partei
oder jenem am gewöhnlichen Arbeitsort angerufen werden können, hat die
Vorinstanz die örtliche Zuständigkeit des Bezirksgerichts Inn zu Recht
bejaht.

4.
Die Berufung ist abzuweisen. Da es sich um eine arbeitsrechtliche
Streitigkeit mit einem Streitwert unter Fr. 30'000.-- handelt, wird keine
Gerichtsgebühr erhoben (Art. 343 Abs. 3 OR). Dagegen hat der unterliegende
Beklagte die Klägerin für das bundesgerichtliche Verfahren zu entschädigen.
(Art. 159 Abs. 1 und 2 OG; BGE 115 II 30 E. 5c). Die Klägerin hat für das
vorliegende Verfahren um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ersucht.
Sie hat ihre Bedürftigkeit glaubhaft dargelegt und ihre Anträge erscheinen
nicht als aussichtslos. Im Falle der Uneinbringlichkeit ist die
Parteientschädigung dem Anwalt der Klägerin gemäss Art. 152 Abs. 2 OG aus der
Bundesgerichtskasse auszurichten.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Kantonsgerichts von
Graubünden, Kantonsgerichtsausschuss, vom 13. März 2002 bestätigt.

2.
Der Beklagte hat die Klägerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr.
2'500.-- zu entschädigen.

Im Falle der Uneinbringlichkeit der Parteientschädigung wird Rechtsanwalt
Bianchi aus der Bundesgerichtskasse ein Honorar von Fr. 2'500.--
ausgerichtet.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht von Graubünden,
Kantonsgerichtsausschuss, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 4. September 2002

Im Namen der I. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: